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Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Zweites Quartal.

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Die naturalistische Schule in Deutschland.

wie der zusammenhängende Rongon-Macquart-Zyklus Zvlas oder die Reihe
der Rvmmie Daudets darzustellen. Wenn doch die ganze seitherige Darstellung
des Lebens phantastisch und unwirklich ist, wenn selbst die richtig dargestellte
Einzelheit auszer allem Zusammenhang mit anderm Leben und ohne Nachweis
des Gesetzes, das ihr zu Gründe liegt, angeblich nur geringen Wert hat, so kann
sich die naturalistische Kunst eigentlich nur in großen oder sagen wir besser
breiten Formen genug thun. Da muß es denn auffallen, daß bei der Mehrzahl
unsrer deutscheu Naturalisten bisher das gerade Gegenteil der Fall ist, daß sie
in kleinern Formen: Gedichten, einzelnen Lebensbildern und Novellen, ihr neues
Lebens- und Kunstgefühl zu vertreten suche". Da von einem Zweifel an die
eigne Gestaltungskraft wenigstens bei der Mehrzahl der hierher gehörigen Schrift¬
steller nicht die Rede sein kamt, so scheint in der That hier eine Abweichung
von der Pariser Routine, vielleicht ein schweigendes Eingeständnis zu bestehen, daß
die künstlerischen Formen, die frühere Dichtergenerationen geschaffen haben, denn
doch nicht so unbedingt verwerflich sind und nnr nötig haben, mit einer neuen
Art der Probleme und Konflikte wie der Charakteristik erfüllt zu werden. Die
letztere allerdings gilt für unerläßlich, denn nicht genug, daß die seitherigen
Dichter mit Vorliebe in den unmöglichsten Regionen der Vergangenheit umher¬
geirrt sind, sie haben auch das Unglaublichste in der gefälschten, lügenhaft oder
phantastisch verschönerten, bis zum Albernen vergeistigter Wiedergabe der un¬
mittelbaren Gegenwart geleistet. Da thut es denn Not -- sagen die Natura¬
listen --, nicht nnr überhaupt das Leben des Tages und seine Erscheinungen
kräftiger, wahrer, unmittelbarer darzustellen, sondern vor allen: auch einmal jene
Momente des Daseins, jene Erscheinungen unsrer Kulturwelt, jene Thatsachen
und Stimmungen zu bevorzugen, denen die ästhetisircnde und von der tradi¬
tionellen Lüge beherrschte Literatur mehr oder weniger geflissentlich aus dem
Wege gegangen ist. So oder ähnlich irrten die Auseinandersetzungen, mit denen
unsre Naturalisten ihre besondre Art einführen. Soviel sich im allgemeinen
diese besondre Art kurz charakterisiren läßt, scheint sie uns auf dreierlei
hinauszulaufen. Zuerst auf die entschiedne Betonung und die breite Behandlung
der geschlechtlich-sinnlichen Regungen, Thatsachen und Wirkungen im Leben über¬
haupt und in dem der modernen Gesellschaft vor allem. Soweit es sich hier nicht
um die ganz gewöhnliche, auf die Lüsternheit blasirter und verlotterter Naturen
berechnete Pornographie handelt (und es handelt sich allerdings viel öfter darum,
als die Lobredner des "Wirklichen" zugeben wollen), mischt sich in der Be¬
vorzugung gerade dieser Szenen ein poetischer Instinkt und ein Stück modernster
Brutalität in der seltsamsten Weise. Es ist an sich völlig richtig und unbestreitbar,
daß die Dichtung auf ihr Recht, die sinnliche Seite der menschlichen Natur
darzustellen, ebensowenig verzichten kann als auf die Darstellung der (von den
Naturalisten geleugneten und gering geschätzten) geistigen Seite. Je ängstlicher
eine gewisse Heuchelei und ein gewisser Mangel an starkem und vollem Lebens-


Grenzbotcn II. 1886. 10
Die naturalistische Schule in Deutschland.

wie der zusammenhängende Rongon-Macquart-Zyklus Zvlas oder die Reihe
der Rvmmie Daudets darzustellen. Wenn doch die ganze seitherige Darstellung
des Lebens phantastisch und unwirklich ist, wenn selbst die richtig dargestellte
Einzelheit auszer allem Zusammenhang mit anderm Leben und ohne Nachweis
des Gesetzes, das ihr zu Gründe liegt, angeblich nur geringen Wert hat, so kann
sich die naturalistische Kunst eigentlich nur in großen oder sagen wir besser
breiten Formen genug thun. Da muß es denn auffallen, daß bei der Mehrzahl
unsrer deutscheu Naturalisten bisher das gerade Gegenteil der Fall ist, daß sie
in kleinern Formen: Gedichten, einzelnen Lebensbildern und Novellen, ihr neues
Lebens- und Kunstgefühl zu vertreten suche». Da von einem Zweifel an die
eigne Gestaltungskraft wenigstens bei der Mehrzahl der hierher gehörigen Schrift¬
steller nicht die Rede sein kamt, so scheint in der That hier eine Abweichung
von der Pariser Routine, vielleicht ein schweigendes Eingeständnis zu bestehen, daß
die künstlerischen Formen, die frühere Dichtergenerationen geschaffen haben, denn
doch nicht so unbedingt verwerflich sind und nnr nötig haben, mit einer neuen
Art der Probleme und Konflikte wie der Charakteristik erfüllt zu werden. Die
letztere allerdings gilt für unerläßlich, denn nicht genug, daß die seitherigen
Dichter mit Vorliebe in den unmöglichsten Regionen der Vergangenheit umher¬
geirrt sind, sie haben auch das Unglaublichste in der gefälschten, lügenhaft oder
phantastisch verschönerten, bis zum Albernen vergeistigter Wiedergabe der un¬
mittelbaren Gegenwart geleistet. Da thut es denn Not — sagen die Natura¬
listen —, nicht nnr überhaupt das Leben des Tages und seine Erscheinungen
kräftiger, wahrer, unmittelbarer darzustellen, sondern vor allen: auch einmal jene
Momente des Daseins, jene Erscheinungen unsrer Kulturwelt, jene Thatsachen
und Stimmungen zu bevorzugen, denen die ästhetisircnde und von der tradi¬
tionellen Lüge beherrschte Literatur mehr oder weniger geflissentlich aus dem
Wege gegangen ist. So oder ähnlich irrten die Auseinandersetzungen, mit denen
unsre Naturalisten ihre besondre Art einführen. Soviel sich im allgemeinen
diese besondre Art kurz charakterisiren läßt, scheint sie uns auf dreierlei
hinauszulaufen. Zuerst auf die entschiedne Betonung und die breite Behandlung
der geschlechtlich-sinnlichen Regungen, Thatsachen und Wirkungen im Leben über¬
haupt und in dem der modernen Gesellschaft vor allem. Soweit es sich hier nicht
um die ganz gewöhnliche, auf die Lüsternheit blasirter und verlotterter Naturen
berechnete Pornographie handelt (und es handelt sich allerdings viel öfter darum,
als die Lobredner des „Wirklichen" zugeben wollen), mischt sich in der Be¬
vorzugung gerade dieser Szenen ein poetischer Instinkt und ein Stück modernster
Brutalität in der seltsamsten Weise. Es ist an sich völlig richtig und unbestreitbar,
daß die Dichtung auf ihr Recht, die sinnliche Seite der menschlichen Natur
darzustellen, ebensowenig verzichten kann als auf die Darstellung der (von den
Naturalisten geleugneten und gering geschätzten) geistigen Seite. Je ängstlicher
eine gewisse Heuchelei und ein gewisser Mangel an starkem und vollem Lebens-


Grenzbotcn II. 1886. 10
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[0129] Die naturalistische Schule in Deutschland. wie der zusammenhängende Rongon-Macquart-Zyklus Zvlas oder die Reihe der Rvmmie Daudets darzustellen. Wenn doch die ganze seitherige Darstellung des Lebens phantastisch und unwirklich ist, wenn selbst die richtig dargestellte Einzelheit auszer allem Zusammenhang mit anderm Leben und ohne Nachweis des Gesetzes, das ihr zu Gründe liegt, angeblich nur geringen Wert hat, so kann sich die naturalistische Kunst eigentlich nur in großen oder sagen wir besser breiten Formen genug thun. Da muß es denn auffallen, daß bei der Mehrzahl unsrer deutscheu Naturalisten bisher das gerade Gegenteil der Fall ist, daß sie in kleinern Formen: Gedichten, einzelnen Lebensbildern und Novellen, ihr neues Lebens- und Kunstgefühl zu vertreten suche». Da von einem Zweifel an die eigne Gestaltungskraft wenigstens bei der Mehrzahl der hierher gehörigen Schrift¬ steller nicht die Rede sein kamt, so scheint in der That hier eine Abweichung von der Pariser Routine, vielleicht ein schweigendes Eingeständnis zu bestehen, daß die künstlerischen Formen, die frühere Dichtergenerationen geschaffen haben, denn doch nicht so unbedingt verwerflich sind und nnr nötig haben, mit einer neuen Art der Probleme und Konflikte wie der Charakteristik erfüllt zu werden. Die letztere allerdings gilt für unerläßlich, denn nicht genug, daß die seitherigen Dichter mit Vorliebe in den unmöglichsten Regionen der Vergangenheit umher¬ geirrt sind, sie haben auch das Unglaublichste in der gefälschten, lügenhaft oder phantastisch verschönerten, bis zum Albernen vergeistigter Wiedergabe der un¬ mittelbaren Gegenwart geleistet. Da thut es denn Not — sagen die Natura¬ listen —, nicht nnr überhaupt das Leben des Tages und seine Erscheinungen kräftiger, wahrer, unmittelbarer darzustellen, sondern vor allen: auch einmal jene Momente des Daseins, jene Erscheinungen unsrer Kulturwelt, jene Thatsachen und Stimmungen zu bevorzugen, denen die ästhetisircnde und von der tradi¬ tionellen Lüge beherrschte Literatur mehr oder weniger geflissentlich aus dem Wege gegangen ist. So oder ähnlich irrten die Auseinandersetzungen, mit denen unsre Naturalisten ihre besondre Art einführen. Soviel sich im allgemeinen diese besondre Art kurz charakterisiren läßt, scheint sie uns auf dreierlei hinauszulaufen. Zuerst auf die entschiedne Betonung und die breite Behandlung der geschlechtlich-sinnlichen Regungen, Thatsachen und Wirkungen im Leben über¬ haupt und in dem der modernen Gesellschaft vor allem. Soweit es sich hier nicht um die ganz gewöhnliche, auf die Lüsternheit blasirter und verlotterter Naturen berechnete Pornographie handelt (und es handelt sich allerdings viel öfter darum, als die Lobredner des „Wirklichen" zugeben wollen), mischt sich in der Be¬ vorzugung gerade dieser Szenen ein poetischer Instinkt und ein Stück modernster Brutalität in der seltsamsten Weise. Es ist an sich völlig richtig und unbestreitbar, daß die Dichtung auf ihr Recht, die sinnliche Seite der menschlichen Natur darzustellen, ebensowenig verzichten kann als auf die Darstellung der (von den Naturalisten geleugneten und gering geschätzten) geistigen Seite. Je ängstlicher eine gewisse Heuchelei und ein gewisser Mangel an starkem und vollem Lebens- Grenzbotcn II. 1886. 10

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Zweites Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341843_198065/129>, abgerufen am 24.07.2024.