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Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Viertes Quartal.

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Die proportionale Berufsklassenwcchl.

Verband der Berufsgenossen zur Basis hat. Ohne daß das allgemeine und
direkte Stimmrecht eine Beeinträchtigung erführe, fände nur eine veränderte
Gruppirung der Wähler statt. Die Lokalinteressen würden hinter die Berufs¬
interessen zurücktreten und Koalitionen einzelner Wähler zum Schutze der ersteren
nur da ausführbar sein, wo, wie z. B. auf dem Lande oder in industriellen
Genossenschaften, eine große Anzahl von Mitgliedern ein- und derselben Berufs¬
klasse nebeneinander wohnen.

Es muß aber zu dieser Verschiebung der Wählermassen noch eine weitere
Modifikation hinzutreten, indem das neue Wahlrecht die Forderung stellt, daß
die sechs großen Bcrufskategorien durch eigne Mitglieder vertreten werden.
Darnach würden zwei neue Wahlsysteme möglich sein.

1. Jede Berufsklasse stellt die ihr zugewiesene Anzahl von Abgeordneten
und wählt dazu beliebige Personen aus dem Bereiche aller deutschen Staats¬
angehörigen, welche das passive Wahlrecht besitzen. Die landwirtschaftlichen
Wähler können sich z. B. durch Beamte, Anwälte oder Kaufleute vertreten
lassen u. f. w.

2. Jede Berufsklasse stellt die gleiche Anzahl Vertreter wie bei 1, aber
aus dem Kreise der eignen Berufsgenossenschaft heraus. Diese Bestimmung
erweist sich somit als eine Beschränkung des passiven Wahlrechtes. Die Land¬
wirtschaft kann nur durch Landwirte, die Industrie nur durch Gewerbetreibende
vertreten werden u. s. w.

Der erstere Wcchlmodns ließe das aktive wie passive Wahlrecht durchaus
in demselben Umfange bestehen, wie dasselbe gegenwärtig ausgeübt wird. Die
auch jetzt vorhandnen gesetzlichen Beschränkungen könnten genau dieselben bleiben.
Es könnte sich nun, da die Wahl der Kandidaten nicht an die Ausübung eines
bestimmten Berufes gebunden ist, ereignen, daß ein auf diese Weise gewählter
Reichstag hinsichtlich des Berufsstandes seiner Mitglieder dieselben Ziffern auf¬
wiese wie der gegenwärtig tagende. Der äußere Anblick der parlamentarischen
Körperschaft wäre in beiden Fällen der gleiche; es könnte sich in demselben auch
ferner eine überwiegend große Anzahl von Juristen und Beamten und eine
verhältnismäßig geringe Zahl von Handel- und Gewerbetreibenden befinden.
Aber dießc äußere Übereinstimmung wäre nur eine scheinbare, die Motive, welche
der Mandatserteilung zu gründe lägen, wären in beiden Fällen durchaus ver¬
schiedene, und auf diese Motive kommt es an. Die heute im Reichstage sitzenden
130 Landwirte sind keineswegs Vertreter der Landwirtschaft, ebensowenig wie
die andern Mitglieder ihre Sitze einem Mandat ihrer Berufsgenossen verdanken.
Die Zusammensetzung des heutigen Reichstages nach der Berufsatt seiner Mit¬
glieder ist eine rein zufällige. Selbst wenn auch jetzt anstatt der 130 Landwirte
auch die 174 der Kolumne V auf den Bänken des Sitzungssaales Platz
nähmen, wäre damit die Forderung einer Proportionellen Vertretung nach Beruf
keineswegs erfüllt. Diese kann nur dann zum vollen und dauernden Ausdruck


Die proportionale Berufsklassenwcchl.

Verband der Berufsgenossen zur Basis hat. Ohne daß das allgemeine und
direkte Stimmrecht eine Beeinträchtigung erführe, fände nur eine veränderte
Gruppirung der Wähler statt. Die Lokalinteressen würden hinter die Berufs¬
interessen zurücktreten und Koalitionen einzelner Wähler zum Schutze der ersteren
nur da ausführbar sein, wo, wie z. B. auf dem Lande oder in industriellen
Genossenschaften, eine große Anzahl von Mitgliedern ein- und derselben Berufs¬
klasse nebeneinander wohnen.

Es muß aber zu dieser Verschiebung der Wählermassen noch eine weitere
Modifikation hinzutreten, indem das neue Wahlrecht die Forderung stellt, daß
die sechs großen Bcrufskategorien durch eigne Mitglieder vertreten werden.
Darnach würden zwei neue Wahlsysteme möglich sein.

1. Jede Berufsklasse stellt die ihr zugewiesene Anzahl von Abgeordneten
und wählt dazu beliebige Personen aus dem Bereiche aller deutschen Staats¬
angehörigen, welche das passive Wahlrecht besitzen. Die landwirtschaftlichen
Wähler können sich z. B. durch Beamte, Anwälte oder Kaufleute vertreten
lassen u. f. w.

2. Jede Berufsklasse stellt die gleiche Anzahl Vertreter wie bei 1, aber
aus dem Kreise der eignen Berufsgenossenschaft heraus. Diese Bestimmung
erweist sich somit als eine Beschränkung des passiven Wahlrechtes. Die Land¬
wirtschaft kann nur durch Landwirte, die Industrie nur durch Gewerbetreibende
vertreten werden u. s. w.

Der erstere Wcchlmodns ließe das aktive wie passive Wahlrecht durchaus
in demselben Umfange bestehen, wie dasselbe gegenwärtig ausgeübt wird. Die
auch jetzt vorhandnen gesetzlichen Beschränkungen könnten genau dieselben bleiben.
Es könnte sich nun, da die Wahl der Kandidaten nicht an die Ausübung eines
bestimmten Berufes gebunden ist, ereignen, daß ein auf diese Weise gewählter
Reichstag hinsichtlich des Berufsstandes seiner Mitglieder dieselben Ziffern auf¬
wiese wie der gegenwärtig tagende. Der äußere Anblick der parlamentarischen
Körperschaft wäre in beiden Fällen der gleiche; es könnte sich in demselben auch
ferner eine überwiegend große Anzahl von Juristen und Beamten und eine
verhältnismäßig geringe Zahl von Handel- und Gewerbetreibenden befinden.
Aber dießc äußere Übereinstimmung wäre nur eine scheinbare, die Motive, welche
der Mandatserteilung zu gründe lägen, wären in beiden Fällen durchaus ver¬
schiedene, und auf diese Motive kommt es an. Die heute im Reichstage sitzenden
130 Landwirte sind keineswegs Vertreter der Landwirtschaft, ebensowenig wie
die andern Mitglieder ihre Sitze einem Mandat ihrer Berufsgenossen verdanken.
Die Zusammensetzung des heutigen Reichstages nach der Berufsatt seiner Mit¬
glieder ist eine rein zufällige. Selbst wenn auch jetzt anstatt der 130 Landwirte
auch die 174 der Kolumne V auf den Bänken des Sitzungssaales Platz
nähmen, wäre damit die Forderung einer Proportionellen Vertretung nach Beruf
keineswegs erfüllt. Diese kann nur dann zum vollen und dauernden Ausdruck


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341841_196733/86>, abgerufen am 15.01.2025.