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Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Erstes Quartal.

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Die Zeugnispflicht der Reichstagsabgeordneten.

rechtliche Folge übernimmt, also dem Beklagten gegenüber, und diese Ansicht
findet weiter darin ihre Bestätigung, daß in dem oben zitirten §11 des deut¬
schen Strafgesetzbuches, der sich mit den Rechten der Abgeordneten befaßt, statt
der in der Reichsverfassung gewählten Synonymen Ausdrücke die einfache Be¬
stimmung enthalten ist, der Abgeordnete dürfe nicht zur Verantwortung ge¬
zogen werden.

Hätte die Gesetzgebung ein weitergehendes Recht der Abgeordneten als das¬
jenige auf persönliche UnVerantwortlichkeit für die von ihnen gethanen Äuße¬
rungen festsetzen wollen, so hätte sie hierzu allen Anlaß bei Beratung der erst
im Jahre 1877 eingeführten Prozeßordnungen gehabt, wo diejenigen Personen
besonders aufgeführt werden, denen das Recht der Zeugnisverweigernng zustehen
soll. Uuter diesen Personen sind allerdings die von Herrn Hänel bezeichneten
Verteidiger und Geistlichen in Ansehung des ihnen in ihrem Berufe anvertrauten
genannt, nicht aber die Abgeordneten, und gerade aus deren Nichtausführung
ist darauf zu schließen, daß sie entweder mit aller Absicht weggelassen worden
find oder daß überhaupt kein Mensch daran gedacht hat, daß ein Abgeordneter
ein so weitgehendes Privilegium beanspruchen könne, da die Zeugnispflicht eine
zur Aufrechterhaltung eines geordneten Staatswesens durchaus notwendige
allgemeine Bürgerpflicht ist und deshalb für die von dieser Regel zugelassenen
Ausnahmen möglichst enge Grenzen zu ziehen sind.

Daß diese Auslegung des einer Bestimmung der englischen und belgischen
Verfassung entsprechenden Artikels 30 der deutschen Reichsverfassung dem Sinne
desselben entspricht, daß also ein Abgeordneter wie jeder andre nicht ausdrück¬
lich von der Zengnispslicht befreite Staatsbürger dem Zengniszwcmgc unter¬
liegt, bestätigt die von dem Gerichtshöfe in Gent im Jahre 1884 gegen den
Abgeordneten Wocste (den spätern Justizminister) wegen Zeugnisverweigernng
ausgesprochene Geldstrafe, welche dieser als Jurist angesehene Abgeordnete nach¬
träglich durch ein von ihm eingereichtes Begnadigungsgesuch als gesetzmüßig aus¬
gesprochen anerkannt hat. Von den Lehrern des deutschen Staatsrechts wird
der Immunität der Abgeordneten nirgends die von den gegenwärtigen Antrag¬
stellern verlangte Ausdehnung gegeben.

Was die materielle Seite der Frage der Zengnispslicht anlangt, so ist
nicht abzusehen, wie die ordnungsmüßig gebrauchte Redefreiheit der Abgeord¬
neten durch ihre Pflicht, möglicherweise Zeugnis abzulegen, sollte beeintrüchtigt
werden. Hat ein Abgeordneter glaubhafte Kenntnis von einem bestehenden
Übelstande erhalten, so kann die vom Gerichte verlangte Angabe desjenigen,
der ihm hiervon Mitteilung gemacht hat, für diesen letztern keine nachteiligen
Folgen haben, wenn die behauptete Thatsache der Wahrheit entspricht, denn
nur der ist strafgesetzlich verantwortlich, welcher unbeweisbare vcrächtlichmachende
Behauptungen über einen Dritten aufstellt. Zur straflosen Verbreitung leicht¬
fertiger Verleumdungen und Verdächtigungen dritter Personen aber geradezu


Die Zeugnispflicht der Reichstagsabgeordneten.

rechtliche Folge übernimmt, also dem Beklagten gegenüber, und diese Ansicht
findet weiter darin ihre Bestätigung, daß in dem oben zitirten §11 des deut¬
schen Strafgesetzbuches, der sich mit den Rechten der Abgeordneten befaßt, statt
der in der Reichsverfassung gewählten Synonymen Ausdrücke die einfache Be¬
stimmung enthalten ist, der Abgeordnete dürfe nicht zur Verantwortung ge¬
zogen werden.

Hätte die Gesetzgebung ein weitergehendes Recht der Abgeordneten als das¬
jenige auf persönliche UnVerantwortlichkeit für die von ihnen gethanen Äuße¬
rungen festsetzen wollen, so hätte sie hierzu allen Anlaß bei Beratung der erst
im Jahre 1877 eingeführten Prozeßordnungen gehabt, wo diejenigen Personen
besonders aufgeführt werden, denen das Recht der Zeugnisverweigernng zustehen
soll. Uuter diesen Personen sind allerdings die von Herrn Hänel bezeichneten
Verteidiger und Geistlichen in Ansehung des ihnen in ihrem Berufe anvertrauten
genannt, nicht aber die Abgeordneten, und gerade aus deren Nichtausführung
ist darauf zu schließen, daß sie entweder mit aller Absicht weggelassen worden
find oder daß überhaupt kein Mensch daran gedacht hat, daß ein Abgeordneter
ein so weitgehendes Privilegium beanspruchen könne, da die Zeugnispflicht eine
zur Aufrechterhaltung eines geordneten Staatswesens durchaus notwendige
allgemeine Bürgerpflicht ist und deshalb für die von dieser Regel zugelassenen
Ausnahmen möglichst enge Grenzen zu ziehen sind.

Daß diese Auslegung des einer Bestimmung der englischen und belgischen
Verfassung entsprechenden Artikels 30 der deutschen Reichsverfassung dem Sinne
desselben entspricht, daß also ein Abgeordneter wie jeder andre nicht ausdrück¬
lich von der Zengnispslicht befreite Staatsbürger dem Zengniszwcmgc unter¬
liegt, bestätigt die von dem Gerichtshöfe in Gent im Jahre 1884 gegen den
Abgeordneten Wocste (den spätern Justizminister) wegen Zeugnisverweigernng
ausgesprochene Geldstrafe, welche dieser als Jurist angesehene Abgeordnete nach¬
träglich durch ein von ihm eingereichtes Begnadigungsgesuch als gesetzmüßig aus¬
gesprochen anerkannt hat. Von den Lehrern des deutschen Staatsrechts wird
der Immunität der Abgeordneten nirgends die von den gegenwärtigen Antrag¬
stellern verlangte Ausdehnung gegeben.

Was die materielle Seite der Frage der Zengnispslicht anlangt, so ist
nicht abzusehen, wie die ordnungsmüßig gebrauchte Redefreiheit der Abgeord¬
neten durch ihre Pflicht, möglicherweise Zeugnis abzulegen, sollte beeintrüchtigt
werden. Hat ein Abgeordneter glaubhafte Kenntnis von einem bestehenden
Übelstande erhalten, so kann die vom Gerichte verlangte Angabe desjenigen,
der ihm hiervon Mitteilung gemacht hat, für diesen letztern keine nachteiligen
Folgen haben, wenn die behauptete Thatsache der Wahrheit entspricht, denn
nur der ist strafgesetzlich verantwortlich, welcher unbeweisbare vcrächtlichmachende
Behauptungen über einen Dritten aufstellt. Zur straflosen Verbreitung leicht¬
fertiger Verleumdungen und Verdächtigungen dritter Personen aber geradezu


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[0628] Die Zeugnispflicht der Reichstagsabgeordneten. rechtliche Folge übernimmt, also dem Beklagten gegenüber, und diese Ansicht findet weiter darin ihre Bestätigung, daß in dem oben zitirten §11 des deut¬ schen Strafgesetzbuches, der sich mit den Rechten der Abgeordneten befaßt, statt der in der Reichsverfassung gewählten Synonymen Ausdrücke die einfache Be¬ stimmung enthalten ist, der Abgeordnete dürfe nicht zur Verantwortung ge¬ zogen werden. Hätte die Gesetzgebung ein weitergehendes Recht der Abgeordneten als das¬ jenige auf persönliche UnVerantwortlichkeit für die von ihnen gethanen Äuße¬ rungen festsetzen wollen, so hätte sie hierzu allen Anlaß bei Beratung der erst im Jahre 1877 eingeführten Prozeßordnungen gehabt, wo diejenigen Personen besonders aufgeführt werden, denen das Recht der Zeugnisverweigernng zustehen soll. Uuter diesen Personen sind allerdings die von Herrn Hänel bezeichneten Verteidiger und Geistlichen in Ansehung des ihnen in ihrem Berufe anvertrauten genannt, nicht aber die Abgeordneten, und gerade aus deren Nichtausführung ist darauf zu schließen, daß sie entweder mit aller Absicht weggelassen worden find oder daß überhaupt kein Mensch daran gedacht hat, daß ein Abgeordneter ein so weitgehendes Privilegium beanspruchen könne, da die Zeugnispflicht eine zur Aufrechterhaltung eines geordneten Staatswesens durchaus notwendige allgemeine Bürgerpflicht ist und deshalb für die von dieser Regel zugelassenen Ausnahmen möglichst enge Grenzen zu ziehen sind. Daß diese Auslegung des einer Bestimmung der englischen und belgischen Verfassung entsprechenden Artikels 30 der deutschen Reichsverfassung dem Sinne desselben entspricht, daß also ein Abgeordneter wie jeder andre nicht ausdrück¬ lich von der Zengnispslicht befreite Staatsbürger dem Zengniszwcmgc unter¬ liegt, bestätigt die von dem Gerichtshöfe in Gent im Jahre 1884 gegen den Abgeordneten Wocste (den spätern Justizminister) wegen Zeugnisverweigernng ausgesprochene Geldstrafe, welche dieser als Jurist angesehene Abgeordnete nach¬ träglich durch ein von ihm eingereichtes Begnadigungsgesuch als gesetzmüßig aus¬ gesprochen anerkannt hat. Von den Lehrern des deutschen Staatsrechts wird der Immunität der Abgeordneten nirgends die von den gegenwärtigen Antrag¬ stellern verlangte Ausdehnung gegeben. Was die materielle Seite der Frage der Zengnispslicht anlangt, so ist nicht abzusehen, wie die ordnungsmüßig gebrauchte Redefreiheit der Abgeord¬ neten durch ihre Pflicht, möglicherweise Zeugnis abzulegen, sollte beeintrüchtigt werden. Hat ein Abgeordneter glaubhafte Kenntnis von einem bestehenden Übelstande erhalten, so kann die vom Gerichte verlangte Angabe desjenigen, der ihm hiervon Mitteilung gemacht hat, für diesen letztern keine nachteiligen Folgen haben, wenn die behauptete Thatsache der Wahrheit entspricht, denn nur der ist strafgesetzlich verantwortlich, welcher unbeweisbare vcrächtlichmachende Behauptungen über einen Dritten aufstellt. Zur straflosen Verbreitung leicht¬ fertiger Verleumdungen und Verdächtigungen dritter Personen aber geradezu

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341843_197423/628>, abgerufen am 05.02.2025.