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Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Erstes Quartal.

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Archäologie und Anschauung.

es nicht beurteilen. Immerhin weiß ich, daß man in den Gymnasien darauf
bedacht ist, sich kleine Sammlungen guter Photographien nach antiken Vcm-
und Bildwerken anzulegen, daß die Wandtafeln von Launitz und Hölzl an¬
geschafft werden; und daß Menges sehr brauchbarer Vilderatlas zur Einführung
in die antike Kunst (2. Auflage, Leipzig, E. A. Seemann, 1886) schon nach
wenigen Jahren in neuer Auflage erschienen ist, darf sicher auch als Beleg dafür
gelten, daß er seinen Zweck, ein Hilfsbuch für die Schule zu sein, wirklich erfüllt
hat. Mögen diese Hilfsmittel in andern Schulen nun in dieser oder in jener
Weise benutzt werden (an Vorschlägen, in welcher Weise man die Kunst im
Gymnasialunterricht unterbringen soll, hat es ja nicht gefehlt), mag hier der
Geschichtslehrer sie in seinen Unterricht mit hineinziehen, dort der Lehrer der
klassischen Sprachen und wieder anderswo der des Deutschen -- darauf kommt
es nicht an, wenn nur der Gymnasiast, der mit dem Reifezeugnis in der Tasche
zur Hochschule abgeht, wenigstens eine Ahnung von dem hat, was griechische
Kunst heißt, wenn er nur imstande ist, dorische" und ionischen Stil gründlich
zu unterscheiden und mitzusprechen, wenn vom Hermes des Praxiteles oder
der Nike des Paionios die Rede ist, und wenn er vor allen Dingen eine
Ahnung bekommen hat von der Schönheit und Herrlichkeit der griechischen
Kunst.

Um dies Ziel aber wirklich zu erreichen, dazu genügt eine bloße Besprechung,
eine mehr oder weniger kurze Behandlung der Hauptpunkte aus der Kunst¬
geschichte nicht ganz. Was unsern Gymnasiasten und Studenten in den meisten
Fällen abgeht und doch zum vollen Erfassen eines Kunstwerkes unerläßlich ist,
das ist das Vermögen, die Dinge richtig und mit Verständnis anzuschauen.
Über diesen Mangel an Anschauungsvermögen und über die Mittel, die dem
abhelfen können, handelt die treffliche Rede des Altmeisters der Archäologie,
Heinrich Brunn, auf welche hinzuweisen der Zweck dieser Zeiten ist.")

Jeder Lehrer der Archäologie, welcher archäologische Übungen hält, hat
wohl mehr als einmal die Beobachtung gemacht, von welcher Brunn ausgeht,
daß unsre jungen Leute den Formen eines Bildwerkes nicht entfernt dasselbe
Verständnis entgegenbringen wie dem Texte eines Autors. Für diesen sind
sie durch grammatischen und syntaktischen Unterricht hinlänglich vorbereitet und
geschult, für die Anschauung des Bildwerkes garnicht. Läßt man irgendein
Bildwerk, etwa ein einfaches Vasenbild mit mehreren Figuren, beschreiben, so
kann man es oft erleben, daß eine weibliche Figur als männlich bezeichnet
wird, daß deutlich gekennzeichnete Situationen total mißverstanden werden, daß
wichtige Umstände nicht in die Beschreibung aufgenommen werden, weil der



*) Archäologie und Anschauung. Rede an die Studirenden beim Antritte des
Rektorates der Ludwig-Maximilians-Universitttt, gehalten am 2l. November 138S von
Dr. Heinrich von Brunn. München, 1LLS.
Archäologie und Anschauung.

es nicht beurteilen. Immerhin weiß ich, daß man in den Gymnasien darauf
bedacht ist, sich kleine Sammlungen guter Photographien nach antiken Vcm-
und Bildwerken anzulegen, daß die Wandtafeln von Launitz und Hölzl an¬
geschafft werden; und daß Menges sehr brauchbarer Vilderatlas zur Einführung
in die antike Kunst (2. Auflage, Leipzig, E. A. Seemann, 1886) schon nach
wenigen Jahren in neuer Auflage erschienen ist, darf sicher auch als Beleg dafür
gelten, daß er seinen Zweck, ein Hilfsbuch für die Schule zu sein, wirklich erfüllt
hat. Mögen diese Hilfsmittel in andern Schulen nun in dieser oder in jener
Weise benutzt werden (an Vorschlägen, in welcher Weise man die Kunst im
Gymnasialunterricht unterbringen soll, hat es ja nicht gefehlt), mag hier der
Geschichtslehrer sie in seinen Unterricht mit hineinziehen, dort der Lehrer der
klassischen Sprachen und wieder anderswo der des Deutschen — darauf kommt
es nicht an, wenn nur der Gymnasiast, der mit dem Reifezeugnis in der Tasche
zur Hochschule abgeht, wenigstens eine Ahnung von dem hat, was griechische
Kunst heißt, wenn er nur imstande ist, dorische» und ionischen Stil gründlich
zu unterscheiden und mitzusprechen, wenn vom Hermes des Praxiteles oder
der Nike des Paionios die Rede ist, und wenn er vor allen Dingen eine
Ahnung bekommen hat von der Schönheit und Herrlichkeit der griechischen
Kunst.

Um dies Ziel aber wirklich zu erreichen, dazu genügt eine bloße Besprechung,
eine mehr oder weniger kurze Behandlung der Hauptpunkte aus der Kunst¬
geschichte nicht ganz. Was unsern Gymnasiasten und Studenten in den meisten
Fällen abgeht und doch zum vollen Erfassen eines Kunstwerkes unerläßlich ist,
das ist das Vermögen, die Dinge richtig und mit Verständnis anzuschauen.
Über diesen Mangel an Anschauungsvermögen und über die Mittel, die dem
abhelfen können, handelt die treffliche Rede des Altmeisters der Archäologie,
Heinrich Brunn, auf welche hinzuweisen der Zweck dieser Zeiten ist.")

Jeder Lehrer der Archäologie, welcher archäologische Übungen hält, hat
wohl mehr als einmal die Beobachtung gemacht, von welcher Brunn ausgeht,
daß unsre jungen Leute den Formen eines Bildwerkes nicht entfernt dasselbe
Verständnis entgegenbringen wie dem Texte eines Autors. Für diesen sind
sie durch grammatischen und syntaktischen Unterricht hinlänglich vorbereitet und
geschult, für die Anschauung des Bildwerkes garnicht. Läßt man irgendein
Bildwerk, etwa ein einfaches Vasenbild mit mehreren Figuren, beschreiben, so
kann man es oft erleben, daß eine weibliche Figur als männlich bezeichnet
wird, daß deutlich gekennzeichnete Situationen total mißverstanden werden, daß
wichtige Umstände nicht in die Beschreibung aufgenommen werden, weil der



*) Archäologie und Anschauung. Rede an die Studirenden beim Antritte des
Rektorates der Ludwig-Maximilians-Universitttt, gehalten am 2l. November 138S von
Dr. Heinrich von Brunn. München, 1LLS.
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341843_197423/182>, abgerufen am 05.02.2025.