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Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Erstes Quartal.

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Moderne Probleme.

Hülsenfrüchten, viel Nährwert besitzt, ist sie im Vergleich mit dem Fleisch schwer
verdaulich. Richtig ist dieser Satz, ganz ohne Zweifel. Belehren wird er aber
niemanden, denn der Vegctarianismus entspringt nicht ans physiologischen Er¬
wägungen, sondern aus hyperzivilisirter, mit Empfindsamkeit durchsetzter Diftelei
und läßt sich nur zur eignen Beruhigung und xro komm eine physiologische
Fahne vvrantragen. Darum ist es sehr am Platze, wenn Hartmann ferner dem
so oft gemißbrauchten Humanitätsprinzip die Leuchte vorhält und den Vege-
tarianern mindestens eine bedenkliche Willkür in der Anwendung dieses heikelsten
aller Prinzipe nachweist.

Im vierten Aufsatze: "Die Lebensfrage der Familie" tritt unser Autor
der modernen Ehelosigkeit mit einer Entschiedenheit entgegen, die bei einem
Manne, welcher mit so trübem Erfolge die Bilanz des Lebensgenusses (in
seinem Hauptwerk) zog, etwas eigentümlich berührt. Oder ist das Eingehen
einer Ehe am Ende garnicht die sehr entschiedn".' Bejahung des Willens zum
Leben, als die es von naiven Leuten gewöhnlich angesehen wird? Auf jeden
Fall hat Hartmann darin Recht, daß die zunehmende Ehelosigkeit im letzten
Grunde nicht an dem Steigen aller Preise, an der Schwierigkeit einer auskömm¬
lichen Einnahme liegt, sondern in dem Zurückgehen der sittlichen Energie, in
der Zunahme eines auf unedle und äußerliche Dinge gerichteten Egoismus. An
diesem Fehler nehmen beide Geschlechter gleichmäßig teil, und wenn er beim
Manne naturgemäß mehr auffällt, so ist er, wenigstens in den eben erwähnten
Folgen, beim Weibe umso unnatürlicher und zeugt von einem sehr viel tiefern
Herabsinken vom normalen, dnrch die Natur gebotenen Standpunkte, als beim
Manne. Denn die Natur des Weibes erfüllt sich erst in der Ehe, oder doch
in dem, was bei Kulturvölkern im allgemeinen nur in der Ehe zur Geltung
kommt: in der Mutterschaft. Hartmann behandelt das angeschlagene Thema
sehr eingehend und klar, und seine Befürchtung, die schonungslose Aufdeckung
aller dahin gehörigen Momente würde manchem Leser peinlich sein, wird in
Wirklichkeit kaum anders als bei denen eintreffen, die sich selbst getroffen fühlen.
Nur daß er die einer modernen gebildeten Ehe entgegenstehenden Hindernisse
doch wirklich etwas zu gering anschlägt. Er mißbilligt es ausdrücklich, daß
(S. 69) "Mädchen vor dem Gedanken zurückschaudern, als Frau in ein Haus¬
wesen'eintreten zu sollen, wo ihnen zwar die grobe Arbeit durch eine Magd
abgenommen wird, aber das eigentliche Kochen, das Schneidern ihrer eignen
Kleidung und derjenigen für die Kinder, und, was am schwersten wiegt, die
tägliche und nächtliche Kinderpflege auf ihre eignen Schultern fallen würde."
Nun, offen gestanden, es braucht ja nicht immer ein "Schaudern" zu sein; ob
aber ein Mädchen, um das sich ein gebildeter Mann bewirbt, bei der Aussicht
auf alle die aufgezählten Pflichten nicht zweifeln muß, ob sie nebenher anch
ihrem Manne eine Gattin in geistiger und sittlicher Hinsicht sein kann, und ob
sie nicht Recht thut, wenn sie lieber auf solche Ehe verzichtet, als sie nur ciaoacl


Moderne Probleme.

Hülsenfrüchten, viel Nährwert besitzt, ist sie im Vergleich mit dem Fleisch schwer
verdaulich. Richtig ist dieser Satz, ganz ohne Zweifel. Belehren wird er aber
niemanden, denn der Vegctarianismus entspringt nicht ans physiologischen Er¬
wägungen, sondern aus hyperzivilisirter, mit Empfindsamkeit durchsetzter Diftelei
und läßt sich nur zur eignen Beruhigung und xro komm eine physiologische
Fahne vvrantragen. Darum ist es sehr am Platze, wenn Hartmann ferner dem
so oft gemißbrauchten Humanitätsprinzip die Leuchte vorhält und den Vege-
tarianern mindestens eine bedenkliche Willkür in der Anwendung dieses heikelsten
aller Prinzipe nachweist.

Im vierten Aufsatze: „Die Lebensfrage der Familie" tritt unser Autor
der modernen Ehelosigkeit mit einer Entschiedenheit entgegen, die bei einem
Manne, welcher mit so trübem Erfolge die Bilanz des Lebensgenusses (in
seinem Hauptwerk) zog, etwas eigentümlich berührt. Oder ist das Eingehen
einer Ehe am Ende garnicht die sehr entschiedn«.' Bejahung des Willens zum
Leben, als die es von naiven Leuten gewöhnlich angesehen wird? Auf jeden
Fall hat Hartmann darin Recht, daß die zunehmende Ehelosigkeit im letzten
Grunde nicht an dem Steigen aller Preise, an der Schwierigkeit einer auskömm¬
lichen Einnahme liegt, sondern in dem Zurückgehen der sittlichen Energie, in
der Zunahme eines auf unedle und äußerliche Dinge gerichteten Egoismus. An
diesem Fehler nehmen beide Geschlechter gleichmäßig teil, und wenn er beim
Manne naturgemäß mehr auffällt, so ist er, wenigstens in den eben erwähnten
Folgen, beim Weibe umso unnatürlicher und zeugt von einem sehr viel tiefern
Herabsinken vom normalen, dnrch die Natur gebotenen Standpunkte, als beim
Manne. Denn die Natur des Weibes erfüllt sich erst in der Ehe, oder doch
in dem, was bei Kulturvölkern im allgemeinen nur in der Ehe zur Geltung
kommt: in der Mutterschaft. Hartmann behandelt das angeschlagene Thema
sehr eingehend und klar, und seine Befürchtung, die schonungslose Aufdeckung
aller dahin gehörigen Momente würde manchem Leser peinlich sein, wird in
Wirklichkeit kaum anders als bei denen eintreffen, die sich selbst getroffen fühlen.
Nur daß er die einer modernen gebildeten Ehe entgegenstehenden Hindernisse
doch wirklich etwas zu gering anschlägt. Er mißbilligt es ausdrücklich, daß
(S. 69) „Mädchen vor dem Gedanken zurückschaudern, als Frau in ein Haus¬
wesen'eintreten zu sollen, wo ihnen zwar die grobe Arbeit durch eine Magd
abgenommen wird, aber das eigentliche Kochen, das Schneidern ihrer eignen
Kleidung und derjenigen für die Kinder, und, was am schwersten wiegt, die
tägliche und nächtliche Kinderpflege auf ihre eignen Schultern fallen würde."
Nun, offen gestanden, es braucht ja nicht immer ein „Schaudern" zu sein; ob
aber ein Mädchen, um das sich ein gebildeter Mann bewirbt, bei der Aussicht
auf alle die aufgezählten Pflichten nicht zweifeln muß, ob sie nebenher anch
ihrem Manne eine Gattin in geistiger und sittlicher Hinsicht sein kann, und ob
sie nicht Recht thut, wenn sie lieber auf solche Ehe verzichtet, als sie nur ciaoacl


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[0076] Moderne Probleme. Hülsenfrüchten, viel Nährwert besitzt, ist sie im Vergleich mit dem Fleisch schwer verdaulich. Richtig ist dieser Satz, ganz ohne Zweifel. Belehren wird er aber niemanden, denn der Vegctarianismus entspringt nicht ans physiologischen Er¬ wägungen, sondern aus hyperzivilisirter, mit Empfindsamkeit durchsetzter Diftelei und läßt sich nur zur eignen Beruhigung und xro komm eine physiologische Fahne vvrantragen. Darum ist es sehr am Platze, wenn Hartmann ferner dem so oft gemißbrauchten Humanitätsprinzip die Leuchte vorhält und den Vege- tarianern mindestens eine bedenkliche Willkür in der Anwendung dieses heikelsten aller Prinzipe nachweist. Im vierten Aufsatze: „Die Lebensfrage der Familie" tritt unser Autor der modernen Ehelosigkeit mit einer Entschiedenheit entgegen, die bei einem Manne, welcher mit so trübem Erfolge die Bilanz des Lebensgenusses (in seinem Hauptwerk) zog, etwas eigentümlich berührt. Oder ist das Eingehen einer Ehe am Ende garnicht die sehr entschiedn«.' Bejahung des Willens zum Leben, als die es von naiven Leuten gewöhnlich angesehen wird? Auf jeden Fall hat Hartmann darin Recht, daß die zunehmende Ehelosigkeit im letzten Grunde nicht an dem Steigen aller Preise, an der Schwierigkeit einer auskömm¬ lichen Einnahme liegt, sondern in dem Zurückgehen der sittlichen Energie, in der Zunahme eines auf unedle und äußerliche Dinge gerichteten Egoismus. An diesem Fehler nehmen beide Geschlechter gleichmäßig teil, und wenn er beim Manne naturgemäß mehr auffällt, so ist er, wenigstens in den eben erwähnten Folgen, beim Weibe umso unnatürlicher und zeugt von einem sehr viel tiefern Herabsinken vom normalen, dnrch die Natur gebotenen Standpunkte, als beim Manne. Denn die Natur des Weibes erfüllt sich erst in der Ehe, oder doch in dem, was bei Kulturvölkern im allgemeinen nur in der Ehe zur Geltung kommt: in der Mutterschaft. Hartmann behandelt das angeschlagene Thema sehr eingehend und klar, und seine Befürchtung, die schonungslose Aufdeckung aller dahin gehörigen Momente würde manchem Leser peinlich sein, wird in Wirklichkeit kaum anders als bei denen eintreffen, die sich selbst getroffen fühlen. Nur daß er die einer modernen gebildeten Ehe entgegenstehenden Hindernisse doch wirklich etwas zu gering anschlägt. Er mißbilligt es ausdrücklich, daß (S. 69) „Mädchen vor dem Gedanken zurückschaudern, als Frau in ein Haus¬ wesen'eintreten zu sollen, wo ihnen zwar die grobe Arbeit durch eine Magd abgenommen wird, aber das eigentliche Kochen, das Schneidern ihrer eignen Kleidung und derjenigen für die Kinder, und, was am schwersten wiegt, die tägliche und nächtliche Kinderpflege auf ihre eignen Schultern fallen würde." Nun, offen gestanden, es braucht ja nicht immer ein „Schaudern" zu sein; ob aber ein Mädchen, um das sich ein gebildeter Mann bewirbt, bei der Aussicht auf alle die aufgezählten Pflichten nicht zweifeln muß, ob sie nebenher anch ihrem Manne eine Gattin in geistiger und sittlicher Hinsicht sein kann, und ob sie nicht Recht thut, wenn sie lieber auf solche Ehe verzichtet, als sie nur ciaoacl

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341843_197423/76>, abgerufen am 05.02.2025.