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Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Erstes Quartal.

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Gin deutscher Lüge"roman und sein Verfasser.

stärken, denen auf diese Weise die Möglichkeit sich eröffnete, einige Wochen trug
aufs angenehmste für ihren Lebensunterhalt zu sorgen. Wir werden, auch
ohne hierfür einen bestimmten Beleg beibringen zu können, schwerlich fehlgehen,
wenn wir annehmen, daß Reuter um das Jahr 1695 sich gleichfalls unter den
spielenden Studenten befunden habe.

Die deutsche Komödie und das deutsche Singspiel lieferte um die Mitte
der neunziger Jahre in Leipzig die meisten Stücke für das Repertoire der da¬
maligen Bühne. Als Muster für die erstere Gattung wurden die Stücke des
Zittauer Schuldirektors Christian Weise und diejenigen Molieres angesehen, der
zu jener Zeit immer mehr Anhänger in Deutschland fand. Ihr Beispiel regte
Reuter so sehr an, daß er, sobald er sich zu eignem Schaffen gedrängt fühlte,
ganz in ihre Fußtapfen trat. Namentlich zeigte er sich darin als ein Schüler
des großen Franzosen, daß er wirkliche, dem Lebe" entlehnte menschliche
Schwächen zum Gegenstande seiner Lustspiele wählte. Damit aber sah er sich
vor eine Klippe gestellt, an der vielleicht sein reiches Talent gescheitert ist. Es
gelang ihm nicht, das Persönliche zu vermeiden, oder wenigstens urteilten seine
Zeitgenossen so und sahen daher in seinen Stücken nur Pasquille, um deret-
willen er Strafe verdiene.

Reuter wohnte in Leipzig eine Zeit lang in dem Hause der Witwe eines
gewissen Eustachius Müller, welche, im Besitze eines beträchtlichen Vermögens,
mit ihren vier Kindern ein ziemliches wüstes Leben führte, sodaß die Familie
schließlich alles verlor und ein schmähliches Ende nahm. Was er in dieser
Familie mit erlebt und angesehen hatte, das benutzte er als Stoff für seine
verschiednen satirischen Komödien. Er wurde deshalb von der Witwe Müller
verklagt und als Pasquillant wiederholt relegirt, bis im April 1696 seine
gänzliche Ausschließung aus den Reihen der akademischen Bürger erfolgte. Seine
Existenz wurde jedoch durch diese Strafe wenig beeinträchtigt, da es ihm gelang,
in Dresden unter dem höchsten Adel einflußreiche Gönner zu finden. Er trat
in den Dienst des Kammerherrn Rudolf Gottlob vou Schfferditz und konnte
in dieser Stellung über seine ehemaligen Gegner in Leipzig triumphiren. Seit
dieser Zeit aber verschwindet er ganz unsern Blicken; wir wissen weder, wie es ihm
im "bürgerlichen Philistertum" ergangen, noch wann und wo er gestorben ist.

Auch in seinen Komödien, welche wir freilich nicht mit unsern, an strengere
Sitten gewöhnten Augen ansehen dürfe", erweist sich Reuter als ein witziger
Kopf und als ein außergewöhnliches Talent für Charakterzeichnung. Ihm zuerst
ist es in Deutschland gelungen, eine aus dem täglichen Leben gegriffene
Charakterkomödic im Geiste Molieres zu schaffen, ohne dabei, wie seine Vor¬
gänger, schulmeisterliche Tendenzen in den Vordergrund zu stellen. Daß er
auf diesem Gebiete nichts von bleibender Bedeutung hervorgebracht hat, liegt
nicht sowohl an seiner Begabung, sondern an den erbärmlichen Verhältnissen
seiner Zeit, über die sich auch das größte Genie nicht hätte hinwegsetzen können.


Gin deutscher Lüge»roman und sein Verfasser.

stärken, denen auf diese Weise die Möglichkeit sich eröffnete, einige Wochen trug
aufs angenehmste für ihren Lebensunterhalt zu sorgen. Wir werden, auch
ohne hierfür einen bestimmten Beleg beibringen zu können, schwerlich fehlgehen,
wenn wir annehmen, daß Reuter um das Jahr 1695 sich gleichfalls unter den
spielenden Studenten befunden habe.

Die deutsche Komödie und das deutsche Singspiel lieferte um die Mitte
der neunziger Jahre in Leipzig die meisten Stücke für das Repertoire der da¬
maligen Bühne. Als Muster für die erstere Gattung wurden die Stücke des
Zittauer Schuldirektors Christian Weise und diejenigen Molieres angesehen, der
zu jener Zeit immer mehr Anhänger in Deutschland fand. Ihr Beispiel regte
Reuter so sehr an, daß er, sobald er sich zu eignem Schaffen gedrängt fühlte,
ganz in ihre Fußtapfen trat. Namentlich zeigte er sich darin als ein Schüler
des großen Franzosen, daß er wirkliche, dem Lebe» entlehnte menschliche
Schwächen zum Gegenstande seiner Lustspiele wählte. Damit aber sah er sich
vor eine Klippe gestellt, an der vielleicht sein reiches Talent gescheitert ist. Es
gelang ihm nicht, das Persönliche zu vermeiden, oder wenigstens urteilten seine
Zeitgenossen so und sahen daher in seinen Stücken nur Pasquille, um deret-
willen er Strafe verdiene.

Reuter wohnte in Leipzig eine Zeit lang in dem Hause der Witwe eines
gewissen Eustachius Müller, welche, im Besitze eines beträchtlichen Vermögens,
mit ihren vier Kindern ein ziemliches wüstes Leben führte, sodaß die Familie
schließlich alles verlor und ein schmähliches Ende nahm. Was er in dieser
Familie mit erlebt und angesehen hatte, das benutzte er als Stoff für seine
verschiednen satirischen Komödien. Er wurde deshalb von der Witwe Müller
verklagt und als Pasquillant wiederholt relegirt, bis im April 1696 seine
gänzliche Ausschließung aus den Reihen der akademischen Bürger erfolgte. Seine
Existenz wurde jedoch durch diese Strafe wenig beeinträchtigt, da es ihm gelang,
in Dresden unter dem höchsten Adel einflußreiche Gönner zu finden. Er trat
in den Dienst des Kammerherrn Rudolf Gottlob vou Schfferditz und konnte
in dieser Stellung über seine ehemaligen Gegner in Leipzig triumphiren. Seit
dieser Zeit aber verschwindet er ganz unsern Blicken; wir wissen weder, wie es ihm
im „bürgerlichen Philistertum" ergangen, noch wann und wo er gestorben ist.

Auch in seinen Komödien, welche wir freilich nicht mit unsern, an strengere
Sitten gewöhnten Augen ansehen dürfe», erweist sich Reuter als ein witziger
Kopf und als ein außergewöhnliches Talent für Charakterzeichnung. Ihm zuerst
ist es in Deutschland gelungen, eine aus dem täglichen Leben gegriffene
Charakterkomödic im Geiste Molieres zu schaffen, ohne dabei, wie seine Vor¬
gänger, schulmeisterliche Tendenzen in den Vordergrund zu stellen. Daß er
auf diesem Gebiete nichts von bleibender Bedeutung hervorgebracht hat, liegt
nicht sowohl an seiner Begabung, sondern an den erbärmlichen Verhältnissen
seiner Zeit, über die sich auch das größte Genie nicht hätte hinwegsetzen können.


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341843_197423/548>, abgerufen am 05.02.2025.