Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Erstes Quartal.

Bild:
<< vorherige Seite
Moderne Probleme,

Bekämpfung des Einflusses der Zeitungen und Journale entgegenzutreten, deren
Lektüre Zeit und Spannkraft über alles verständige Maß hinaus in Anspruch
nimmt. Denn bei der modernen Richtung auf "Aktualität," praktische Teil¬
nahme am Geschehenden, ist ein solcher Kampf von vornherein ganz aussichtslos.
Vielmehr wird eine wirksame Abhilfe einzig und allein von der allmähligen
Vermehrung des Nationalreichtums, von der Hebung des allgemeinen Wohl¬
standes zu erwarten sein. Je größer die Zahl der Leute ist, die über das un¬
mittelbare, selbst hoch gesteigerte Bedürfnis einnehmen, umso größer ist der
Bruchteil derselben, der zu den Luxusausgaben auch die sür Bücher rechnet.
Im übrigen wird sich das vielbeseufztc "eherne Lohngesetz" auch hier geltend
machen. Wenn der Staat einmal imstande sein wird, seinen Beamten ein
nennenswert höheres Gehalt zu geben, so wird er in Wirklichkeit sich dadurch
zu diesem Schritte gedrängt sehen, daß mit dem seitherigen eine Familie nicht
mehr standesgemäß zu unterhalten ist. Für eine Bibliothek bleibt dann doch
wieder nichts übrig. Beamte aber bilden, bei unsern deutschen Verhältnissen,
denn doch den größten Teil des "gebildeten Mittelstandes."

Nach einem halb scherzhaft gehaltenen Aufsätze über "die epidemische Ruhm-
sucht unsrer Zeit" schließt Hartmann mit einer Arbeit über den "Somnam¬
bulismus," die nach Ausdehnung und Inhalt die wichtigste des Buches bildet.
Ihm ist es vorläufig zweifelhaft, ob das "im tierischen Magnetismus wirksame
dynamische Agens mit einer der uns bekannten Naturkräfte identisch, oder
eine noch unerforschte neue Proteus-Gesto.le der einheitlichen Naturkräfte sei."
Und eben deshalb ist er sehr vorsichtig in seinen positiven Behauptungen über
die rätselhafte Erscheinung. Er vergleicht ihre einzelnen Momente, immer zu¬
gleich polemisch gegen die meisten der einschlägigen neuen Arbeiten, mit den
Merkmalen des Schlafes, mit der allgemeinen Sensitivitcit, mit der Hyper¬
ästhesie und der Beschleunigung des Vorstellungswechsels bei Fieberdelirien. Er
ist überzeugt, daß der "spontane Somnambulismus zunächst ebenso zweifellos
ein Symptom einer Erkrankung des Nervensystems sei, wie Epilepsie, Veits¬
tanz oder Irrsinn." Dies Resultat der angestellten Vergleichungen führt dann
weiter zu dem Ausspruch, daß der Somnambulismus psychologisch tiefer stehe
als das wache, bewußte geistige Leben. Für diese Worte können wir angesichts
des widerlichen und oft betrügerischen Mißbrauchs, den unsre so vorzüglich auf¬
geklärte Zeit bewundernd gutheißt, dem Philosophen ganz besonders dankbar
sein. Bei ihm wenigstens wird niemand grundsätzliche Antipathie zu Gunsten
einer einmal erfaßten Weltanschauung vermuten, wie wir sie allenfalls bei
Materialisten und Sensualisten voraussetzen dürfen. Zum Überfluß spricht er
den guten Grund zu seinem herben Urteil noch einmal klar und bündig aus:
der Somnambulismus enthülle, als ein rein pathologischer Zustand, keine ein¬
zige neue Funktion des menschlichen Geistes, sondern zeige bekannte Funktionen
in andrer Zusammenstellung.


Moderne Probleme,

Bekämpfung des Einflusses der Zeitungen und Journale entgegenzutreten, deren
Lektüre Zeit und Spannkraft über alles verständige Maß hinaus in Anspruch
nimmt. Denn bei der modernen Richtung auf „Aktualität," praktische Teil¬
nahme am Geschehenden, ist ein solcher Kampf von vornherein ganz aussichtslos.
Vielmehr wird eine wirksame Abhilfe einzig und allein von der allmähligen
Vermehrung des Nationalreichtums, von der Hebung des allgemeinen Wohl¬
standes zu erwarten sein. Je größer die Zahl der Leute ist, die über das un¬
mittelbare, selbst hoch gesteigerte Bedürfnis einnehmen, umso größer ist der
Bruchteil derselben, der zu den Luxusausgaben auch die sür Bücher rechnet.
Im übrigen wird sich das vielbeseufztc „eherne Lohngesetz" auch hier geltend
machen. Wenn der Staat einmal imstande sein wird, seinen Beamten ein
nennenswert höheres Gehalt zu geben, so wird er in Wirklichkeit sich dadurch
zu diesem Schritte gedrängt sehen, daß mit dem seitherigen eine Familie nicht
mehr standesgemäß zu unterhalten ist. Für eine Bibliothek bleibt dann doch
wieder nichts übrig. Beamte aber bilden, bei unsern deutschen Verhältnissen,
denn doch den größten Teil des „gebildeten Mittelstandes."

Nach einem halb scherzhaft gehaltenen Aufsätze über „die epidemische Ruhm-
sucht unsrer Zeit" schließt Hartmann mit einer Arbeit über den „Somnam¬
bulismus," die nach Ausdehnung und Inhalt die wichtigste des Buches bildet.
Ihm ist es vorläufig zweifelhaft, ob das „im tierischen Magnetismus wirksame
dynamische Agens mit einer der uns bekannten Naturkräfte identisch, oder
eine noch unerforschte neue Proteus-Gesto.le der einheitlichen Naturkräfte sei."
Und eben deshalb ist er sehr vorsichtig in seinen positiven Behauptungen über
die rätselhafte Erscheinung. Er vergleicht ihre einzelnen Momente, immer zu¬
gleich polemisch gegen die meisten der einschlägigen neuen Arbeiten, mit den
Merkmalen des Schlafes, mit der allgemeinen Sensitivitcit, mit der Hyper¬
ästhesie und der Beschleunigung des Vorstellungswechsels bei Fieberdelirien. Er
ist überzeugt, daß der „spontane Somnambulismus zunächst ebenso zweifellos
ein Symptom einer Erkrankung des Nervensystems sei, wie Epilepsie, Veits¬
tanz oder Irrsinn." Dies Resultat der angestellten Vergleichungen führt dann
weiter zu dem Ausspruch, daß der Somnambulismus psychologisch tiefer stehe
als das wache, bewußte geistige Leben. Für diese Worte können wir angesichts
des widerlichen und oft betrügerischen Mißbrauchs, den unsre so vorzüglich auf¬
geklärte Zeit bewundernd gutheißt, dem Philosophen ganz besonders dankbar
sein. Bei ihm wenigstens wird niemand grundsätzliche Antipathie zu Gunsten
einer einmal erfaßten Weltanschauung vermuten, wie wir sie allenfalls bei
Materialisten und Sensualisten voraussetzen dürfen. Zum Überfluß spricht er
den guten Grund zu seinem herben Urteil noch einmal klar und bündig aus:
der Somnambulismus enthülle, als ein rein pathologischer Zustand, keine ein¬
zige neue Funktion des menschlichen Geistes, sondern zeige bekannte Funktionen
in andrer Zusammenstellung.


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0078" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/197502"/>
          <fw type="header" place="top"> Moderne Probleme,</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_221" prev="#ID_220"> Bekämpfung des Einflusses der Zeitungen und Journale entgegenzutreten, deren<lb/>
Lektüre Zeit und Spannkraft über alles verständige Maß hinaus in Anspruch<lb/>
nimmt. Denn bei der modernen Richtung auf &#x201E;Aktualität," praktische Teil¬<lb/>
nahme am Geschehenden, ist ein solcher Kampf von vornherein ganz aussichtslos.<lb/>
Vielmehr wird eine wirksame Abhilfe einzig und allein von der allmähligen<lb/>
Vermehrung des Nationalreichtums, von der Hebung des allgemeinen Wohl¬<lb/>
standes zu erwarten sein. Je größer die Zahl der Leute ist, die über das un¬<lb/>
mittelbare, selbst hoch gesteigerte Bedürfnis einnehmen, umso größer ist der<lb/>
Bruchteil derselben, der zu den Luxusausgaben auch die sür Bücher rechnet.<lb/>
Im übrigen wird sich das vielbeseufztc &#x201E;eherne Lohngesetz" auch hier geltend<lb/>
machen. Wenn der Staat einmal imstande sein wird, seinen Beamten ein<lb/>
nennenswert höheres Gehalt zu geben, so wird er in Wirklichkeit sich dadurch<lb/>
zu diesem Schritte gedrängt sehen, daß mit dem seitherigen eine Familie nicht<lb/>
mehr standesgemäß zu unterhalten ist. Für eine Bibliothek bleibt dann doch<lb/>
wieder nichts übrig. Beamte aber bilden, bei unsern deutschen Verhältnissen,<lb/>
denn doch den größten Teil des &#x201E;gebildeten Mittelstandes."</p><lb/>
          <p xml:id="ID_222"> Nach einem halb scherzhaft gehaltenen Aufsätze über &#x201E;die epidemische Ruhm-<lb/>
sucht unsrer Zeit" schließt Hartmann mit einer Arbeit über den &#x201E;Somnam¬<lb/>
bulismus," die nach Ausdehnung und Inhalt die wichtigste des Buches bildet.<lb/>
Ihm ist es vorläufig zweifelhaft, ob das &#x201E;im tierischen Magnetismus wirksame<lb/>
dynamische Agens mit einer der uns bekannten Naturkräfte identisch, oder<lb/>
eine noch unerforschte neue Proteus-Gesto.le der einheitlichen Naturkräfte sei."<lb/>
Und eben deshalb ist er sehr vorsichtig in seinen positiven Behauptungen über<lb/>
die rätselhafte Erscheinung. Er vergleicht ihre einzelnen Momente, immer zu¬<lb/>
gleich polemisch gegen die meisten der einschlägigen neuen Arbeiten, mit den<lb/>
Merkmalen des Schlafes, mit der allgemeinen Sensitivitcit, mit der Hyper¬<lb/>
ästhesie und der Beschleunigung des Vorstellungswechsels bei Fieberdelirien. Er<lb/>
ist überzeugt, daß der &#x201E;spontane Somnambulismus zunächst ebenso zweifellos<lb/>
ein Symptom einer Erkrankung des Nervensystems sei, wie Epilepsie, Veits¬<lb/>
tanz oder Irrsinn." Dies Resultat der angestellten Vergleichungen führt dann<lb/>
weiter zu dem Ausspruch, daß der Somnambulismus psychologisch tiefer stehe<lb/>
als das wache, bewußte geistige Leben. Für diese Worte können wir angesichts<lb/>
des widerlichen und oft betrügerischen Mißbrauchs, den unsre so vorzüglich auf¬<lb/>
geklärte Zeit bewundernd gutheißt, dem Philosophen ganz besonders dankbar<lb/>
sein. Bei ihm wenigstens wird niemand grundsätzliche Antipathie zu Gunsten<lb/>
einer einmal erfaßten Weltanschauung vermuten, wie wir sie allenfalls bei<lb/>
Materialisten und Sensualisten voraussetzen dürfen. Zum Überfluß spricht er<lb/>
den guten Grund zu seinem herben Urteil noch einmal klar und bündig aus:<lb/>
der Somnambulismus enthülle, als ein rein pathologischer Zustand, keine ein¬<lb/>
zige neue Funktion des menschlichen Geistes, sondern zeige bekannte Funktionen<lb/>
in andrer Zusammenstellung.</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0078] Moderne Probleme, Bekämpfung des Einflusses der Zeitungen und Journale entgegenzutreten, deren Lektüre Zeit und Spannkraft über alles verständige Maß hinaus in Anspruch nimmt. Denn bei der modernen Richtung auf „Aktualität," praktische Teil¬ nahme am Geschehenden, ist ein solcher Kampf von vornherein ganz aussichtslos. Vielmehr wird eine wirksame Abhilfe einzig und allein von der allmähligen Vermehrung des Nationalreichtums, von der Hebung des allgemeinen Wohl¬ standes zu erwarten sein. Je größer die Zahl der Leute ist, die über das un¬ mittelbare, selbst hoch gesteigerte Bedürfnis einnehmen, umso größer ist der Bruchteil derselben, der zu den Luxusausgaben auch die sür Bücher rechnet. Im übrigen wird sich das vielbeseufztc „eherne Lohngesetz" auch hier geltend machen. Wenn der Staat einmal imstande sein wird, seinen Beamten ein nennenswert höheres Gehalt zu geben, so wird er in Wirklichkeit sich dadurch zu diesem Schritte gedrängt sehen, daß mit dem seitherigen eine Familie nicht mehr standesgemäß zu unterhalten ist. Für eine Bibliothek bleibt dann doch wieder nichts übrig. Beamte aber bilden, bei unsern deutschen Verhältnissen, denn doch den größten Teil des „gebildeten Mittelstandes." Nach einem halb scherzhaft gehaltenen Aufsätze über „die epidemische Ruhm- sucht unsrer Zeit" schließt Hartmann mit einer Arbeit über den „Somnam¬ bulismus," die nach Ausdehnung und Inhalt die wichtigste des Buches bildet. Ihm ist es vorläufig zweifelhaft, ob das „im tierischen Magnetismus wirksame dynamische Agens mit einer der uns bekannten Naturkräfte identisch, oder eine noch unerforschte neue Proteus-Gesto.le der einheitlichen Naturkräfte sei." Und eben deshalb ist er sehr vorsichtig in seinen positiven Behauptungen über die rätselhafte Erscheinung. Er vergleicht ihre einzelnen Momente, immer zu¬ gleich polemisch gegen die meisten der einschlägigen neuen Arbeiten, mit den Merkmalen des Schlafes, mit der allgemeinen Sensitivitcit, mit der Hyper¬ ästhesie und der Beschleunigung des Vorstellungswechsels bei Fieberdelirien. Er ist überzeugt, daß der „spontane Somnambulismus zunächst ebenso zweifellos ein Symptom einer Erkrankung des Nervensystems sei, wie Epilepsie, Veits¬ tanz oder Irrsinn." Dies Resultat der angestellten Vergleichungen führt dann weiter zu dem Ausspruch, daß der Somnambulismus psychologisch tiefer stehe als das wache, bewußte geistige Leben. Für diese Worte können wir angesichts des widerlichen und oft betrügerischen Mißbrauchs, den unsre so vorzüglich auf¬ geklärte Zeit bewundernd gutheißt, dem Philosophen ganz besonders dankbar sein. Bei ihm wenigstens wird niemand grundsätzliche Antipathie zu Gunsten einer einmal erfaßten Weltanschauung vermuten, wie wir sie allenfalls bei Materialisten und Sensualisten voraussetzen dürfen. Zum Überfluß spricht er den guten Grund zu seinem herben Urteil noch einmal klar und bündig aus: der Somnambulismus enthülle, als ein rein pathologischer Zustand, keine ein¬ zige neue Funktion des menschlichen Geistes, sondern zeige bekannte Funktionen in andrer Zusammenstellung.

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341843_197423
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341843_197423/78
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341843_197423/78>, abgerufen am 05.02.2025.