Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Erstes Quartal.Gedanken über Geschichte und Geschichtschreibung. der Gegenwart, sagt Droysen, ist el" gewordner. Was er war und wie er Zu Anfang unsers Jahrhunderts hatte die Philosophie den ersten Rang Gedanken über Geschichte und Geschichtschreibung. der Gegenwart, sagt Droysen, ist el» gewordner. Was er war und wie er Zu Anfang unsers Jahrhunderts hatte die Philosophie den ersten Rang <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0307" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/197731"/> <fw type="header" place="top"> Gedanken über Geschichte und Geschichtschreibung.</fw><lb/> <p xml:id="ID_917" prev="#ID_916"> der Gegenwart, sagt Droysen, ist el» gewordner. Was er war und wie er<lb/> wurde, ist vergangen; aber seine Vergangenheit ist ideell in ihm. Aber mir<lb/> ideell, erloschene Züge, latente Scheine; unbewußt sind sie da, als wären<lb/> sie nicht da. Der forschende Blick, der Blick der Forschung vermag sie<lb/> zu erwecken, wieder aufleben, in das leere Dunkel der Vergangenheiten zurück-<lb/> leuchtcn zu lassen. Nicht die Vergangenheiten werden hell, sondern was von<lb/> ihnen noch uuvergangen ist. Diese erweckten Scheine sind ideell die Ver¬<lb/> gangenheit, sind das geistige Gegenbild der Vergangenheit." Je nach seiner<lb/> Natur- oder Weltanschauung wird um der Geschichtschreiber mit mehr oder<lb/> weniger Wärme und persönlicher Teilnahme in die Werkstätte eintreten, wo die<lb/> Menschenschicksale erzählt und erklärt werden. Und so kommen wir wieder ans<lb/> den frühern Ausspruch zurück, daß die Geschichtschreibung zugleich Kunst und<lb/> Wissenschaft sei. Der echte Historiker muß wie ein schöpferischer Künstler die<lb/> Außendinge in seine Seele eindringen lassen und sie verklärt und veredelt<lb/> zurückstrahlen. Ein Geschichtswerk muß das wirkliche Leben treu und wahrhaft<lb/> darstellen, dasselbe aber zugleich mit Künstlerhand und mit liebevoller Vertiefung<lb/> in die reiche Menschenwelt schöpferisch neu gestalten. Wenn Ranke einmal seine<lb/> Methode mit den kurzen Worten bezeichnet, er wolle „bloß zeigen, wie es<lb/> eigentlich gewesen," so hat er sich selbst nicht überall an die beschränkte Auf¬<lb/> fassung gehalten. Ranke bezeichnete einst in einer Festrede den Unterschied<lb/> zwischen der deutschen und der fremden Geschichtschreibung dahin, daß die fremde<lb/> mehr den Moment ins Auge fasse, nährend die deutsche nach Universalität strebe.<lb/> Damit ist der Charakter und die Richtung der Historiographie unsrer Zeit<lb/> richtig angedeutet. Das Ausland beschäftigt sich mehr mit der eignen Lcmdes-<lb/> uud Volksgeschichte und einzelnen Epochen und Momenten derselben; die deutsche<lb/> Geschichtschreibung strebt nach einem höhern Ziel und weitern Horizont: sie faßt<lb/> die Menschheit als ein Ganzes und betrachtet die einzelnen Nationen stets als<lb/> Glieder des Universums. Die „Weltgeschichte" ist eine deutsche Schöpfung, mag<lb/> man sie als Philosophie der Geschichte fassen und in deu Erscheinungen die<lb/> Gesetze und Prinzipien erforschen, mag man in der Darstellung des geschicht¬<lb/> lichen Gesamtlebens das pragmatische Zusammenwirken der Einzelglieder und<lb/> die Kausalität zu begreifen suchen. Diese Richtung der Historiographie auf das<lb/> Allgemeine entspricht sowohl der germanischen Natur als der philosophischen<lb/> Bildung und wird durch die geographische Lage Deutschlands begünstigt.</p><lb/> <p xml:id="ID_918" next="#ID_919"> Zu Anfang unsers Jahrhunderts hatte die Philosophie den ersten Rang<lb/> unter den Wissenschaften, und wenn sie sich auch nicht auf dieser Höhe zu er¬<lb/> halten vermochte, als insbesondre die Naturwissenschaft sich selbständig machte<lb/> und andre Forschnngswege einschlug, so ist doch ein Zug nach Ergründung der<lb/> letzten Dinge, nach einer metaphysischen Systematik der Natur- wie der Geistes¬<lb/> wissenschafte!, inhärent geblieben. Namentlich ist in der Geschichtschreibung die<lb/> Idee der Menschheit stets als strahlender Anfangs- und Ausgangspunkt alles</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0307]
Gedanken über Geschichte und Geschichtschreibung.
der Gegenwart, sagt Droysen, ist el» gewordner. Was er war und wie er
wurde, ist vergangen; aber seine Vergangenheit ist ideell in ihm. Aber mir
ideell, erloschene Züge, latente Scheine; unbewußt sind sie da, als wären
sie nicht da. Der forschende Blick, der Blick der Forschung vermag sie
zu erwecken, wieder aufleben, in das leere Dunkel der Vergangenheiten zurück-
leuchtcn zu lassen. Nicht die Vergangenheiten werden hell, sondern was von
ihnen noch uuvergangen ist. Diese erweckten Scheine sind ideell die Ver¬
gangenheit, sind das geistige Gegenbild der Vergangenheit." Je nach seiner
Natur- oder Weltanschauung wird um der Geschichtschreiber mit mehr oder
weniger Wärme und persönlicher Teilnahme in die Werkstätte eintreten, wo die
Menschenschicksale erzählt und erklärt werden. Und so kommen wir wieder ans
den frühern Ausspruch zurück, daß die Geschichtschreibung zugleich Kunst und
Wissenschaft sei. Der echte Historiker muß wie ein schöpferischer Künstler die
Außendinge in seine Seele eindringen lassen und sie verklärt und veredelt
zurückstrahlen. Ein Geschichtswerk muß das wirkliche Leben treu und wahrhaft
darstellen, dasselbe aber zugleich mit Künstlerhand und mit liebevoller Vertiefung
in die reiche Menschenwelt schöpferisch neu gestalten. Wenn Ranke einmal seine
Methode mit den kurzen Worten bezeichnet, er wolle „bloß zeigen, wie es
eigentlich gewesen," so hat er sich selbst nicht überall an die beschränkte Auf¬
fassung gehalten. Ranke bezeichnete einst in einer Festrede den Unterschied
zwischen der deutschen und der fremden Geschichtschreibung dahin, daß die fremde
mehr den Moment ins Auge fasse, nährend die deutsche nach Universalität strebe.
Damit ist der Charakter und die Richtung der Historiographie unsrer Zeit
richtig angedeutet. Das Ausland beschäftigt sich mehr mit der eignen Lcmdes-
uud Volksgeschichte und einzelnen Epochen und Momenten derselben; die deutsche
Geschichtschreibung strebt nach einem höhern Ziel und weitern Horizont: sie faßt
die Menschheit als ein Ganzes und betrachtet die einzelnen Nationen stets als
Glieder des Universums. Die „Weltgeschichte" ist eine deutsche Schöpfung, mag
man sie als Philosophie der Geschichte fassen und in deu Erscheinungen die
Gesetze und Prinzipien erforschen, mag man in der Darstellung des geschicht¬
lichen Gesamtlebens das pragmatische Zusammenwirken der Einzelglieder und
die Kausalität zu begreifen suchen. Diese Richtung der Historiographie auf das
Allgemeine entspricht sowohl der germanischen Natur als der philosophischen
Bildung und wird durch die geographische Lage Deutschlands begünstigt.
Zu Anfang unsers Jahrhunderts hatte die Philosophie den ersten Rang
unter den Wissenschaften, und wenn sie sich auch nicht auf dieser Höhe zu er¬
halten vermochte, als insbesondre die Naturwissenschaft sich selbständig machte
und andre Forschnngswege einschlug, so ist doch ein Zug nach Ergründung der
letzten Dinge, nach einer metaphysischen Systematik der Natur- wie der Geistes¬
wissenschafte!, inhärent geblieben. Namentlich ist in der Geschichtschreibung die
Idee der Menschheit stets als strahlender Anfangs- und Ausgangspunkt alles
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