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Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Zweites Quartal.

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Die naturalistische Schule in Deutschland.

gcfühl der Darstellung ganzer Menschen aus dem Wege gehen, oder je blinder
sie das Vorhandensein des sinnlichen Einschlags im Lebeusgewebe in Abrede
stellen, umso hartnäckiger werden diejenigen, deren Augen dafür besonders geschärft
sind, darauf bestehen, den bewußten Einschlag nachzuweisen. Dazu aber gesellt
sich das, was wir moderne Brutalität nennen: die Neigung für die Hervor-
kehruug alles Tierischen, von der bloßen Blutwallung erzeugten, alles Noh-
kräftigen und frech auf die körperliche Kraft pochenden, die Vorliebe für das
Abstoßende, schamlos Herausfordernde, der dämonische Trieb, aus jeder Leiden¬
schaft die geistigen Elemente herauszudestillireu und nach ihrer Verflüchtigung
zu behaupten, daß sie überhaupt nicht vorhanden gewesen seien. Alles das
aber bewirkt neben der bloßen Nachahmungslust und der Verehrung der Pariser
Meister von Flaubert bis Gvndreeourt, daß auch in den Schriften unsrer
Naturalisten jene Situationen breit in den Vordergrund treten, in denen die
Neufranzosen ihre interessantesten und pikantesten Aufgaben erkennen.

Als zweite Besonderheit erscheint fast in allen Anläufen der naturalistischen
Schule die Schilderung des Proletariats. Seit Eugen Sue in den "Geheim-
nissen von Paris," wenn auch uoch mit "romantischer" Zaghaftigkeit und Un-
wirklichkeit, die große Fundgrube drastischer Darstellung erschlossen hat, wieder¬
holen sich in allen die Gegenwart spiegelnden Werken die Gestalten n"d Situationen,
welche ans die große Krankheit der Zeit nud in gewissem Sinne auf das erwachte
Bewußtsein und erwachte Gewissen der Gesellschaft gegenüber dem Elend und
der rohen Verkommenheit großer Volksklcisseu hindeuten. Die naturalistische
Schule macht es sich um zur besondern Aufgabe, den Finger in die eiternde
Wunde zu legen. Sie schildert beinahe nie, ja wie es uns vorkommt, nur mit
einem gewissen Widerwillen die glückliche Seite der harten Arbeit, den Genuß
nud das Behagen am Thun und Schaffen, welche denn doch auch Gott sei
Dank noch vorhanden sind. Hierin unterscheidet sie sich vou den Realisten,
die nach den Begriffen ihrer Nachfolger zu schön gefärbt haben und namentlich
übersehen solle", daß im letzten Jahrzehnt eine große und unerquickliche Wendung
eingetreten sei, uach welcher die Arbeit auf jedem Gebiete härter, auspauueuder,
die Menschen aufreibender geworden sei, während sie nur wenigen noch Gewinn und
Genuß gewähre. Mit dieser pessimistischen Auffassung der Dinge tritt wenigstens
ein Teil der Naturalisten bewußt und unbewußt den Lehren der Sozialdemo-
kratie bei. Indem sie die Angen absichtlich und oft geradezu gewaltsam vor
den lichteren Erscheinungen verschließen (sollten selbst diese lichteren Erscheinungen
nnr "Ausnahmefülle" sein), fördern sie vielleicht die Erkenntnis des sozialen
Elends und, wo es gut geht, deu Willen zu helfen. Aber schwerlich ist dies
das alleinige treibende Motiv der ausführlichen Schilderungen von hungrigem,
stumpfem und rohem Elend, von hoffnungslosen Familienzerrüttungcn, Prosti¬
tution und anderen Greuel. Der literarische Effekt, die Wirkung auf die blasirte,
gegen die reineren Wirkungen der Darstellung abgestumpfte Lesewelt, die un-


Die naturalistische Schule in Deutschland.

gcfühl der Darstellung ganzer Menschen aus dem Wege gehen, oder je blinder
sie das Vorhandensein des sinnlichen Einschlags im Lebeusgewebe in Abrede
stellen, umso hartnäckiger werden diejenigen, deren Augen dafür besonders geschärft
sind, darauf bestehen, den bewußten Einschlag nachzuweisen. Dazu aber gesellt
sich das, was wir moderne Brutalität nennen: die Neigung für die Hervor-
kehruug alles Tierischen, von der bloßen Blutwallung erzeugten, alles Noh-
kräftigen und frech auf die körperliche Kraft pochenden, die Vorliebe für das
Abstoßende, schamlos Herausfordernde, der dämonische Trieb, aus jeder Leiden¬
schaft die geistigen Elemente herauszudestillireu und nach ihrer Verflüchtigung
zu behaupten, daß sie überhaupt nicht vorhanden gewesen seien. Alles das
aber bewirkt neben der bloßen Nachahmungslust und der Verehrung der Pariser
Meister von Flaubert bis Gvndreeourt, daß auch in den Schriften unsrer
Naturalisten jene Situationen breit in den Vordergrund treten, in denen die
Neufranzosen ihre interessantesten und pikantesten Aufgaben erkennen.

Als zweite Besonderheit erscheint fast in allen Anläufen der naturalistischen
Schule die Schilderung des Proletariats. Seit Eugen Sue in den „Geheim-
nissen von Paris," wenn auch uoch mit „romantischer" Zaghaftigkeit und Un-
wirklichkeit, die große Fundgrube drastischer Darstellung erschlossen hat, wieder¬
holen sich in allen die Gegenwart spiegelnden Werken die Gestalten n»d Situationen,
welche ans die große Krankheit der Zeit nud in gewissem Sinne auf das erwachte
Bewußtsein und erwachte Gewissen der Gesellschaft gegenüber dem Elend und
der rohen Verkommenheit großer Volksklcisseu hindeuten. Die naturalistische
Schule macht es sich um zur besondern Aufgabe, den Finger in die eiternde
Wunde zu legen. Sie schildert beinahe nie, ja wie es uns vorkommt, nur mit
einem gewissen Widerwillen die glückliche Seite der harten Arbeit, den Genuß
nud das Behagen am Thun und Schaffen, welche denn doch auch Gott sei
Dank noch vorhanden sind. Hierin unterscheidet sie sich vou den Realisten,
die nach den Begriffen ihrer Nachfolger zu schön gefärbt haben und namentlich
übersehen solle», daß im letzten Jahrzehnt eine große und unerquickliche Wendung
eingetreten sei, uach welcher die Arbeit auf jedem Gebiete härter, auspauueuder,
die Menschen aufreibender geworden sei, während sie nur wenigen noch Gewinn und
Genuß gewähre. Mit dieser pessimistischen Auffassung der Dinge tritt wenigstens
ein Teil der Naturalisten bewußt und unbewußt den Lehren der Sozialdemo-
kratie bei. Indem sie die Angen absichtlich und oft geradezu gewaltsam vor
den lichteren Erscheinungen verschließen (sollten selbst diese lichteren Erscheinungen
nnr „Ausnahmefülle" sein), fördern sie vielleicht die Erkenntnis des sozialen
Elends und, wo es gut geht, deu Willen zu helfen. Aber schwerlich ist dies
das alleinige treibende Motiv der ausführlichen Schilderungen von hungrigem,
stumpfem und rohem Elend, von hoffnungslosen Familienzerrüttungcn, Prosti¬
tution und anderen Greuel. Der literarische Effekt, die Wirkung auf die blasirte,
gegen die reineren Wirkungen der Darstellung abgestumpfte Lesewelt, die un-


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[0130] Die naturalistische Schule in Deutschland. gcfühl der Darstellung ganzer Menschen aus dem Wege gehen, oder je blinder sie das Vorhandensein des sinnlichen Einschlags im Lebeusgewebe in Abrede stellen, umso hartnäckiger werden diejenigen, deren Augen dafür besonders geschärft sind, darauf bestehen, den bewußten Einschlag nachzuweisen. Dazu aber gesellt sich das, was wir moderne Brutalität nennen: die Neigung für die Hervor- kehruug alles Tierischen, von der bloßen Blutwallung erzeugten, alles Noh- kräftigen und frech auf die körperliche Kraft pochenden, die Vorliebe für das Abstoßende, schamlos Herausfordernde, der dämonische Trieb, aus jeder Leiden¬ schaft die geistigen Elemente herauszudestillireu und nach ihrer Verflüchtigung zu behaupten, daß sie überhaupt nicht vorhanden gewesen seien. Alles das aber bewirkt neben der bloßen Nachahmungslust und der Verehrung der Pariser Meister von Flaubert bis Gvndreeourt, daß auch in den Schriften unsrer Naturalisten jene Situationen breit in den Vordergrund treten, in denen die Neufranzosen ihre interessantesten und pikantesten Aufgaben erkennen. Als zweite Besonderheit erscheint fast in allen Anläufen der naturalistischen Schule die Schilderung des Proletariats. Seit Eugen Sue in den „Geheim- nissen von Paris," wenn auch uoch mit „romantischer" Zaghaftigkeit und Un- wirklichkeit, die große Fundgrube drastischer Darstellung erschlossen hat, wieder¬ holen sich in allen die Gegenwart spiegelnden Werken die Gestalten n»d Situationen, welche ans die große Krankheit der Zeit nud in gewissem Sinne auf das erwachte Bewußtsein und erwachte Gewissen der Gesellschaft gegenüber dem Elend und der rohen Verkommenheit großer Volksklcisseu hindeuten. Die naturalistische Schule macht es sich um zur besondern Aufgabe, den Finger in die eiternde Wunde zu legen. Sie schildert beinahe nie, ja wie es uns vorkommt, nur mit einem gewissen Widerwillen die glückliche Seite der harten Arbeit, den Genuß nud das Behagen am Thun und Schaffen, welche denn doch auch Gott sei Dank noch vorhanden sind. Hierin unterscheidet sie sich vou den Realisten, die nach den Begriffen ihrer Nachfolger zu schön gefärbt haben und namentlich übersehen solle», daß im letzten Jahrzehnt eine große und unerquickliche Wendung eingetreten sei, uach welcher die Arbeit auf jedem Gebiete härter, auspauueuder, die Menschen aufreibender geworden sei, während sie nur wenigen noch Gewinn und Genuß gewähre. Mit dieser pessimistischen Auffassung der Dinge tritt wenigstens ein Teil der Naturalisten bewußt und unbewußt den Lehren der Sozialdemo- kratie bei. Indem sie die Angen absichtlich und oft geradezu gewaltsam vor den lichteren Erscheinungen verschließen (sollten selbst diese lichteren Erscheinungen nnr „Ausnahmefülle" sein), fördern sie vielleicht die Erkenntnis des sozialen Elends und, wo es gut geht, deu Willen zu helfen. Aber schwerlich ist dies das alleinige treibende Motiv der ausführlichen Schilderungen von hungrigem, stumpfem und rohem Elend, von hoffnungslosen Familienzerrüttungcn, Prosti¬ tution und anderen Greuel. Der literarische Effekt, die Wirkung auf die blasirte, gegen die reineren Wirkungen der Darstellung abgestumpfte Lesewelt, die un-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Zweites Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341843_198065/130>, abgerufen am 28.12.2024.