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Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Erstes Quartal.

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Gedanken über Geschichte und Geschichtschreibung.

der Schweizerischen Eidgenossenschaft" ein Beispiel aufgestellt hatte, wie man
aus dein überlieferte" Qucllenmaterial, ans Urkunden und Traditionen eine
Landesgeschichte aufbaue", ein Volk, das durch Abstammung, Sprache, Religion
und Lebensgewohnheiten auseinander geht, zu einem Nationalganzen gestalten
und ans einer Menge partikularer Bestandteile ""d getrennter Gemeinheiten
einen Staat schaffen könne, trug er zugleich der Richtung der Zeit Rechnung,
indem er in den "Vierundzwanzig Büchern Allgemeiner Geschichten, besonders
der Europäischen Menschheit" einen höhern Ton anschlug, auf einen weiter"
Horizont hinwies. Die Geschichtschreibung würde sich in einem Trümmerfelde
von Monographien, in einer ungeordneten und unzusammenhängenden Musse
von Memoiren und 'Biographien, von Städte- und Ländergeschichten irre-
lichterirend umhertreiben, wen" nicht die losen Elemente durch ein festes Gefüge
zusammengeschmiedet, die wandelbaren Einzelglieder durch den beharrenden Geist
der Menschheit verbunden würden, um die Wahrheit des Spruches zu be¬
weisen: Und ob alles im ewigen Wechsel kreist, es beharret im Wechsel ein
ewiger Geist.

Auf den Schultern von Johannes Müller stehen Niebuhr und Ranke, und
selbst Fr. Chr. Schlosser konnte sich seinem Einfluß nicht entziehen, so sehr
auch der strenge historische Moralist bei jeder Gelegenheit scharfe Hiebe gegen
den "deutschen Thukydides" führte. Mit diesen Namen haben wir die Häupter
und Fahnenträger der modernen Historiographie bezeichnet, welche, wenn auch
nicht jeder einzeln, so doch in ihrer Gesamtheit, die Kriterien und Beispiele für jede
solide Geschichtschreibung aufstellten. Für die Behandlung der Geschichte des
Altertums hat Niebuhr, Gibbons Spuren folgend, die richtige Methode ge¬
schaffen, an Rankes "Geschichte der Päpste" und "Deutsche Geschichte im
Zeitalter der Reformation" reicht kaum ein andres Geschichtswerk heran, sei es,
wie bei dem ersten, an romantisch-tiinstlerischer Auffassung und Darstellung, sei
es, wie bei demi letztern, an solider Verarbeitung eiues spröden Stoffes zu einem
Gemälde mit dramatischer Lebensfrische, und Schlossers "Geschichte des achtzehnten
Jahrhunderts" war vier Jahrzehnte lang die praktische Morallehre für das
deutsche Volk aus freiiniitigem Munde und mannhafter Seele. Man hat
Schlosser und Ranke in einen Gegensatz zu stellen gesucht durch die Bezeichnung
subjektiver und objektiver Geschichtschreibung. Aber dieser Gegensatz ist, wie
wir schon früher angedeutet haben, mehr der Ausfluß verschiedenartiger Per¬
sönlichkeiten, die Wirkung eines lebhafter" oder ruhigern Temperaments, als
einer bewußten absichtlichen Methode und Betrachtungsweise.

Der Historiker steht nicht wie der Naturforscher einem fremde" Organismus
gegenüber; er ist selbst ein Teil der Menschenwelt, die er darzustellen unter¬
nimmt, die Gegenwart ist nur eine fortlebende, sich neugestaltende und ent¬
wickelnde Vergangenheit: was den Vätern widerfahren ist, was die Vorzeit
geschaffen hat, geht auch die Söhne und die Nachwelt an. "Jeder Punkt in


Gedanken über Geschichte und Geschichtschreibung.

der Schweizerischen Eidgenossenschaft" ein Beispiel aufgestellt hatte, wie man
aus dein überlieferte» Qucllenmaterial, ans Urkunden und Traditionen eine
Landesgeschichte aufbaue», ein Volk, das durch Abstammung, Sprache, Religion
und Lebensgewohnheiten auseinander geht, zu einem Nationalganzen gestalten
und ans einer Menge partikularer Bestandteile »»d getrennter Gemeinheiten
einen Staat schaffen könne, trug er zugleich der Richtung der Zeit Rechnung,
indem er in den „Vierundzwanzig Büchern Allgemeiner Geschichten, besonders
der Europäischen Menschheit" einen höhern Ton anschlug, auf einen weiter«
Horizont hinwies. Die Geschichtschreibung würde sich in einem Trümmerfelde
von Monographien, in einer ungeordneten und unzusammenhängenden Musse
von Memoiren und 'Biographien, von Städte- und Ländergeschichten irre-
lichterirend umhertreiben, wen» nicht die losen Elemente durch ein festes Gefüge
zusammengeschmiedet, die wandelbaren Einzelglieder durch den beharrenden Geist
der Menschheit verbunden würden, um die Wahrheit des Spruches zu be¬
weisen: Und ob alles im ewigen Wechsel kreist, es beharret im Wechsel ein
ewiger Geist.

Auf den Schultern von Johannes Müller stehen Niebuhr und Ranke, und
selbst Fr. Chr. Schlosser konnte sich seinem Einfluß nicht entziehen, so sehr
auch der strenge historische Moralist bei jeder Gelegenheit scharfe Hiebe gegen
den „deutschen Thukydides" führte. Mit diesen Namen haben wir die Häupter
und Fahnenträger der modernen Historiographie bezeichnet, welche, wenn auch
nicht jeder einzeln, so doch in ihrer Gesamtheit, die Kriterien und Beispiele für jede
solide Geschichtschreibung aufstellten. Für die Behandlung der Geschichte des
Altertums hat Niebuhr, Gibbons Spuren folgend, die richtige Methode ge¬
schaffen, an Rankes „Geschichte der Päpste" und „Deutsche Geschichte im
Zeitalter der Reformation" reicht kaum ein andres Geschichtswerk heran, sei es,
wie bei dem ersten, an romantisch-tiinstlerischer Auffassung und Darstellung, sei
es, wie bei demi letztern, an solider Verarbeitung eiues spröden Stoffes zu einem
Gemälde mit dramatischer Lebensfrische, und Schlossers „Geschichte des achtzehnten
Jahrhunderts" war vier Jahrzehnte lang die praktische Morallehre für das
deutsche Volk aus freiiniitigem Munde und mannhafter Seele. Man hat
Schlosser und Ranke in einen Gegensatz zu stellen gesucht durch die Bezeichnung
subjektiver und objektiver Geschichtschreibung. Aber dieser Gegensatz ist, wie
wir schon früher angedeutet haben, mehr der Ausfluß verschiedenartiger Per¬
sönlichkeiten, die Wirkung eines lebhafter» oder ruhigern Temperaments, als
einer bewußten absichtlichen Methode und Betrachtungsweise.

Der Historiker steht nicht wie der Naturforscher einem fremde» Organismus
gegenüber; er ist selbst ein Teil der Menschenwelt, die er darzustellen unter¬
nimmt, die Gegenwart ist nur eine fortlebende, sich neugestaltende und ent¬
wickelnde Vergangenheit: was den Vätern widerfahren ist, was die Vorzeit
geschaffen hat, geht auch die Söhne und die Nachwelt an. „Jeder Punkt in


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[0306] Gedanken über Geschichte und Geschichtschreibung. der Schweizerischen Eidgenossenschaft" ein Beispiel aufgestellt hatte, wie man aus dein überlieferte» Qucllenmaterial, ans Urkunden und Traditionen eine Landesgeschichte aufbaue», ein Volk, das durch Abstammung, Sprache, Religion und Lebensgewohnheiten auseinander geht, zu einem Nationalganzen gestalten und ans einer Menge partikularer Bestandteile »»d getrennter Gemeinheiten einen Staat schaffen könne, trug er zugleich der Richtung der Zeit Rechnung, indem er in den „Vierundzwanzig Büchern Allgemeiner Geschichten, besonders der Europäischen Menschheit" einen höhern Ton anschlug, auf einen weiter« Horizont hinwies. Die Geschichtschreibung würde sich in einem Trümmerfelde von Monographien, in einer ungeordneten und unzusammenhängenden Musse von Memoiren und 'Biographien, von Städte- und Ländergeschichten irre- lichterirend umhertreiben, wen» nicht die losen Elemente durch ein festes Gefüge zusammengeschmiedet, die wandelbaren Einzelglieder durch den beharrenden Geist der Menschheit verbunden würden, um die Wahrheit des Spruches zu be¬ weisen: Und ob alles im ewigen Wechsel kreist, es beharret im Wechsel ein ewiger Geist. Auf den Schultern von Johannes Müller stehen Niebuhr und Ranke, und selbst Fr. Chr. Schlosser konnte sich seinem Einfluß nicht entziehen, so sehr auch der strenge historische Moralist bei jeder Gelegenheit scharfe Hiebe gegen den „deutschen Thukydides" führte. Mit diesen Namen haben wir die Häupter und Fahnenträger der modernen Historiographie bezeichnet, welche, wenn auch nicht jeder einzeln, so doch in ihrer Gesamtheit, die Kriterien und Beispiele für jede solide Geschichtschreibung aufstellten. Für die Behandlung der Geschichte des Altertums hat Niebuhr, Gibbons Spuren folgend, die richtige Methode ge¬ schaffen, an Rankes „Geschichte der Päpste" und „Deutsche Geschichte im Zeitalter der Reformation" reicht kaum ein andres Geschichtswerk heran, sei es, wie bei dem ersten, an romantisch-tiinstlerischer Auffassung und Darstellung, sei es, wie bei demi letztern, an solider Verarbeitung eiues spröden Stoffes zu einem Gemälde mit dramatischer Lebensfrische, und Schlossers „Geschichte des achtzehnten Jahrhunderts" war vier Jahrzehnte lang die praktische Morallehre für das deutsche Volk aus freiiniitigem Munde und mannhafter Seele. Man hat Schlosser und Ranke in einen Gegensatz zu stellen gesucht durch die Bezeichnung subjektiver und objektiver Geschichtschreibung. Aber dieser Gegensatz ist, wie wir schon früher angedeutet haben, mehr der Ausfluß verschiedenartiger Per¬ sönlichkeiten, die Wirkung eines lebhafter» oder ruhigern Temperaments, als einer bewußten absichtlichen Methode und Betrachtungsweise. Der Historiker steht nicht wie der Naturforscher einem fremde» Organismus gegenüber; er ist selbst ein Teil der Menschenwelt, die er darzustellen unter¬ nimmt, die Gegenwart ist nur eine fortlebende, sich neugestaltende und ent¬ wickelnde Vergangenheit: was den Vätern widerfahren ist, was die Vorzeit geschaffen hat, geht auch die Söhne und die Nachwelt an. „Jeder Punkt in

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341843_197423/306>, abgerufen am 05.02.2025.