Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Erstes Quartal.Gin realistischer Roman. cis ist es denn eigentlich mit dein Realismus? Kein Schlagwort Wen" man sich nur etwas historisch zu besinnen vermag, so gewahrt mau, Gin realistischer Roman. cis ist es denn eigentlich mit dein Realismus? Kein Schlagwort Wen» man sich nur etwas historisch zu besinnen vermag, so gewahrt mau, <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0360" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/197784"/> </div> <div n="1"> <head> Gin realistischer Roman.</head><lb/> <p xml:id="ID_1068"> cis ist es denn eigentlich mit dein Realismus? Kein Schlagwort<lb/> ist heutzutage mehr verbreitet, als das Wörtchen „realistisch/'<lb/> Will man einen Roman, eine Schilderung besonders loben, so<lb/> nennt man sie „realistisch"; dem bedeutendsten Maler der Gegen¬<lb/> wart, dem letzthin so glänzend gefeierten Adolf Menzel, sprach<lb/> man Realismus zu; Richard Wagner mit seiner virtuosen Tonmalerei soll der<lb/> Realist in der Musik, Gottfried Keller der Realist in der Poesie sein. Man<lb/> spricht von einem Realismus in der Wissenschaft, von einem Realismus in der<lb/> Politik. Ein gelehrter Literarhistoriker hat unsre Zeit als die Epoche des<lb/> Realismus schlechthin bezeichnet. Wo man hinsieht, trifft man überall auf<lb/> dieses Schlagwort, und vor einiger Zeit hat sogar eine neue Wochenschrift, die<lb/> einem unabweisbaren Bedürfnisse abhelfen wollte und an die Gunst eines<lb/> geehrten Publikums nppellirte, gleich auf dem Titelblatte den Realismus als<lb/> Panier aufgepflanzt. Was ist es mit diesem proteusartigen Fremdworte, das<lb/> überall willkommen ist, und womit sich schließlich alle jene zieren, die sonst<lb/> keinen andern Schmuck aufzuweisen haben? Ein Wort, das so allgemein beliebt<lb/> ist, kann nicht ein leerer Schall sein; etwas allgemein als wertvoll anerkanntes<lb/> muß doch damit gemeint sein.</p><lb/> <p xml:id="ID_1069" next="#ID_1070"> Wen» man sich nur etwas historisch zu besinnen vermag, so gewahrt mau,<lb/> daß jede Epoche ein solches Lieblingswort hatte, das ursprünglich seinen höchst<lb/> idealen Sinn besaß, seinen ersten Prägern zu großem Ruhm gereichte, im Verlaufe<lb/> der Zeit aber zur abgegriffenem Münze wurde, um einem neuen Schlngwort<lb/> Platz zu machen, welches dieselben Stadien des Blühens und Verbindens durch¬<lb/> machte. So ein Schicksal hatte im vorigen Jahrhundert das Wort „Aufklärung."<lb/> Von Thomasius, der für die Abschaffung der Folter kämpfte, und Voltaire, der<lb/> sich in den Dienst der englischen Philosophen stellte, bis auf Lessing und Kant<lb/> hatte dies Wort und auch sein Inhalt eine große Geltung in Europa: Poesie<lb/> und Philosophie, auch die Theologie, die Politik und die Jurisprudenz, sie<lb/> dienten alle der Aufklärung, bis die Romantiker dem sich überlebenden „Auf-<lb/> kläricht" eines Philisters wie Nicolai ein Ende machten und den allgemeinen<lb/> Geschmack in eine andre Richtung lenkten. Auch der Gemeingeist ganzer Epochen<lb/> pflegt ebenso einseitig wie die Begabung eines einzelnen Menschen zu sein; da<lb/> ist die gesamte geistige Thätigkeit der ganzen Kulturwelt in eine bestimmte<lb/> Richtung gelenkt, der auch die entferntesten Zweige der Forschung, die scheinbar<lb/> einsamsten Denker dienen. Und ebenso ist es mit dem Geiste der Epoche, in<lb/> der wir leben und der in dem Worte „Realismus" sein Kennzeiche» gefunden hat.</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0360]
Gin realistischer Roman.
cis ist es denn eigentlich mit dein Realismus? Kein Schlagwort
ist heutzutage mehr verbreitet, als das Wörtchen „realistisch/'
Will man einen Roman, eine Schilderung besonders loben, so
nennt man sie „realistisch"; dem bedeutendsten Maler der Gegen¬
wart, dem letzthin so glänzend gefeierten Adolf Menzel, sprach
man Realismus zu; Richard Wagner mit seiner virtuosen Tonmalerei soll der
Realist in der Musik, Gottfried Keller der Realist in der Poesie sein. Man
spricht von einem Realismus in der Wissenschaft, von einem Realismus in der
Politik. Ein gelehrter Literarhistoriker hat unsre Zeit als die Epoche des
Realismus schlechthin bezeichnet. Wo man hinsieht, trifft man überall auf
dieses Schlagwort, und vor einiger Zeit hat sogar eine neue Wochenschrift, die
einem unabweisbaren Bedürfnisse abhelfen wollte und an die Gunst eines
geehrten Publikums nppellirte, gleich auf dem Titelblatte den Realismus als
Panier aufgepflanzt. Was ist es mit diesem proteusartigen Fremdworte, das
überall willkommen ist, und womit sich schließlich alle jene zieren, die sonst
keinen andern Schmuck aufzuweisen haben? Ein Wort, das so allgemein beliebt
ist, kann nicht ein leerer Schall sein; etwas allgemein als wertvoll anerkanntes
muß doch damit gemeint sein.
Wen» man sich nur etwas historisch zu besinnen vermag, so gewahrt mau,
daß jede Epoche ein solches Lieblingswort hatte, das ursprünglich seinen höchst
idealen Sinn besaß, seinen ersten Prägern zu großem Ruhm gereichte, im Verlaufe
der Zeit aber zur abgegriffenem Münze wurde, um einem neuen Schlngwort
Platz zu machen, welches dieselben Stadien des Blühens und Verbindens durch¬
machte. So ein Schicksal hatte im vorigen Jahrhundert das Wort „Aufklärung."
Von Thomasius, der für die Abschaffung der Folter kämpfte, und Voltaire, der
sich in den Dienst der englischen Philosophen stellte, bis auf Lessing und Kant
hatte dies Wort und auch sein Inhalt eine große Geltung in Europa: Poesie
und Philosophie, auch die Theologie, die Politik und die Jurisprudenz, sie
dienten alle der Aufklärung, bis die Romantiker dem sich überlebenden „Auf-
kläricht" eines Philisters wie Nicolai ein Ende machten und den allgemeinen
Geschmack in eine andre Richtung lenkten. Auch der Gemeingeist ganzer Epochen
pflegt ebenso einseitig wie die Begabung eines einzelnen Menschen zu sein; da
ist die gesamte geistige Thätigkeit der ganzen Kulturwelt in eine bestimmte
Richtung gelenkt, der auch die entferntesten Zweige der Forschung, die scheinbar
einsamsten Denker dienen. Und ebenso ist es mit dem Geiste der Epoche, in
der wir leben und der in dem Worte „Realismus" sein Kennzeiche» gefunden hat.
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