Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Erstes Quartal.

Bild:
<< vorherige Seite
Die Bilanz der Lhe.

das Schabloncnwesen kann nur mit Freuden begrüßt werden, denn sie ist wahrhaft
dichterisch berechtigt. Während das Leben der Menschen, schöpferisch und an
Gestaltungen neuer Formen und Verhältnisse reich wie die Natur selbst, eine
neue Zeit herausgeführt hat, sind die Dichter stehen geblieben, und der Zwiespalt
zwischen der idealen Phantasiewelt der Literatur und der Welt des wirklichen
Lebens, welches uns täglich umgiebt "ud unsre Gemütsart bestimmt, ist immer
größer geworden. Die Bedingungen unsers ganzen Empfindens, unsre Freuden
und Leiden, unsre Liebhabereien und Ideale sind andre: die Schablone hat davon
keine Notiz genommen. Darum der Ruf der junge" Generation: Fort mit der
Schablone! Wahrheit, Realismus!

Es handelt sich nicht um eine neue, eine vollendetere, höhere Form, Damals
als man der Produktion des jungen Deutschlands satt geworden war, in der
Opposition, welche Auerbach, Geibel, Hebbel, später Gustav Freytag und Paul
Hesse führten, damals handelte es sich vornehmlich darum, der künstlerischen
Form, der ehrlichen objektiven Darstellung und Gestaltung zu ihrem Rechte zu ver¬
helfen, welches in dem Übermut des sich selbst bespiegelnden poetischen Individuums,
in der politische" Tendenzpocsie, in der Reise- und Badenvvellistik, in den See-
schlangen neuubändiger Romane von Gutzkow unterzugehen drohte. Aber seither
hat gerade die Form eine außerordentliche Pflege erlebt, das künstlerische Ge¬
wissen ist wieder genügend gestärkt, Beherrschung der Form ist selbstverständliche
Voraussetzung jeder dichterischen Produktion geworden. Und einzig und allein
um einen neuen, wahren Inhalt, den das auf so vielfach veränderte Bedingungen
neu gestellte Leben uns förmlich aufdrängt, handelt es sich im jetzigen Zeitpunkte,
Darum also: Wahrheit, zunächst nichts als Wahrheit!

Von diesem Standpunkte aus, im bewußten Gegensatz gegen die Tradition,
hat Gustav Schwarz kopf seine novellistischen Studien: Die Bilanz der
Ehe^) geschrieben. Diese literarische Tendenz verrät sich in den Novellen klar
durch einen hie und da eingeflochtenen ironischen Seitenhieb auf die Überlieferung,
wie z. B. in der Stelle: "Die Annahme, daß ihre innige Liebe ihnen jede Ent¬
behrung leicht erscheinen lassen oder garnicht fühlbar machen würde, diese von
den Dichtern aufrecht erhaltene Tradition, die von einer Generation von Lie¬
benden auf die andern übergeht und die auch sie gläubig nachempfunden hatten,
scheint in ihrem Falle doch irrig gewesen zu sein" (I, 262). Aber als rechter
Deutscher hat Schwarzkopf seinen Standpunkt auch vorher theoretisch klar
gemacht, und zwar geschah dies in der (auch deu Lesern der Grenzboten) be¬
kannten Broschüre: "Der Roman, bei dem man sich langweilt," Jedenfalls war
sein Auftreten vornehmer und originaler als das der verworrenen Berliner Stürmer



*) Die Bilanz der Edo, Novellistische Studien von Gustav Schwarzkopf. Erster
Band: Passiva. Zweite durchgesehene Auflage, Zweiter Band: Dubiosa. Dresden und
Leipzig, Minden, 1886.
Die Bilanz der Lhe.

das Schabloncnwesen kann nur mit Freuden begrüßt werden, denn sie ist wahrhaft
dichterisch berechtigt. Während das Leben der Menschen, schöpferisch und an
Gestaltungen neuer Formen und Verhältnisse reich wie die Natur selbst, eine
neue Zeit herausgeführt hat, sind die Dichter stehen geblieben, und der Zwiespalt
zwischen der idealen Phantasiewelt der Literatur und der Welt des wirklichen
Lebens, welches uns täglich umgiebt »ud unsre Gemütsart bestimmt, ist immer
größer geworden. Die Bedingungen unsers ganzen Empfindens, unsre Freuden
und Leiden, unsre Liebhabereien und Ideale sind andre: die Schablone hat davon
keine Notiz genommen. Darum der Ruf der junge» Generation: Fort mit der
Schablone! Wahrheit, Realismus!

Es handelt sich nicht um eine neue, eine vollendetere, höhere Form, Damals
als man der Produktion des jungen Deutschlands satt geworden war, in der
Opposition, welche Auerbach, Geibel, Hebbel, später Gustav Freytag und Paul
Hesse führten, damals handelte es sich vornehmlich darum, der künstlerischen
Form, der ehrlichen objektiven Darstellung und Gestaltung zu ihrem Rechte zu ver¬
helfen, welches in dem Übermut des sich selbst bespiegelnden poetischen Individuums,
in der politische» Tendenzpocsie, in der Reise- und Badenvvellistik, in den See-
schlangen neuubändiger Romane von Gutzkow unterzugehen drohte. Aber seither
hat gerade die Form eine außerordentliche Pflege erlebt, das künstlerische Ge¬
wissen ist wieder genügend gestärkt, Beherrschung der Form ist selbstverständliche
Voraussetzung jeder dichterischen Produktion geworden. Und einzig und allein
um einen neuen, wahren Inhalt, den das auf so vielfach veränderte Bedingungen
neu gestellte Leben uns förmlich aufdrängt, handelt es sich im jetzigen Zeitpunkte,
Darum also: Wahrheit, zunächst nichts als Wahrheit!

Von diesem Standpunkte aus, im bewußten Gegensatz gegen die Tradition,
hat Gustav Schwarz kopf seine novellistischen Studien: Die Bilanz der
Ehe^) geschrieben. Diese literarische Tendenz verrät sich in den Novellen klar
durch einen hie und da eingeflochtenen ironischen Seitenhieb auf die Überlieferung,
wie z. B. in der Stelle: „Die Annahme, daß ihre innige Liebe ihnen jede Ent¬
behrung leicht erscheinen lassen oder garnicht fühlbar machen würde, diese von
den Dichtern aufrecht erhaltene Tradition, die von einer Generation von Lie¬
benden auf die andern übergeht und die auch sie gläubig nachempfunden hatten,
scheint in ihrem Falle doch irrig gewesen zu sein" (I, 262). Aber als rechter
Deutscher hat Schwarzkopf seinen Standpunkt auch vorher theoretisch klar
gemacht, und zwar geschah dies in der (auch deu Lesern der Grenzboten) be¬
kannten Broschüre: „Der Roman, bei dem man sich langweilt," Jedenfalls war
sein Auftreten vornehmer und originaler als das der verworrenen Berliner Stürmer



*) Die Bilanz der Edo, Novellistische Studien von Gustav Schwarzkopf. Erster
Band: Passiva. Zweite durchgesehene Auflage, Zweiter Band: Dubiosa. Dresden und
Leipzig, Minden, 1886.
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0550" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/197974"/>
          <fw type="header" place="top"> Die Bilanz der Lhe.</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_1626" prev="#ID_1625"> das Schabloncnwesen kann nur mit Freuden begrüßt werden, denn sie ist wahrhaft<lb/>
dichterisch berechtigt. Während das Leben der Menschen, schöpferisch und an<lb/>
Gestaltungen neuer Formen und Verhältnisse reich wie die Natur selbst, eine<lb/>
neue Zeit herausgeführt hat, sind die Dichter stehen geblieben, und der Zwiespalt<lb/>
zwischen der idealen Phantasiewelt der Literatur und der Welt des wirklichen<lb/>
Lebens, welches uns täglich umgiebt »ud unsre Gemütsart bestimmt, ist immer<lb/>
größer geworden. Die Bedingungen unsers ganzen Empfindens, unsre Freuden<lb/>
und Leiden, unsre Liebhabereien und Ideale sind andre: die Schablone hat davon<lb/>
keine Notiz genommen. Darum der Ruf der junge» Generation: Fort mit der<lb/>
Schablone!  Wahrheit, Realismus!</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1627"> Es handelt sich nicht um eine neue, eine vollendetere, höhere Form, Damals<lb/>
als man der Produktion des jungen Deutschlands satt geworden war, in der<lb/>
Opposition, welche Auerbach, Geibel, Hebbel, später Gustav Freytag und Paul<lb/>
Hesse führten, damals handelte es sich vornehmlich darum, der künstlerischen<lb/>
Form, der ehrlichen objektiven Darstellung und Gestaltung zu ihrem Rechte zu ver¬<lb/>
helfen, welches in dem Übermut des sich selbst bespiegelnden poetischen Individuums,<lb/>
in der politische» Tendenzpocsie, in der Reise- und Badenvvellistik, in den See-<lb/>
schlangen neuubändiger Romane von Gutzkow unterzugehen drohte. Aber seither<lb/>
hat gerade die Form eine außerordentliche Pflege erlebt, das künstlerische Ge¬<lb/>
wissen ist wieder genügend gestärkt, Beherrschung der Form ist selbstverständliche<lb/>
Voraussetzung jeder dichterischen Produktion geworden. Und einzig und allein<lb/>
um einen neuen, wahren Inhalt, den das auf so vielfach veränderte Bedingungen<lb/>
neu gestellte Leben uns förmlich aufdrängt, handelt es sich im jetzigen Zeitpunkte,<lb/>
Darum also: Wahrheit, zunächst nichts als Wahrheit!</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1628" next="#ID_1629"> Von diesem Standpunkte aus, im bewußten Gegensatz gegen die Tradition,<lb/>
hat Gustav Schwarz kopf seine novellistischen Studien: Die Bilanz der<lb/>
Ehe^) geschrieben. Diese literarische Tendenz verrät sich in den Novellen klar<lb/>
durch einen hie und da eingeflochtenen ironischen Seitenhieb auf die Überlieferung,<lb/>
wie z. B. in der Stelle: &#x201E;Die Annahme, daß ihre innige Liebe ihnen jede Ent¬<lb/>
behrung leicht erscheinen lassen oder garnicht fühlbar machen würde, diese von<lb/>
den Dichtern aufrecht erhaltene Tradition, die von einer Generation von Lie¬<lb/>
benden auf die andern übergeht und die auch sie gläubig nachempfunden hatten,<lb/>
scheint in ihrem Falle doch irrig gewesen zu sein" (I, 262). Aber als rechter<lb/>
Deutscher hat Schwarzkopf seinen Standpunkt auch vorher theoretisch klar<lb/>
gemacht, und zwar geschah dies in der (auch deu Lesern der Grenzboten) be¬<lb/>
kannten Broschüre: &#x201E;Der Roman, bei dem man sich langweilt," Jedenfalls war<lb/>
sein Auftreten vornehmer und originaler als das der verworrenen Berliner Stürmer</p><lb/>
          <note xml:id="FID_28" place="foot"> *) Die Bilanz der Edo, Novellistische Studien von Gustav Schwarzkopf. Erster<lb/>
Band: Passiva. Zweite durchgesehene Auflage, Zweiter Band: Dubiosa. Dresden und<lb/>
Leipzig, Minden, 1886.</note><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0550] Die Bilanz der Lhe. das Schabloncnwesen kann nur mit Freuden begrüßt werden, denn sie ist wahrhaft dichterisch berechtigt. Während das Leben der Menschen, schöpferisch und an Gestaltungen neuer Formen und Verhältnisse reich wie die Natur selbst, eine neue Zeit herausgeführt hat, sind die Dichter stehen geblieben, und der Zwiespalt zwischen der idealen Phantasiewelt der Literatur und der Welt des wirklichen Lebens, welches uns täglich umgiebt »ud unsre Gemütsart bestimmt, ist immer größer geworden. Die Bedingungen unsers ganzen Empfindens, unsre Freuden und Leiden, unsre Liebhabereien und Ideale sind andre: die Schablone hat davon keine Notiz genommen. Darum der Ruf der junge» Generation: Fort mit der Schablone! Wahrheit, Realismus! Es handelt sich nicht um eine neue, eine vollendetere, höhere Form, Damals als man der Produktion des jungen Deutschlands satt geworden war, in der Opposition, welche Auerbach, Geibel, Hebbel, später Gustav Freytag und Paul Hesse führten, damals handelte es sich vornehmlich darum, der künstlerischen Form, der ehrlichen objektiven Darstellung und Gestaltung zu ihrem Rechte zu ver¬ helfen, welches in dem Übermut des sich selbst bespiegelnden poetischen Individuums, in der politische» Tendenzpocsie, in der Reise- und Badenvvellistik, in den See- schlangen neuubändiger Romane von Gutzkow unterzugehen drohte. Aber seither hat gerade die Form eine außerordentliche Pflege erlebt, das künstlerische Ge¬ wissen ist wieder genügend gestärkt, Beherrschung der Form ist selbstverständliche Voraussetzung jeder dichterischen Produktion geworden. Und einzig und allein um einen neuen, wahren Inhalt, den das auf so vielfach veränderte Bedingungen neu gestellte Leben uns förmlich aufdrängt, handelt es sich im jetzigen Zeitpunkte, Darum also: Wahrheit, zunächst nichts als Wahrheit! Von diesem Standpunkte aus, im bewußten Gegensatz gegen die Tradition, hat Gustav Schwarz kopf seine novellistischen Studien: Die Bilanz der Ehe^) geschrieben. Diese literarische Tendenz verrät sich in den Novellen klar durch einen hie und da eingeflochtenen ironischen Seitenhieb auf die Überlieferung, wie z. B. in der Stelle: „Die Annahme, daß ihre innige Liebe ihnen jede Ent¬ behrung leicht erscheinen lassen oder garnicht fühlbar machen würde, diese von den Dichtern aufrecht erhaltene Tradition, die von einer Generation von Lie¬ benden auf die andern übergeht und die auch sie gläubig nachempfunden hatten, scheint in ihrem Falle doch irrig gewesen zu sein" (I, 262). Aber als rechter Deutscher hat Schwarzkopf seinen Standpunkt auch vorher theoretisch klar gemacht, und zwar geschah dies in der (auch deu Lesern der Grenzboten) be¬ kannten Broschüre: „Der Roman, bei dem man sich langweilt," Jedenfalls war sein Auftreten vornehmer und originaler als das der verworrenen Berliner Stürmer *) Die Bilanz der Edo, Novellistische Studien von Gustav Schwarzkopf. Erster Band: Passiva. Zweite durchgesehene Auflage, Zweiter Band: Dubiosa. Dresden und Leipzig, Minden, 1886.

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341843_197423
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341843_197423/550
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341843_197423/550>, abgerufen am 05.02.2025.