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Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Erstes Quartal.

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liebe Gesetzgebung nicht zu unternehmen, wenn man so bald diese Abstriche machen
wollte. Allerdings wissen wir seit Jahren, daß gewisse Schärfen und Übergriffe
besser unterblieben wären. Aber wie groß war noch 1869 die Gleichgiltigkeit
in staatlich-kirchlichen Dingen bei den Protestanten! Das ist heilsamer Weise
anders geworden durch Rede und Gegenrede. Es wird trotz der angenblicklich
vorhandnen Kulturkampf-Müdigkeit bei denjenigen Protestanten davon ein erheb¬
licher Rest bleiben, die nicht ganz und gar den idealen Interessen abgesagt haben.

Zu dem Bleibenden im kirchenpolitischen Kampfe können wir in der That
das Einzelne in den siebziger Maigesetzen nicht rechnen. In dem bisher auf¬
gegebenen sehen wir keinen Schaden für den Staat. Wir sind auch damit zu¬
frieden, daß bei der Zurücknahme der erwähnten Paragraphen einseitig, nämlich
staatsseitig, verfahren worden ist. Die Anwesenheit eines preußischen Diplomaten
im Vatikan wird gewiß ihr Gutes haben, die nächste Zeit wird es wohl zeigen.
Aber Konkordate werden wir wohl wie bisher sorgfältig vermeiden. Es ist nicht
einmal ein giltiger Gesichtspunkt, nur der Kurie willen irgendeinen Schritt
zurückzuthuu. Was geschehen ist, ist immer nur und mit Recht durch die
Rücksicht ans die römischen Christen in Preußen motivirt. Es ist ein veraltetes
Prinzip, eine Einrichtung, eine gesetzliche Ordnung darum herzustellen, weil diese
Einrichtung, diese Ordnung einem abstrakten Ideal entspricht. Nur wenn sich
die Menschen, für die sie bestimmt ist, dabei wohl fühlen, kann die Ordnung
dem Realpolitiker zusagen. Denn zunächst verlangt der Mensch der Gegenwart
sein Recht, der der Zukunft mag dann ändern, was ihm nicht mehr paßt.

Wir wagen darum auch nicht zu sagen, daß die bisher noch geschonten
Paragraphen das Minimum dessen seien, was der Staat an kirchenpolitischen
Rechten nötig habe, um der Kurie zu widerstehen. Von einem festen Kanon
solcher Rechte kann ja nicht die Rede sein. Von einer sogenannten "organischen
Revision" der Maigesetze ist viel die Rede gewesen, aber ein fester Begriff ist
mit dieser Redensart nicht verbunden. Schon in der Naturwissenschaft ist die
Grenze des Organischen fließend. Erst recht in der Anwendung des Wortes
"organisch" auf menschliche Dinge, wie Staats- und Rechtsverhältnisse. Also
damit ist nichts gesagt. Den Ultramontanen ist es soviel wie Beseitigung der
sämtlichen Bestimmungen, die man zur Sicherung des Staates gegen die Herr¬
schaft der Kirche jemals gegeben hat. Der natürlichste Sinn des Wortes geht
dahin, daß es besser sei, die wünschenswerten Milderungen der kirchenpolitischen
Gesetze auf einmal in einer dem Laien verständlichen Form, in einer kodifizirtcn
Übersicht vorzunehmen, als stückweise in Absätzen aller zwei oder drei Jahre und
in Paragraphen, die durch ihre Rückweise auf alte Gesetze nicht mehr lesbar
und gemeinverständlich sind. Es wäre allerdings das beste, wenn man es so
haben könnte. Aber wir fürchten, daß es doch bei der jetzigen Weise der Ge-
setzesfvrtbildung bleiben muß, wenn wir anch dem Verständnis durch jeweilige
Kodifikationen des Giltigen recht gern zu Hilfe kommen möchten. Es ist zu


liebe Gesetzgebung nicht zu unternehmen, wenn man so bald diese Abstriche machen
wollte. Allerdings wissen wir seit Jahren, daß gewisse Schärfen und Übergriffe
besser unterblieben wären. Aber wie groß war noch 1869 die Gleichgiltigkeit
in staatlich-kirchlichen Dingen bei den Protestanten! Das ist heilsamer Weise
anders geworden durch Rede und Gegenrede. Es wird trotz der angenblicklich
vorhandnen Kulturkampf-Müdigkeit bei denjenigen Protestanten davon ein erheb¬
licher Rest bleiben, die nicht ganz und gar den idealen Interessen abgesagt haben.

Zu dem Bleibenden im kirchenpolitischen Kampfe können wir in der That
das Einzelne in den siebziger Maigesetzen nicht rechnen. In dem bisher auf¬
gegebenen sehen wir keinen Schaden für den Staat. Wir sind auch damit zu¬
frieden, daß bei der Zurücknahme der erwähnten Paragraphen einseitig, nämlich
staatsseitig, verfahren worden ist. Die Anwesenheit eines preußischen Diplomaten
im Vatikan wird gewiß ihr Gutes haben, die nächste Zeit wird es wohl zeigen.
Aber Konkordate werden wir wohl wie bisher sorgfältig vermeiden. Es ist nicht
einmal ein giltiger Gesichtspunkt, nur der Kurie willen irgendeinen Schritt
zurückzuthuu. Was geschehen ist, ist immer nur und mit Recht durch die
Rücksicht ans die römischen Christen in Preußen motivirt. Es ist ein veraltetes
Prinzip, eine Einrichtung, eine gesetzliche Ordnung darum herzustellen, weil diese
Einrichtung, diese Ordnung einem abstrakten Ideal entspricht. Nur wenn sich
die Menschen, für die sie bestimmt ist, dabei wohl fühlen, kann die Ordnung
dem Realpolitiker zusagen. Denn zunächst verlangt der Mensch der Gegenwart
sein Recht, der der Zukunft mag dann ändern, was ihm nicht mehr paßt.

Wir wagen darum auch nicht zu sagen, daß die bisher noch geschonten
Paragraphen das Minimum dessen seien, was der Staat an kirchenpolitischen
Rechten nötig habe, um der Kurie zu widerstehen. Von einem festen Kanon
solcher Rechte kann ja nicht die Rede sein. Von einer sogenannten „organischen
Revision" der Maigesetze ist viel die Rede gewesen, aber ein fester Begriff ist
mit dieser Redensart nicht verbunden. Schon in der Naturwissenschaft ist die
Grenze des Organischen fließend. Erst recht in der Anwendung des Wortes
„organisch" auf menschliche Dinge, wie Staats- und Rechtsverhältnisse. Also
damit ist nichts gesagt. Den Ultramontanen ist es soviel wie Beseitigung der
sämtlichen Bestimmungen, die man zur Sicherung des Staates gegen die Herr¬
schaft der Kirche jemals gegeben hat. Der natürlichste Sinn des Wortes geht
dahin, daß es besser sei, die wünschenswerten Milderungen der kirchenpolitischen
Gesetze auf einmal in einer dem Laien verständlichen Form, in einer kodifizirtcn
Übersicht vorzunehmen, als stückweise in Absätzen aller zwei oder drei Jahre und
in Paragraphen, die durch ihre Rückweise auf alte Gesetze nicht mehr lesbar
und gemeinverständlich sind. Es wäre allerdings das beste, wenn man es so
haben könnte. Aber wir fürchten, daß es doch bei der jetzigen Weise der Ge-
setzesfvrtbildung bleiben muß, wenn wir anch dem Verständnis durch jeweilige
Kodifikationen des Giltigen recht gern zu Hilfe kommen möchten. Es ist zu


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341843_197423/562>, abgerufen am 05.02.2025.