Die Grenzboten. Jg. 45, 1886, Erstes Quartal.Kayins Hcrdcrbiographn>, der in den größten Verhältnissen angelegten Biographie noch sieben Jahre Kayins Hcrdcrbiographn>, der in den größten Verhältnissen angelegten Biographie noch sieben Jahre <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0130" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/197554"/> <fw type="header" place="top"> Kayins Hcrdcrbiographn>,</fw><lb/> <p xml:id="ID_380" prev="#ID_379" next="#ID_381"> der in den größten Verhältnissen angelegten Biographie noch sieben Jahre<lb/> gebraucht hat. Nach der Seite mancher Erkenntnisse hin ist die langsamere<lb/> Bollendnng dein Buche förderlich und in Bezug auf die Hauptsache, den ein¬<lb/> heitlichen Ton, den freien Fluß der Darstellung wenigstens nicht schädlich ge¬<lb/> wesen. Haym hat mit einem lebendigen Bilde seines Helden in der Seele ge¬<lb/> arbeitet, der Anreiz, die mächtige, aber keineswegs leicht zu verstehende Natur<lb/> Herders aus der Wechselwirkung ihrer Anlagen und der Verhältnisse zu be¬<lb/> greifen, in ihren mannichfachen Wandlungen und Irrtümern ganz zu verstehen,<lb/> hat ihn auch bei der Schilderung jener letzten Periode des Hcrderschen Lebens<lb/> und Wirkens nicht verlassen, an welcher Charakterdarsteller und Kritiker scheu<lb/> vorüberzuhuschen pflegen. Hayms erste Bücher geben eine so gründliche und<lb/> erschöpfende Jugendgeschichte Herders, weisen den Wurm, der in Herders<lb/> Seele nagte, und den Widerspruch, der in seiner Entwicklung vorhanden war,<lb/> in so früher Zeit nach, daß alles Folgende nnr als Konsequenz dieser Voraus¬<lb/> setzungen erscheint. Das spätere Zerwürfnis Herders mit feinem größten Freunde,<lb/> mit Goethe, die verbitterte Jsolirung, in welche er im letzten Jahrzehnte seines<lb/> Lebens gesetzt war, wirken darum nicht minder erschütternd und tragisch, weil<lb/> wir sie, den leisen Winken des Biographen folgend, schon lange zuvor nahen<lb/> sehen. Wunderbar fein entwickelt Haym aus den ersten Autorenerlebnissen<lb/> Herders, die in die Tage feiner Rigacr Wirksamkeit fallen, die Unvermeidlichkeit<lb/> der spätern innern und äußern Kämpfe, erschöpfend weist er bereits in den An¬<lb/> fängen seiner Bildung und seinen ältesten Schriften den Keim der Anschauung<lb/> uach, durch welche der große Vorläufer der neuen deutschen Poesie in einen<lb/> Feind der Meisterschöpfungen eben dieser Poesie verwandelt wurde. „Wohl<lb/> lebte in ihm, heißt es Bd. 1, S. 160, das Bedürfnis nach echter, ursprüng¬<lb/> licher, freiwillig und unmittelbar der Brust entströmender Poesie, wie kaum in<lb/> einem zweiten seiner Zeitgenossen. Allein ein schöpferisches Genie war nötig,<lb/> um den Punkt zu treffen, wo seine Forderungen erfüllt, dies sein Bedürfnis<lb/> befriedigt werden konnte. Er selbst verlegte die Verwirklichung der Idee, die<lb/> ihm als Ahnung vorschwebte, an einen falschen Ort. Mit Recht sah er sich<lb/> nach einem Gedichte um. »das alle Saiten des menschlichen Herzens treffe»<lb/> müßte,« das »die größte Höhe des poetischen Genies in unsrer Stufe der Kultur<lb/> und die originalste Ausgabe der menschlichen Seele wäre.« Auf dem Boden<lb/> der Lyrik, wohin ihn seine Theorie des Liedes und sein Geschmack für Volks¬<lb/> lieder, und auf dem Boden des Dramas, wohin ihn seine Shakespearestudien<lb/> wiesen, hätte er es suchen sollen. Er suchte es auf dem Boden der didaktischen<lb/> Dichtung und in der unmittelbaren Nähe der Philosophie. Er verwechselte die<lb/> ticfinnerliche, seelische Wirkung und den seelischen Ursprung der Poesie mit dem<lb/> aus dem Seelenleben zu schöpfenden Stoffe der Dichtung. Er zweifelte nicht, daß<lb/> eine solche Dichtung ergreifender sein würde als Epopöe oder Drama, die<lb/> immer nnr eine oder wenige Saiten des Herzens anrühren können. Als ob</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0130]
Kayins Hcrdcrbiographn>,
der in den größten Verhältnissen angelegten Biographie noch sieben Jahre
gebraucht hat. Nach der Seite mancher Erkenntnisse hin ist die langsamere
Bollendnng dein Buche förderlich und in Bezug auf die Hauptsache, den ein¬
heitlichen Ton, den freien Fluß der Darstellung wenigstens nicht schädlich ge¬
wesen. Haym hat mit einem lebendigen Bilde seines Helden in der Seele ge¬
arbeitet, der Anreiz, die mächtige, aber keineswegs leicht zu verstehende Natur
Herders aus der Wechselwirkung ihrer Anlagen und der Verhältnisse zu be¬
greifen, in ihren mannichfachen Wandlungen und Irrtümern ganz zu verstehen,
hat ihn auch bei der Schilderung jener letzten Periode des Hcrderschen Lebens
und Wirkens nicht verlassen, an welcher Charakterdarsteller und Kritiker scheu
vorüberzuhuschen pflegen. Hayms erste Bücher geben eine so gründliche und
erschöpfende Jugendgeschichte Herders, weisen den Wurm, der in Herders
Seele nagte, und den Widerspruch, der in seiner Entwicklung vorhanden war,
in so früher Zeit nach, daß alles Folgende nnr als Konsequenz dieser Voraus¬
setzungen erscheint. Das spätere Zerwürfnis Herders mit feinem größten Freunde,
mit Goethe, die verbitterte Jsolirung, in welche er im letzten Jahrzehnte seines
Lebens gesetzt war, wirken darum nicht minder erschütternd und tragisch, weil
wir sie, den leisen Winken des Biographen folgend, schon lange zuvor nahen
sehen. Wunderbar fein entwickelt Haym aus den ersten Autorenerlebnissen
Herders, die in die Tage feiner Rigacr Wirksamkeit fallen, die Unvermeidlichkeit
der spätern innern und äußern Kämpfe, erschöpfend weist er bereits in den An¬
fängen seiner Bildung und seinen ältesten Schriften den Keim der Anschauung
uach, durch welche der große Vorläufer der neuen deutschen Poesie in einen
Feind der Meisterschöpfungen eben dieser Poesie verwandelt wurde. „Wohl
lebte in ihm, heißt es Bd. 1, S. 160, das Bedürfnis nach echter, ursprüng¬
licher, freiwillig und unmittelbar der Brust entströmender Poesie, wie kaum in
einem zweiten seiner Zeitgenossen. Allein ein schöpferisches Genie war nötig,
um den Punkt zu treffen, wo seine Forderungen erfüllt, dies sein Bedürfnis
befriedigt werden konnte. Er selbst verlegte die Verwirklichung der Idee, die
ihm als Ahnung vorschwebte, an einen falschen Ort. Mit Recht sah er sich
nach einem Gedichte um. »das alle Saiten des menschlichen Herzens treffe»
müßte,« das »die größte Höhe des poetischen Genies in unsrer Stufe der Kultur
und die originalste Ausgabe der menschlichen Seele wäre.« Auf dem Boden
der Lyrik, wohin ihn seine Theorie des Liedes und sein Geschmack für Volks¬
lieder, und auf dem Boden des Dramas, wohin ihn seine Shakespearestudien
wiesen, hätte er es suchen sollen. Er suchte es auf dem Boden der didaktischen
Dichtung und in der unmittelbaren Nähe der Philosophie. Er verwechselte die
ticfinnerliche, seelische Wirkung und den seelischen Ursprung der Poesie mit dem
aus dem Seelenleben zu schöpfenden Stoffe der Dichtung. Er zweifelte nicht, daß
eine solche Dichtung ergreifender sein würde als Epopöe oder Drama, die
immer nnr eine oder wenige Saiten des Herzens anrühren können. Als ob
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