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Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Zweites Quartal.

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Kritische Beiträge zur sozialen Frage,

Krankheit zu erhalten, so wird sich auch die weitere Frage leichter beantworten
lassen, auf welche Weise diese Krankheit zu heilen oder wenigstens zu lindern sei.

Wie das ganze Getriebe der Welt erhalten wird durch das Zusammenwirken
zweier Faktoren, welche wir zwar als getrennte fühlen, aber deren Einzelexistenz
wir uns nicht vorstellen können, weil ohne ihr Zusammenwirken die Welt nicht
denkbar ist, wir selbst aber eben nur ein Teil dieser Welt und ebenfalls aus
diesen beiden Faktoren zusammengesetzt sind, wie diese beiden Faktoren, mögen
sie nun als Geist und Materie, als Kraft und Stoff oder wie sonst immer
bezeichnet werden, in ihrer Wechselwirkung den Inhalt des Lebens bilden, so
zeigen sich auch dem Volkswirt jene zwei Faktoren als die Grundlage seiner
Wissenschaft, so ist es das Verhältnis der im Menschen wohnenden, vom Geiste
bewegten Kraft zu dem ihn umgebenden Stoff der Außenwelt, welches den
Inhalt dieser Wissenschaft darstellt.

Selbst die denkbar einfachste Bethätigung des Befriedigungstriebes, die
Besitznahme zum sofortigen Gebrauch, beispielsweise das Pflücken einer wild¬
wachsenden Banmfrncht durch eiuen wildeu Australier, zeigt uns dieses Bild
der Einwirkung der menschlichen Kraft auf den andern Faktor, den Stoff der
Außenwelt. Jedes einzelne solche Einwirken heißt Arbeit, der Inbegriff dieser
Thätigkeit in Bezug auf das einzelne Individuum heißt Wirtschaft, und jegliches
Erzeugnis einer solchen Thätigkeit ist ein wirtschaftliches Produkt. Nur das¬
jenige Individuum befindet sich im Zustande wirtschaftlicher Freiheit, welches
einmal über eine genügende Menge Arbeitskraft im obigen Sinne des Wortes
und weiter über eine genügende Menge Arbeitsstoff verfügt. Jeder Mangel
eines dieser beiden Fakturen bringt notwendig das betreffende Individuum in
den Zustand wirtschaftlicher Abhängigkeit. Ein mit Arbeitskraft reich versehener
Landmann ohne Ackerfeld wird ebenso hilflos sein wie ein durch Krankheit ge¬
lähmter Grundbesitzer ohne fremde Arbeitskraft, die ihm sein Feld bestellt.

Solange der Mensch nur als Einzelwesen gedacht wird, ist die Frage der
Wirtschaft fehr einfach. Arbeitskraft und Arbeitsstoff sind in reicher Menge
gegeben, und schrankenlos bethätigen sie ihr naturgemäßes Zusammenwirken.

Ein andres Gesicht bekommt die Frage erst, sobald die Menschen und ihre
Einzelinteressen zusammentreffen, sobald wir aus dem Gebiete der Wirtschaft in
das Gebiet der Volkswirtschaft eintreten, sobald mit andern Worten die menschliche
Gesellschaft entsteht. Das Wesen des Menschen findet, wie Sander richtig sagt,
seinen Ausdruck in seiner Individualität, und es ist die Verschiedenheit der
menschlichen Individualität, welche die Interessen der einzelnen wirtschaftlichen In¬
dividuen aufeinanderstoßen läßt. Die Thatsache, daß die Arbeitskraft eines einzelnen
Individuums durch Vervollkommnung der Technik imstande ist, mehr Produkte
zu erzeugen, als dasselbe zu seinem notwendigen Lebensunterhalte braucht, legt
den Gedanken für den Stärkeren nahe, sich die Arbeitskraft des Schwächeren
zu Nutze zu machen. Anstatt daß der Schwächere nur für sich selbst produzirt


Kritische Beiträge zur sozialen Frage,

Krankheit zu erhalten, so wird sich auch die weitere Frage leichter beantworten
lassen, auf welche Weise diese Krankheit zu heilen oder wenigstens zu lindern sei.

Wie das ganze Getriebe der Welt erhalten wird durch das Zusammenwirken
zweier Faktoren, welche wir zwar als getrennte fühlen, aber deren Einzelexistenz
wir uns nicht vorstellen können, weil ohne ihr Zusammenwirken die Welt nicht
denkbar ist, wir selbst aber eben nur ein Teil dieser Welt und ebenfalls aus
diesen beiden Faktoren zusammengesetzt sind, wie diese beiden Faktoren, mögen
sie nun als Geist und Materie, als Kraft und Stoff oder wie sonst immer
bezeichnet werden, in ihrer Wechselwirkung den Inhalt des Lebens bilden, so
zeigen sich auch dem Volkswirt jene zwei Faktoren als die Grundlage seiner
Wissenschaft, so ist es das Verhältnis der im Menschen wohnenden, vom Geiste
bewegten Kraft zu dem ihn umgebenden Stoff der Außenwelt, welches den
Inhalt dieser Wissenschaft darstellt.

Selbst die denkbar einfachste Bethätigung des Befriedigungstriebes, die
Besitznahme zum sofortigen Gebrauch, beispielsweise das Pflücken einer wild¬
wachsenden Banmfrncht durch eiuen wildeu Australier, zeigt uns dieses Bild
der Einwirkung der menschlichen Kraft auf den andern Faktor, den Stoff der
Außenwelt. Jedes einzelne solche Einwirken heißt Arbeit, der Inbegriff dieser
Thätigkeit in Bezug auf das einzelne Individuum heißt Wirtschaft, und jegliches
Erzeugnis einer solchen Thätigkeit ist ein wirtschaftliches Produkt. Nur das¬
jenige Individuum befindet sich im Zustande wirtschaftlicher Freiheit, welches
einmal über eine genügende Menge Arbeitskraft im obigen Sinne des Wortes
und weiter über eine genügende Menge Arbeitsstoff verfügt. Jeder Mangel
eines dieser beiden Fakturen bringt notwendig das betreffende Individuum in
den Zustand wirtschaftlicher Abhängigkeit. Ein mit Arbeitskraft reich versehener
Landmann ohne Ackerfeld wird ebenso hilflos sein wie ein durch Krankheit ge¬
lähmter Grundbesitzer ohne fremde Arbeitskraft, die ihm sein Feld bestellt.

Solange der Mensch nur als Einzelwesen gedacht wird, ist die Frage der
Wirtschaft fehr einfach. Arbeitskraft und Arbeitsstoff sind in reicher Menge
gegeben, und schrankenlos bethätigen sie ihr naturgemäßes Zusammenwirken.

Ein andres Gesicht bekommt die Frage erst, sobald die Menschen und ihre
Einzelinteressen zusammentreffen, sobald wir aus dem Gebiete der Wirtschaft in
das Gebiet der Volkswirtschaft eintreten, sobald mit andern Worten die menschliche
Gesellschaft entsteht. Das Wesen des Menschen findet, wie Sander richtig sagt,
seinen Ausdruck in seiner Individualität, und es ist die Verschiedenheit der
menschlichen Individualität, welche die Interessen der einzelnen wirtschaftlichen In¬
dividuen aufeinanderstoßen läßt. Die Thatsache, daß die Arbeitskraft eines einzelnen
Individuums durch Vervollkommnung der Technik imstande ist, mehr Produkte
zu erzeugen, als dasselbe zu seinem notwendigen Lebensunterhalte braucht, legt
den Gedanken für den Stärkeren nahe, sich die Arbeitskraft des Schwächeren
zu Nutze zu machen. Anstatt daß der Schwächere nur für sich selbst produzirt


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[0160] Kritische Beiträge zur sozialen Frage, Krankheit zu erhalten, so wird sich auch die weitere Frage leichter beantworten lassen, auf welche Weise diese Krankheit zu heilen oder wenigstens zu lindern sei. Wie das ganze Getriebe der Welt erhalten wird durch das Zusammenwirken zweier Faktoren, welche wir zwar als getrennte fühlen, aber deren Einzelexistenz wir uns nicht vorstellen können, weil ohne ihr Zusammenwirken die Welt nicht denkbar ist, wir selbst aber eben nur ein Teil dieser Welt und ebenfalls aus diesen beiden Faktoren zusammengesetzt sind, wie diese beiden Faktoren, mögen sie nun als Geist und Materie, als Kraft und Stoff oder wie sonst immer bezeichnet werden, in ihrer Wechselwirkung den Inhalt des Lebens bilden, so zeigen sich auch dem Volkswirt jene zwei Faktoren als die Grundlage seiner Wissenschaft, so ist es das Verhältnis der im Menschen wohnenden, vom Geiste bewegten Kraft zu dem ihn umgebenden Stoff der Außenwelt, welches den Inhalt dieser Wissenschaft darstellt. Selbst die denkbar einfachste Bethätigung des Befriedigungstriebes, die Besitznahme zum sofortigen Gebrauch, beispielsweise das Pflücken einer wild¬ wachsenden Banmfrncht durch eiuen wildeu Australier, zeigt uns dieses Bild der Einwirkung der menschlichen Kraft auf den andern Faktor, den Stoff der Außenwelt. Jedes einzelne solche Einwirken heißt Arbeit, der Inbegriff dieser Thätigkeit in Bezug auf das einzelne Individuum heißt Wirtschaft, und jegliches Erzeugnis einer solchen Thätigkeit ist ein wirtschaftliches Produkt. Nur das¬ jenige Individuum befindet sich im Zustande wirtschaftlicher Freiheit, welches einmal über eine genügende Menge Arbeitskraft im obigen Sinne des Wortes und weiter über eine genügende Menge Arbeitsstoff verfügt. Jeder Mangel eines dieser beiden Fakturen bringt notwendig das betreffende Individuum in den Zustand wirtschaftlicher Abhängigkeit. Ein mit Arbeitskraft reich versehener Landmann ohne Ackerfeld wird ebenso hilflos sein wie ein durch Krankheit ge¬ lähmter Grundbesitzer ohne fremde Arbeitskraft, die ihm sein Feld bestellt. Solange der Mensch nur als Einzelwesen gedacht wird, ist die Frage der Wirtschaft fehr einfach. Arbeitskraft und Arbeitsstoff sind in reicher Menge gegeben, und schrankenlos bethätigen sie ihr naturgemäßes Zusammenwirken. Ein andres Gesicht bekommt die Frage erst, sobald die Menschen und ihre Einzelinteressen zusammentreffen, sobald wir aus dem Gebiete der Wirtschaft in das Gebiet der Volkswirtschaft eintreten, sobald mit andern Worten die menschliche Gesellschaft entsteht. Das Wesen des Menschen findet, wie Sander richtig sagt, seinen Ausdruck in seiner Individualität, und es ist die Verschiedenheit der menschlichen Individualität, welche die Interessen der einzelnen wirtschaftlichen In¬ dividuen aufeinanderstoßen läßt. Die Thatsache, daß die Arbeitskraft eines einzelnen Individuums durch Vervollkommnung der Technik imstande ist, mehr Produkte zu erzeugen, als dasselbe zu seinem notwendigen Lebensunterhalte braucht, legt den Gedanken für den Stärkeren nahe, sich die Arbeitskraft des Schwächeren zu Nutze zu machen. Anstatt daß der Schwächere nur für sich selbst produzirt

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Zweites Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341843_198065/160>, abgerufen am 01.07.2024.