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Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Zweites Quartal.

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an welches die einzelnen Nationalgefühle wie an einen Krystallisationspunkt an¬
schießen könnten, fehlt, und als selbst die spezifisch österreichische Loyalität an einem
Wendepunkt angelangt zu sein scheint. Statt dessen hat M, abgesehen von dem
magyarischen, ein tschechisches, ein polnisches, ein italienisches, ja sogar ein slowe¬
nisches Nationalitätsprinzip ausgebildet, das sich sozusagen stündlich verstärkt,
alles Fremde von sich abstößt und mit rücksichtsloser Heftigkeit um sich greift.
'In leicht erklärlicher Folge und Gegenwirkung hiervon haben sich natürlich auch
die Sympathien der Deutschösterreicher mit verdoppelter Gewalt, welche bald
allen Widerstandes spotten wird, ihren Brüdern im Norden und Westen zu¬
gewendet. Leider hat sich in diesem Scheidungsprozesse auch nicht von fern
etwas gezeigt, was dem Erwachen eines den ganzen Staat umfassenden Gemein-
sinnes ähnlich sähe, im Gegenteil, und so hat dieser Zersetzungsprozeß seine
gegenwärtige Stufe erreicht, in welchem Abhilfe und Gegenmittel vielleicht noch
möglich sind; aber mir ein Weilchen noch, und alle die Töchter der Mutter
Austria werden unter sich nur noch ein gemeinsames Band haben, nämlich das
des gegenseitigen Hasses und der Abneigung und des Widerstandes gegen die
Regierung, im Falle diese das verweigern sollte, was jede von ihnen im Gefühl
ihrer Kraft beansprucht, oder das der immer steigenden, immer dringender
werdenden Anforderungen ein die Negierung, nachdem sie den ersten gutwillig
nachgegeben hat. Der Ausgang eines derartig krankhaften Zustandes kann
weder fern noch zweifelhaft sein.

Schon gegenwärtig wird man schmerzlich überrascht, den gänzlichen Mangel
jenes Gefühls der Gesamtheit zu bemerken, welches in andern Staaten sämtliche
Bürger unter sich verbindet, besonders wenn man diese Gleichgiltigkeit mit der
thätigen, immer wachen Teilnahme vergleicht, welche alles, was die materiellen
und geistigen Bedürfnisse der Provinz oder des Volksstammes betrifft, unaus¬
gesetzt begleitet und dieselben recht eigentlich und ausschließlich als natürliche
Interessen erscheinen läßt. Noch ominöser aber ist der Mangel an Zutrauen
in die Zukunft Österreichs, welches seine Bewohner, zum Teil, ohne daß sie sich
selbst klare Rechenschaft darüber zu geben wüßten, durchdringt; sie scheinen alle
von einer trüben Ahnung ergriffen', als könne der gegenwärtige Zustand nicht
dauern, als müsse es bald zu großen Änderungen kommen, und als sei die
Politik der Regierung mir eine lindernde, fristende, sozusagen von der Hand in
den Mund lebende, unbekümmert darum, wie es im nächsten Augenblicke aus¬
sehen werde. Aus diesem bloßen Gehenlassen kann nie und nimmer etwas Gutes
erwachsen, denn der Zahlungstag erscheint endlich doch, und ein verzweifelter
Bcmkerottircr hält dadurch, daß er den verfallenen Wechsel verlängert, seinen
Ruin nicht auf. sondern verzögert ihn mir, damit er desto gewisser hereinbreche.
So also sehen die Ergebnisse dieser sorglosen Eintagspolitik ans. Im Innern
die Deutschen entfremdet, die Slawen nicht befriedigt, der Staat mit einer stets
wachsenden Schuldenlast behaftet, der natürliche Wohlstand in äußerst langsamem


an welches die einzelnen Nationalgefühle wie an einen Krystallisationspunkt an¬
schießen könnten, fehlt, und als selbst die spezifisch österreichische Loyalität an einem
Wendepunkt angelangt zu sein scheint. Statt dessen hat M, abgesehen von dem
magyarischen, ein tschechisches, ein polnisches, ein italienisches, ja sogar ein slowe¬
nisches Nationalitätsprinzip ausgebildet, das sich sozusagen stündlich verstärkt,
alles Fremde von sich abstößt und mit rücksichtsloser Heftigkeit um sich greift.
'In leicht erklärlicher Folge und Gegenwirkung hiervon haben sich natürlich auch
die Sympathien der Deutschösterreicher mit verdoppelter Gewalt, welche bald
allen Widerstandes spotten wird, ihren Brüdern im Norden und Westen zu¬
gewendet. Leider hat sich in diesem Scheidungsprozesse auch nicht von fern
etwas gezeigt, was dem Erwachen eines den ganzen Staat umfassenden Gemein-
sinnes ähnlich sähe, im Gegenteil, und so hat dieser Zersetzungsprozeß seine
gegenwärtige Stufe erreicht, in welchem Abhilfe und Gegenmittel vielleicht noch
möglich sind; aber mir ein Weilchen noch, und alle die Töchter der Mutter
Austria werden unter sich nur noch ein gemeinsames Band haben, nämlich das
des gegenseitigen Hasses und der Abneigung und des Widerstandes gegen die
Regierung, im Falle diese das verweigern sollte, was jede von ihnen im Gefühl
ihrer Kraft beansprucht, oder das der immer steigenden, immer dringender
werdenden Anforderungen ein die Negierung, nachdem sie den ersten gutwillig
nachgegeben hat. Der Ausgang eines derartig krankhaften Zustandes kann
weder fern noch zweifelhaft sein.

Schon gegenwärtig wird man schmerzlich überrascht, den gänzlichen Mangel
jenes Gefühls der Gesamtheit zu bemerken, welches in andern Staaten sämtliche
Bürger unter sich verbindet, besonders wenn man diese Gleichgiltigkeit mit der
thätigen, immer wachen Teilnahme vergleicht, welche alles, was die materiellen
und geistigen Bedürfnisse der Provinz oder des Volksstammes betrifft, unaus¬
gesetzt begleitet und dieselben recht eigentlich und ausschließlich als natürliche
Interessen erscheinen läßt. Noch ominöser aber ist der Mangel an Zutrauen
in die Zukunft Österreichs, welches seine Bewohner, zum Teil, ohne daß sie sich
selbst klare Rechenschaft darüber zu geben wüßten, durchdringt; sie scheinen alle
von einer trüben Ahnung ergriffen', als könne der gegenwärtige Zustand nicht
dauern, als müsse es bald zu großen Änderungen kommen, und als sei die
Politik der Regierung mir eine lindernde, fristende, sozusagen von der Hand in
den Mund lebende, unbekümmert darum, wie es im nächsten Augenblicke aus¬
sehen werde. Aus diesem bloßen Gehenlassen kann nie und nimmer etwas Gutes
erwachsen, denn der Zahlungstag erscheint endlich doch, und ein verzweifelter
Bcmkerottircr hält dadurch, daß er den verfallenen Wechsel verlängert, seinen
Ruin nicht auf. sondern verzögert ihn mir, damit er desto gewisser hereinbreche.
So also sehen die Ergebnisse dieser sorglosen Eintagspolitik ans. Im Innern
die Deutschen entfremdet, die Slawen nicht befriedigt, der Staat mit einer stets
wachsenden Schuldenlast behaftet, der natürliche Wohlstand in äußerst langsamem


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Zweites Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341843_198065/108>, abgerufen am 25.07.2024.