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Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Erstes Quartal.

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Die Durchführung eines Systems von Handwerks-Genossenschaften.

Genossenschaften begründen und damit einer künftigen vollen Wirksamkeit der
genossenschaftlichen Idee die Wege ebnen, sondern auch den Junungsgedanken
selbst erst lebendig und wirksam machen. Wir kommen also zu dem Ergebnis,
daß die erste Voraussetzung für zeitgemäße Entfaltung eines mit dem Innungs-
wesen verschmolzenen Genossenschaftswesens darin besteht, den Junungsgenossen-
schaften eine den Jnnungseinrichtungcn angepaßte Rechtsgrundlage zu geben,
und sich hierbei keineswegs an die leitenden Gesichtspunkte des heutigen Ge¬
nossenschaftsgesetzes (die ja in einem wesentlichen Punkte, der Zulassung von
jedermann, für unsre Zwecke gänzlich unbrauchbar sind) zu binden.

Auch noch in einem andern, kann: minder wesentlichen Punkte sind die
Grundsätze des heutigen Genvssenschaftsgesetzes nicht allein keineswegs als un¬
erschütterliche Axiome zu betrachten, sondern sogar eher schädlich, mindestens
über das erforderliche Maß hinausgehend. Wir meinen die solidarische Haft¬
barkeit. Gewiß, diese solidarisch von allen Mitgliedern übernommene Verbind¬
lichkeit giebt der Sache ein Gepräge von Solidität und Gemeinnützigkeit, welches
auf gar keinem andern Wege zu erreichen ist; aber trotzdem ist sie 1. gefährlich,
2. der Entwicklung nachteilig, 3. unnötig. Es ist leicht, diesen dreifachen Tadel
zu begründen. Daß es für die Mitglieder eine gefährliche Sache sei, mit
ihrem ganzen Vermögen für die Verbindlichkeiten eines gemeinsamen Betriebes
zu haften, ist natürlich nichts neues; es ist dieses Bedenken von Anfang an
geltend gemacht worden, und man wird uns siegreich entgegenhalten, daß trotz¬
dem dieses Prinzip seinen Weg gemacht und Hunderttausende zahlungsfähiger
Leute nicht am Beitritte verhindert, ja dieselben erst recht zum Beitritte geneigt
gemacht habe. Aber die Sache sieht doch etwas anders ans, wenn man sie
im Lichte der wahrhaft beängstigenden Menge von Vvlksbankzusaminenbrücheil
betrachtet, die in letzter Zeit stattgefunden haben. Mag es noch so wahr sein,
daß unzählige wohlhabende und selbst reiche Leute in allen Teilen Deutschlands
Volksbankmitglieder geworden und bis heute geblieben sind, und mag auch das
noch so sehr zutreffen, daß die Solidarhnft nicht mehr so zu verstehen ist, als
ob jeder solidarisch Haftbare ohne weiteres für jeden beliebigen Anspruch an¬
gefaßt werden könnte (ist doch durch besondres Gesetz die Art und Weise, wie
die Haftbarkeit praktisch gemacht und wie insbesondre bei Konkursen verfahren
werden soll, nämlich unter gewissenhafter Verteilung der Schuld unter sämtliche
Haftbare, längst geregelt), so bleibt es doch eine harte und gefährliche Sache,
daß ein Mann- gleichsam seine ganze bürgerliche Existenz der " Genossenschaft"
zum Pfande setzt; sobald die Gefahr ernsthaft wird, kann dieses volle Ein¬
treten für die gemeinsame Sache den Leuten wirklich nicht mehr zugemutet
werden. Wer jemals Gelegenheit gehabt hat, die Zustände in der Nähe zu
beobachten, welche da herrschen, wo eine Volksbank in Konkurs geraten ist
(und diese Gelegenheit haben in letzter Zeit viele, viele Leute in Deutschland
gehabt!), der weiß, wie grausig dieselben sind. Es ist nicht anders, als ob in


Die Durchführung eines Systems von Handwerks-Genossenschaften.

Genossenschaften begründen und damit einer künftigen vollen Wirksamkeit der
genossenschaftlichen Idee die Wege ebnen, sondern auch den Junungsgedanken
selbst erst lebendig und wirksam machen. Wir kommen also zu dem Ergebnis,
daß die erste Voraussetzung für zeitgemäße Entfaltung eines mit dem Innungs-
wesen verschmolzenen Genossenschaftswesens darin besteht, den Junungsgenossen-
schaften eine den Jnnungseinrichtungcn angepaßte Rechtsgrundlage zu geben,
und sich hierbei keineswegs an die leitenden Gesichtspunkte des heutigen Ge¬
nossenschaftsgesetzes (die ja in einem wesentlichen Punkte, der Zulassung von
jedermann, für unsre Zwecke gänzlich unbrauchbar sind) zu binden.

Auch noch in einem andern, kann: minder wesentlichen Punkte sind die
Grundsätze des heutigen Genvssenschaftsgesetzes nicht allein keineswegs als un¬
erschütterliche Axiome zu betrachten, sondern sogar eher schädlich, mindestens
über das erforderliche Maß hinausgehend. Wir meinen die solidarische Haft¬
barkeit. Gewiß, diese solidarisch von allen Mitgliedern übernommene Verbind¬
lichkeit giebt der Sache ein Gepräge von Solidität und Gemeinnützigkeit, welches
auf gar keinem andern Wege zu erreichen ist; aber trotzdem ist sie 1. gefährlich,
2. der Entwicklung nachteilig, 3. unnötig. Es ist leicht, diesen dreifachen Tadel
zu begründen. Daß es für die Mitglieder eine gefährliche Sache sei, mit
ihrem ganzen Vermögen für die Verbindlichkeiten eines gemeinsamen Betriebes
zu haften, ist natürlich nichts neues; es ist dieses Bedenken von Anfang an
geltend gemacht worden, und man wird uns siegreich entgegenhalten, daß trotz¬
dem dieses Prinzip seinen Weg gemacht und Hunderttausende zahlungsfähiger
Leute nicht am Beitritte verhindert, ja dieselben erst recht zum Beitritte geneigt
gemacht habe. Aber die Sache sieht doch etwas anders ans, wenn man sie
im Lichte der wahrhaft beängstigenden Menge von Vvlksbankzusaminenbrücheil
betrachtet, die in letzter Zeit stattgefunden haben. Mag es noch so wahr sein,
daß unzählige wohlhabende und selbst reiche Leute in allen Teilen Deutschlands
Volksbankmitglieder geworden und bis heute geblieben sind, und mag auch das
noch so sehr zutreffen, daß die Solidarhnft nicht mehr so zu verstehen ist, als
ob jeder solidarisch Haftbare ohne weiteres für jeden beliebigen Anspruch an¬
gefaßt werden könnte (ist doch durch besondres Gesetz die Art und Weise, wie
die Haftbarkeit praktisch gemacht und wie insbesondre bei Konkursen verfahren
werden soll, nämlich unter gewissenhafter Verteilung der Schuld unter sämtliche
Haftbare, längst geregelt), so bleibt es doch eine harte und gefährliche Sache,
daß ein Mann- gleichsam seine ganze bürgerliche Existenz der „ Genossenschaft"
zum Pfande setzt; sobald die Gefahr ernsthaft wird, kann dieses volle Ein¬
treten für die gemeinsame Sache den Leuten wirklich nicht mehr zugemutet
werden. Wer jemals Gelegenheit gehabt hat, die Zustände in der Nähe zu
beobachten, welche da herrschen, wo eine Volksbank in Konkurs geraten ist
(und diese Gelegenheit haben in letzter Zeit viele, viele Leute in Deutschland
gehabt!), der weiß, wie grausig dieselben sind. Es ist nicht anders, als ob in


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341843_197423/452>, abgerufen am 05.02.2025.