Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Erstes Quartal.

Bild:
<< vorherige Seite
parlamentarische Betrachtungen.

tirungen noch mannichfaltiger als in jedem andern Lande. So sehr nun auch
diese Gruppen, ihre Sektionen und Fraktionen von einander abweichen, so
stehen sie doch auf dem Boden des neugeschaffenen Reiches, und selbst die Fort¬
schrittspartei, welche der Entstehung dieses Reiches alle möglichen Schwierigkeiten
entgegensetzte und seit dem Beginn in verbohrter und verblendeter Theorie den
Schöpfern desselben einen unnatürlichen und verbissenen Widerstand bereitet, er¬
kennt die Existenz des Reiches an. Dagegen hat sich eine numerisch starke
dritte Partei aufzuthun vermocht, welche lediglich Sondcriuteressen verfolgt und
für die Erreichung derselben kein Mittel scheut. Es wäre sehr gut denkbar,
wenn in kirchlichen Angelegenheiten die Mitglieder des Parlaments ihre be¬
stimmten Ziele verfolgten, ohne daß dadurch die staatlichen Interessen, soweit
sie mit den Kircheufragen nicht zusammenhängen, berührt würden. Allein von
Anfang an geriet das Zentrum unter welfisch-jesuitische Führerschaft, welche bald
jeden patriotischen Gesichtspunkt zu beseitigen verstand. Das Zentrum bildet
eine Art weltlichen Jesuitenordens, in welchem der Einzelne sich unbedingt der
Führerschaft zu unterwerfen hat, und diese richtet ihre Politik ausschließlich uach
jesuitischen und welsischen Anweisungen. Daher kommt es auch, daß, während
sich die deutsche Regierung mit der Kurie in dem verhältnismäßig besten Ein¬
vernehmen befindet, das Zentrum seinen Kampf fortsetzt, denn bekanntlich ist der
schwarze (Jesuiten-) Papst noch mächtiger als der nominelle Inhaber des päpstlichen
Stuhles. Zu dieser die Interessen des Reiches befehdenden Partei sammelt sich
die nicht unbedeutende Zahl derjenigen Abgeordneten, welche überhaupt nur
widerwillig Deutsche sind und jede Gelegenheit abwarten, um von dem Reiche
abzufallen: Dänen, Welsen, Elsässer, Polen. Zusammen giebt dies eine so statt¬
liche Zahl, daß das Zentrum und sein Anhang in jeder Frage maßgebend ist,
und zur mächtigen Mehrheit anschwillt, wenn der Bismarckhaß Richters und
seiner Gefolgschaft keine Scheu trägt, Schleppenträger der reichsfeindlichen Gruppen
zu werden.

Wie denken sich nun die Anhänger des parlamentarischen Regimes die
Möglichkeit, mit einer solchen Mehrheit ein Staatswesen zu leiten? Sie ist
noch schwieriger als in Frankreich oder England, weil einerseits dnrch das
Bundesverhältnis die Dinge viel verwickelter sind und anderseits unsre geo¬
graphische Lage eine Stärkung der Wehrkraft des Reiches unumgänglich not¬
wendig macht.

Die Polendebatte im Reichstage war eine Angelegenheit von eminentester
politischer Bedeutung. Alle Gegner des Reichskanzlers fanden sich einmütig
zusammen, und wenn je, so hat in dieser Frage die kaiserliche Regierung, um
bei den technischen Ausdrücken des parlamentarischen Jargons zu bleiben, eine
"gewaltige Niederlage erlitten." Dieses nämliche Ministerium Bismarck hat aber
in derselben Frage wenige Tage darauf in der preußischen Kammer einen ebenso
glänzenden Sieg errungen. Folgerichtig müßte Fürst Bismarck im Reiche seinen


parlamentarische Betrachtungen.

tirungen noch mannichfaltiger als in jedem andern Lande. So sehr nun auch
diese Gruppen, ihre Sektionen und Fraktionen von einander abweichen, so
stehen sie doch auf dem Boden des neugeschaffenen Reiches, und selbst die Fort¬
schrittspartei, welche der Entstehung dieses Reiches alle möglichen Schwierigkeiten
entgegensetzte und seit dem Beginn in verbohrter und verblendeter Theorie den
Schöpfern desselben einen unnatürlichen und verbissenen Widerstand bereitet, er¬
kennt die Existenz des Reiches an. Dagegen hat sich eine numerisch starke
dritte Partei aufzuthun vermocht, welche lediglich Sondcriuteressen verfolgt und
für die Erreichung derselben kein Mittel scheut. Es wäre sehr gut denkbar,
wenn in kirchlichen Angelegenheiten die Mitglieder des Parlaments ihre be¬
stimmten Ziele verfolgten, ohne daß dadurch die staatlichen Interessen, soweit
sie mit den Kircheufragen nicht zusammenhängen, berührt würden. Allein von
Anfang an geriet das Zentrum unter welfisch-jesuitische Führerschaft, welche bald
jeden patriotischen Gesichtspunkt zu beseitigen verstand. Das Zentrum bildet
eine Art weltlichen Jesuitenordens, in welchem der Einzelne sich unbedingt der
Führerschaft zu unterwerfen hat, und diese richtet ihre Politik ausschließlich uach
jesuitischen und welsischen Anweisungen. Daher kommt es auch, daß, während
sich die deutsche Regierung mit der Kurie in dem verhältnismäßig besten Ein¬
vernehmen befindet, das Zentrum seinen Kampf fortsetzt, denn bekanntlich ist der
schwarze (Jesuiten-) Papst noch mächtiger als der nominelle Inhaber des päpstlichen
Stuhles. Zu dieser die Interessen des Reiches befehdenden Partei sammelt sich
die nicht unbedeutende Zahl derjenigen Abgeordneten, welche überhaupt nur
widerwillig Deutsche sind und jede Gelegenheit abwarten, um von dem Reiche
abzufallen: Dänen, Welsen, Elsässer, Polen. Zusammen giebt dies eine so statt¬
liche Zahl, daß das Zentrum und sein Anhang in jeder Frage maßgebend ist,
und zur mächtigen Mehrheit anschwillt, wenn der Bismarckhaß Richters und
seiner Gefolgschaft keine Scheu trägt, Schleppenträger der reichsfeindlichen Gruppen
zu werden.

Wie denken sich nun die Anhänger des parlamentarischen Regimes die
Möglichkeit, mit einer solchen Mehrheit ein Staatswesen zu leiten? Sie ist
noch schwieriger als in Frankreich oder England, weil einerseits dnrch das
Bundesverhältnis die Dinge viel verwickelter sind und anderseits unsre geo¬
graphische Lage eine Stärkung der Wehrkraft des Reiches unumgänglich not¬
wendig macht.

Die Polendebatte im Reichstage war eine Angelegenheit von eminentester
politischer Bedeutung. Alle Gegner des Reichskanzlers fanden sich einmütig
zusammen, und wenn je, so hat in dieser Frage die kaiserliche Regierung, um
bei den technischen Ausdrücken des parlamentarischen Jargons zu bleiben, eine
„gewaltige Niederlage erlitten." Dieses nämliche Ministerium Bismarck hat aber
in derselben Frage wenige Tage darauf in der preußischen Kammer einen ebenso
glänzenden Sieg errungen. Folgerichtig müßte Fürst Bismarck im Reiche seinen


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0302" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/197726"/>
          <fw type="header" place="top"> parlamentarische Betrachtungen.</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_900" prev="#ID_899"> tirungen noch mannichfaltiger als in jedem andern Lande. So sehr nun auch<lb/>
diese Gruppen, ihre Sektionen und Fraktionen von einander abweichen, so<lb/>
stehen sie doch auf dem Boden des neugeschaffenen Reiches, und selbst die Fort¬<lb/>
schrittspartei, welche der Entstehung dieses Reiches alle möglichen Schwierigkeiten<lb/>
entgegensetzte und seit dem Beginn in verbohrter und verblendeter Theorie den<lb/>
Schöpfern desselben einen unnatürlichen und verbissenen Widerstand bereitet, er¬<lb/>
kennt die Existenz des Reiches an. Dagegen hat sich eine numerisch starke<lb/>
dritte Partei aufzuthun vermocht, welche lediglich Sondcriuteressen verfolgt und<lb/>
für die Erreichung derselben kein Mittel scheut. Es wäre sehr gut denkbar,<lb/>
wenn in kirchlichen Angelegenheiten die Mitglieder des Parlaments ihre be¬<lb/>
stimmten Ziele verfolgten, ohne daß dadurch die staatlichen Interessen, soweit<lb/>
sie mit den Kircheufragen nicht zusammenhängen, berührt würden. Allein von<lb/>
Anfang an geriet das Zentrum unter welfisch-jesuitische Führerschaft, welche bald<lb/>
jeden patriotischen Gesichtspunkt zu beseitigen verstand. Das Zentrum bildet<lb/>
eine Art weltlichen Jesuitenordens, in welchem der Einzelne sich unbedingt der<lb/>
Führerschaft zu unterwerfen hat, und diese richtet ihre Politik ausschließlich uach<lb/>
jesuitischen und welsischen Anweisungen. Daher kommt es auch, daß, während<lb/>
sich die deutsche Regierung mit der Kurie in dem verhältnismäßig besten Ein¬<lb/>
vernehmen befindet, das Zentrum seinen Kampf fortsetzt, denn bekanntlich ist der<lb/>
schwarze (Jesuiten-) Papst noch mächtiger als der nominelle Inhaber des päpstlichen<lb/>
Stuhles. Zu dieser die Interessen des Reiches befehdenden Partei sammelt sich<lb/>
die nicht unbedeutende Zahl derjenigen Abgeordneten, welche überhaupt nur<lb/>
widerwillig Deutsche sind und jede Gelegenheit abwarten, um von dem Reiche<lb/>
abzufallen: Dänen, Welsen, Elsässer, Polen. Zusammen giebt dies eine so statt¬<lb/>
liche Zahl, daß das Zentrum und sein Anhang in jeder Frage maßgebend ist,<lb/>
und zur mächtigen Mehrheit anschwillt, wenn der Bismarckhaß Richters und<lb/>
seiner Gefolgschaft keine Scheu trägt, Schleppenträger der reichsfeindlichen Gruppen<lb/>
zu werden.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_901"> Wie denken sich nun die Anhänger des parlamentarischen Regimes die<lb/>
Möglichkeit, mit einer solchen Mehrheit ein Staatswesen zu leiten? Sie ist<lb/>
noch schwieriger als in Frankreich oder England, weil einerseits dnrch das<lb/>
Bundesverhältnis die Dinge viel verwickelter sind und anderseits unsre geo¬<lb/>
graphische Lage eine Stärkung der Wehrkraft des Reiches unumgänglich not¬<lb/>
wendig macht.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_902" next="#ID_903"> Die Polendebatte im Reichstage war eine Angelegenheit von eminentester<lb/>
politischer Bedeutung. Alle Gegner des Reichskanzlers fanden sich einmütig<lb/>
zusammen, und wenn je, so hat in dieser Frage die kaiserliche Regierung, um<lb/>
bei den technischen Ausdrücken des parlamentarischen Jargons zu bleiben, eine<lb/>
&#x201E;gewaltige Niederlage erlitten." Dieses nämliche Ministerium Bismarck hat aber<lb/>
in derselben Frage wenige Tage darauf in der preußischen Kammer einen ebenso<lb/>
glänzenden Sieg errungen. Folgerichtig müßte Fürst Bismarck im Reiche seinen</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0302] parlamentarische Betrachtungen. tirungen noch mannichfaltiger als in jedem andern Lande. So sehr nun auch diese Gruppen, ihre Sektionen und Fraktionen von einander abweichen, so stehen sie doch auf dem Boden des neugeschaffenen Reiches, und selbst die Fort¬ schrittspartei, welche der Entstehung dieses Reiches alle möglichen Schwierigkeiten entgegensetzte und seit dem Beginn in verbohrter und verblendeter Theorie den Schöpfern desselben einen unnatürlichen und verbissenen Widerstand bereitet, er¬ kennt die Existenz des Reiches an. Dagegen hat sich eine numerisch starke dritte Partei aufzuthun vermocht, welche lediglich Sondcriuteressen verfolgt und für die Erreichung derselben kein Mittel scheut. Es wäre sehr gut denkbar, wenn in kirchlichen Angelegenheiten die Mitglieder des Parlaments ihre be¬ stimmten Ziele verfolgten, ohne daß dadurch die staatlichen Interessen, soweit sie mit den Kircheufragen nicht zusammenhängen, berührt würden. Allein von Anfang an geriet das Zentrum unter welfisch-jesuitische Führerschaft, welche bald jeden patriotischen Gesichtspunkt zu beseitigen verstand. Das Zentrum bildet eine Art weltlichen Jesuitenordens, in welchem der Einzelne sich unbedingt der Führerschaft zu unterwerfen hat, und diese richtet ihre Politik ausschließlich uach jesuitischen und welsischen Anweisungen. Daher kommt es auch, daß, während sich die deutsche Regierung mit der Kurie in dem verhältnismäßig besten Ein¬ vernehmen befindet, das Zentrum seinen Kampf fortsetzt, denn bekanntlich ist der schwarze (Jesuiten-) Papst noch mächtiger als der nominelle Inhaber des päpstlichen Stuhles. Zu dieser die Interessen des Reiches befehdenden Partei sammelt sich die nicht unbedeutende Zahl derjenigen Abgeordneten, welche überhaupt nur widerwillig Deutsche sind und jede Gelegenheit abwarten, um von dem Reiche abzufallen: Dänen, Welsen, Elsässer, Polen. Zusammen giebt dies eine so statt¬ liche Zahl, daß das Zentrum und sein Anhang in jeder Frage maßgebend ist, und zur mächtigen Mehrheit anschwillt, wenn der Bismarckhaß Richters und seiner Gefolgschaft keine Scheu trägt, Schleppenträger der reichsfeindlichen Gruppen zu werden. Wie denken sich nun die Anhänger des parlamentarischen Regimes die Möglichkeit, mit einer solchen Mehrheit ein Staatswesen zu leiten? Sie ist noch schwieriger als in Frankreich oder England, weil einerseits dnrch das Bundesverhältnis die Dinge viel verwickelter sind und anderseits unsre geo¬ graphische Lage eine Stärkung der Wehrkraft des Reiches unumgänglich not¬ wendig macht. Die Polendebatte im Reichstage war eine Angelegenheit von eminentester politischer Bedeutung. Alle Gegner des Reichskanzlers fanden sich einmütig zusammen, und wenn je, so hat in dieser Frage die kaiserliche Regierung, um bei den technischen Ausdrücken des parlamentarischen Jargons zu bleiben, eine „gewaltige Niederlage erlitten." Dieses nämliche Ministerium Bismarck hat aber in derselben Frage wenige Tage darauf in der preußischen Kammer einen ebenso glänzenden Sieg errungen. Folgerichtig müßte Fürst Bismarck im Reiche seinen

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341843_197423
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341843_197423/302
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341843_197423/302>, abgerufen am 05.02.2025.