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Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Erstes Quartal.

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Archäologie und Anschauung.

Beschreibende sie garnicht bemerkt hat oder für nebensächlich hält. Ich rede
dabei noch garnicht von stilistischen Merkmalen, zu deren Erkennung ja schon
ein geübteres Auge gehört. Dies wird natürlich mit der Zeit besser, aber doch
nur bei denen, die an solchen Übungen teilnehmen, und das ist doch immer
nur eine verhältnismäßig kleine Zahl. Die große Menge der Gebildeten aber,
welche sich nicht aus Beruf oder Neigung mit kunsthistorischen Studien be¬
schäftigen, nimmt den Kunstwerken gegenüber ihr ganzes Leben hindurch jenen
Standpunkt ein, wie die genannten Anfänger; und die oft so schiefen Kunst-
nrteile, die man aus dem Munde von Laien hört, ja die große Begeisterung,
welche das große Publikum häufig für Künstler empfindet, von denen der
Kunstverständige nichts wissen will, das Übersehen der ärgsten Vcrzeichnnngen
über blendendem Kolorit oder einer auseinanderfallenden Komposition über
geschickt angelegten Einzelheiten u, dergl. in. -- alles das geht schließlich mehr
oder weniger darauf zurück, daß in der Ausbildung der Schule gerade die An-
schauung am wenigsten geübt zu werden Pflegt.

Brunn macht nun verschiedne beachtenswerte Vorschläge, wie diesem Mangel
im Unterrichte abzuhelfen sei. Er weist zunächst auf den mathematischen Unter¬
richt hin, dessen Aufgabe es ist, die Anschauung zu wecken und auszubilden,
indem er vornehmlich an Modellen und gewissen Hauptformen der Körper ihre
Entstehung, die Gesetze der Flächenbildung u. a. in. darlegt. Nach dieser
Richtung geschieht im allgemeinen zu wenig auf unsern Gymnasien (von den
Realschulen, auf denen es in dieser Hinsicht besser sein mag, kann ich hier nicht
reden). Ich habe Schüler gekannt, welche sich mühsam Stereometrie einpankten
und schließlich auch erlernten, aber niemals eine stereometrischc Zeichnung auf
der Tafel wirklich als Körper sahen; man hatte ihnen aber auch nie das
Modell eines solchen Körpers in Wirklichkeit gezeigt! In dieser Hinsicht könnte
eine in Zürich bestehende Privatunterrichtsanstalt (von F. Beust in Hottinger
bei Zürich) als Muster dienen. Schon von den untern Klassen an lernen hier
die Schüler selbst stereometrische Körper aus Pappe herstellen, anfangs einfache:
Würfel, Pyramiden, Kegel u. s. w., dann aber fortschreitend schwerere, bis zu
den komplizirtesten Polyedern und sonstigen Formen, die dann wieder in Teile
zerlegbar hergestellt werdeu, sodaß die Arbeit an einem solchen Körper niemals
ein mechanisches Kleistern, sondern zugleich ein klares Erkennen der Grund¬
formen ist. Alle diese Körper werden dann auch von dem Schüler wieder nach
Flächeninhalt und Volumen berechnet, sodaß die mathematische Schulung eng
mit der Anschauung verbunden ist. Ich glaube, daß dieser Unterricht gerade
jenen Ansprüchen, welche Brunn stellt, durchaus genügen würde, und möchte
Nachahmung desselben empfehlen; freilich hat man in Deutschland in der Regel
im Vorschulunterrichte nicht so viel Zeit übrig wie bei uns in der Schweiz,
und das Pappen von Körpern dürfte manchen Lehrern als eine verächtliche
Spielerei erscheinen, während es nichts weniger als eine solche ist.


Archäologie und Anschauung.

Beschreibende sie garnicht bemerkt hat oder für nebensächlich hält. Ich rede
dabei noch garnicht von stilistischen Merkmalen, zu deren Erkennung ja schon
ein geübteres Auge gehört. Dies wird natürlich mit der Zeit besser, aber doch
nur bei denen, die an solchen Übungen teilnehmen, und das ist doch immer
nur eine verhältnismäßig kleine Zahl. Die große Menge der Gebildeten aber,
welche sich nicht aus Beruf oder Neigung mit kunsthistorischen Studien be¬
schäftigen, nimmt den Kunstwerken gegenüber ihr ganzes Leben hindurch jenen
Standpunkt ein, wie die genannten Anfänger; und die oft so schiefen Kunst-
nrteile, die man aus dem Munde von Laien hört, ja die große Begeisterung,
welche das große Publikum häufig für Künstler empfindet, von denen der
Kunstverständige nichts wissen will, das Übersehen der ärgsten Vcrzeichnnngen
über blendendem Kolorit oder einer auseinanderfallenden Komposition über
geschickt angelegten Einzelheiten u, dergl. in. — alles das geht schließlich mehr
oder weniger darauf zurück, daß in der Ausbildung der Schule gerade die An-
schauung am wenigsten geübt zu werden Pflegt.

Brunn macht nun verschiedne beachtenswerte Vorschläge, wie diesem Mangel
im Unterrichte abzuhelfen sei. Er weist zunächst auf den mathematischen Unter¬
richt hin, dessen Aufgabe es ist, die Anschauung zu wecken und auszubilden,
indem er vornehmlich an Modellen und gewissen Hauptformen der Körper ihre
Entstehung, die Gesetze der Flächenbildung u. a. in. darlegt. Nach dieser
Richtung geschieht im allgemeinen zu wenig auf unsern Gymnasien (von den
Realschulen, auf denen es in dieser Hinsicht besser sein mag, kann ich hier nicht
reden). Ich habe Schüler gekannt, welche sich mühsam Stereometrie einpankten
und schließlich auch erlernten, aber niemals eine stereometrischc Zeichnung auf
der Tafel wirklich als Körper sahen; man hatte ihnen aber auch nie das
Modell eines solchen Körpers in Wirklichkeit gezeigt! In dieser Hinsicht könnte
eine in Zürich bestehende Privatunterrichtsanstalt (von F. Beust in Hottinger
bei Zürich) als Muster dienen. Schon von den untern Klassen an lernen hier
die Schüler selbst stereometrische Körper aus Pappe herstellen, anfangs einfache:
Würfel, Pyramiden, Kegel u. s. w., dann aber fortschreitend schwerere, bis zu
den komplizirtesten Polyedern und sonstigen Formen, die dann wieder in Teile
zerlegbar hergestellt werdeu, sodaß die Arbeit an einem solchen Körper niemals
ein mechanisches Kleistern, sondern zugleich ein klares Erkennen der Grund¬
formen ist. Alle diese Körper werden dann auch von dem Schüler wieder nach
Flächeninhalt und Volumen berechnet, sodaß die mathematische Schulung eng
mit der Anschauung verbunden ist. Ich glaube, daß dieser Unterricht gerade
jenen Ansprüchen, welche Brunn stellt, durchaus genügen würde, und möchte
Nachahmung desselben empfehlen; freilich hat man in Deutschland in der Regel
im Vorschulunterrichte nicht so viel Zeit übrig wie bei uns in der Schweiz,
und das Pappen von Körpern dürfte manchen Lehrern als eine verächtliche
Spielerei erscheinen, während es nichts weniger als eine solche ist.


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Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341843_197423/183>, abgerufen am 05.02.2025.