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Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Erstes Quartal.

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Die Krisis in Frankreich.

mit großer Stimmenmehrheit zu erwarten, so hatte man doch zu fürchten, daß
die monarchische Rechte, die schon bei den Verhandlungen über Tonking sehr
wirksam die Zähne gewiesen hatte, die Gesetzmäßigkeit der Präsidentenwahl auf
Grund der Thatsache, daß die Versammlung unvollständig sei, weil in ihr,
gerade so wie bei der Tvnkingdebatte, nicht weniger als zweinndzwanzig Deputirte
fehlten, welche die Republikaner wegen klerikaler Umtriebe bei deren Wahl als
auf ungesetzlichen Wege zu einem Mandat gekommen beseitigt hatten, lebhaft
anfechten werde, und daß verschiedne republikanische Senatoren und Deputirte
die Verwicklung vermehren würden, indem sie nicht für Grcvy, sondern für
einen andern Kandidaten ihre Stimme abzugeben entschlossen waren.

Die letztere Besorgnis erledigte sich. Zwar versuchte die Rechte zu pro-
testiren, aber der Vorsitzende des Kongresses ließ sie nicht zu Worte kommen,
und die parlamentarische" Annalen der Republik hatten nur einen neuen großen
Skandal mit Schimpfreden und Balgereien aufzunehmen. Grcvy wurde mit
großer Majorität, wenn auch nicht so großer wie vor sieben Jahren, wieder
gewählt. Eine ernstliche Gegenlandidatnr war nicht vorhanden, und er selbst
empfahl sich den parlamentarisch gestimmten und geschulten Gemütern sowie den
Liberalen überhaupt nach vielen Seiten hin. Grcvys Leben war immer der
Freiheit geweiht gewesen, wie sie die "öffentliche Meinung" in Frankreich versteht.
Jules Ferry war längst abgethan, Brisson war in der Tonkingdebatte ein paar
Tage vorher so gut wie unterlegen lind hatte überdies auf die Präsidentschaft
offen und bestimmt verzichtet, eine Kandidatur Clcmeneeaus wäre nach dem
Ausfall der Oktoberwahlen mit dem Anfange des Endes der dritten französischen
Republik identisch gewesen, anch Freycinet hatte keinerlei Aussichten, wenigstens
für jetzt nicht. Ganz anders Grevy. Seit Gambettn, der "Dauphin der Republik,"
gestorben war, gab es niemand, der sich unter den Vertretern der republikanischen
Parteien so großer Beliebtheit erfreut hätte als er. Als Student schon that
er sich als freisinniger Politiker hervor, indem er in der Julirevolution zu den
Kämpfern gehörte, die sich der Kaserne Babylon bemächtigten. Als Advokat
zeichnete er sich durch Verteidigung von Leuten aus, die politischer Verbrechen
wegen angeklagt waren. Nach der Februarrevolution schickte ihn Ledru-Rollin
als Kommissär der Regierung ins Departement des Jura, die Heimat Grevys,
wo er sich so populär machte, daß er in die konstituirende Nationalversammlung
gewählt wurde. Hier hielt er sich unabhängig und blieb den Radikalen fern,
gehörte aber immer zu den Wortführern der republikanischen Sache. Er war
der Urheber eines Antrages, welcher der Bewerbung Louis Napoleons um die
Krone einen Riegel vorschieben sollte, aber in der Sitzung vom 7. Oktober
1848 mit großer Majorität abgelehnt wurde. Nach dem Staatsstreich vom
2. Dezember nahm Grevy den Kampf gegen den Prinz-Präsidenten unerschrocken
wieder auf, indem er mit andern Deputirten dagegen protestirte. Man verhaftete
ihn, gab ihm aber bald wieder die Freiheit. Nach der Schlacht bei Sedan


Die Krisis in Frankreich.

mit großer Stimmenmehrheit zu erwarten, so hatte man doch zu fürchten, daß
die monarchische Rechte, die schon bei den Verhandlungen über Tonking sehr
wirksam die Zähne gewiesen hatte, die Gesetzmäßigkeit der Präsidentenwahl auf
Grund der Thatsache, daß die Versammlung unvollständig sei, weil in ihr,
gerade so wie bei der Tvnkingdebatte, nicht weniger als zweinndzwanzig Deputirte
fehlten, welche die Republikaner wegen klerikaler Umtriebe bei deren Wahl als
auf ungesetzlichen Wege zu einem Mandat gekommen beseitigt hatten, lebhaft
anfechten werde, und daß verschiedne republikanische Senatoren und Deputirte
die Verwicklung vermehren würden, indem sie nicht für Grcvy, sondern für
einen andern Kandidaten ihre Stimme abzugeben entschlossen waren.

Die letztere Besorgnis erledigte sich. Zwar versuchte die Rechte zu pro-
testiren, aber der Vorsitzende des Kongresses ließ sie nicht zu Worte kommen,
und die parlamentarische» Annalen der Republik hatten nur einen neuen großen
Skandal mit Schimpfreden und Balgereien aufzunehmen. Grcvy wurde mit
großer Majorität, wenn auch nicht so großer wie vor sieben Jahren, wieder
gewählt. Eine ernstliche Gegenlandidatnr war nicht vorhanden, und er selbst
empfahl sich den parlamentarisch gestimmten und geschulten Gemütern sowie den
Liberalen überhaupt nach vielen Seiten hin. Grcvys Leben war immer der
Freiheit geweiht gewesen, wie sie die „öffentliche Meinung" in Frankreich versteht.
Jules Ferry war längst abgethan, Brisson war in der Tonkingdebatte ein paar
Tage vorher so gut wie unterlegen lind hatte überdies auf die Präsidentschaft
offen und bestimmt verzichtet, eine Kandidatur Clcmeneeaus wäre nach dem
Ausfall der Oktoberwahlen mit dem Anfange des Endes der dritten französischen
Republik identisch gewesen, anch Freycinet hatte keinerlei Aussichten, wenigstens
für jetzt nicht. Ganz anders Grevy. Seit Gambettn, der „Dauphin der Republik,"
gestorben war, gab es niemand, der sich unter den Vertretern der republikanischen
Parteien so großer Beliebtheit erfreut hätte als er. Als Student schon that
er sich als freisinniger Politiker hervor, indem er in der Julirevolution zu den
Kämpfern gehörte, die sich der Kaserne Babylon bemächtigten. Als Advokat
zeichnete er sich durch Verteidigung von Leuten aus, die politischer Verbrechen
wegen angeklagt waren. Nach der Februarrevolution schickte ihn Ledru-Rollin
als Kommissär der Regierung ins Departement des Jura, die Heimat Grevys,
wo er sich so populär machte, daß er in die konstituirende Nationalversammlung
gewählt wurde. Hier hielt er sich unabhängig und blieb den Radikalen fern,
gehörte aber immer zu den Wortführern der republikanischen Sache. Er war
der Urheber eines Antrages, welcher der Bewerbung Louis Napoleons um die
Krone einen Riegel vorschieben sollte, aber in der Sitzung vom 7. Oktober
1848 mit großer Majorität abgelehnt wurde. Nach dem Staatsstreich vom
2. Dezember nahm Grevy den Kampf gegen den Prinz-Präsidenten unerschrocken
wieder auf, indem er mit andern Deputirten dagegen protestirte. Man verhaftete
ihn, gab ihm aber bald wieder die Freiheit. Nach der Schlacht bei Sedan


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341843_197423/58>, abgerufen am 05.02.2025.