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Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Viertes Quartal.

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Gründen der Sittlichkeit Anerkennung gefordert und aus Gründen des Rechtes Er¬
füllung erlangt. Zu dieser Anerkennung und Erfüllung sollte sich der moderne
Besitz freiwillig entschließen, bevor er dazu von Gesellschaft und Staat gezwungen
wird, was seine soziale Stellung gefährden würde. Es ist ein Kampf ums Dasein
gerümpft worden; man hat gesagt, es müsse so sein, und man hat es geglaubt.
Allein mau hat dabei übersehen, daß die menschliche Gesellschaft ein Organismus
ist, in welchem es nicht angeht, daß die eine Zelle soviel Nahrung als möglich auf¬
fängt, während die andre vertrocknet, in welchem alle Glieder lebenskräftig und
lebensthätig bleiben müssen, wenn das Ganze gedeihen und nicht absterben soll.

Einträchtiges Zusammenwirken und nicht Kampf erfordert der Organismus der
Menschheit. Allznweit getriebener wirtschaftlicher Individualismus gefährdet den
Bestand der Gesellschaft. Die einzelne Zelle darf nicht von der gemeinsamen Nahrung
soviel nehmen, als sie nur erreichen kann. Daraus vermag keine Harmonie hervor¬
zugehen, sondern eben mir der Kampf ums Dasein mit alleu Mitteln.


Ich sage dir: nicht Skythen und Chazarcn,
Die einst den Glanz getilgt der alten Welt,
Bedrohen unsre Zeit, nicht fremde Völker.
Aus eignem Schoß ringt ir>s sich der Barbar,
Der, wenn erst ohne Zügel, alles Große,
Die Kunst, die Wissenschaft, den Staat, die Kirche,
Herabstürzt von der Höhe, die sie schützt,
Zur Oberfläche eigener Genteinheit,
Bis alles gleich, el ja, weil alles niedrig.

So dichtete Grillpcirzer in Wien, so mahnte Steinbach ebenda, dessen Vortrug eine
That und in Wien eine Heldenthat war, wo die öffentlichen Blätter in Lobes¬
hymnen ausbrechen zu müssen glauben, wenn Baron Rothschild 1000 Gulden für
eine Synagoge hergiebt, oder Bnrou Hirsch eiuen größern Betrag den Armen von
Wien überweist, um zum Mitgliede des Herrenhauses ernannt zu werden, oder
wenn irgendein Börsenjobber sich den Adelstitel kauft, indem er lOV OOO Gulden
für eiuen wohlthätigen Zweck spendet.

Dr. Neurath, ebenfalls ein Wiener, sagt in seinem neuen ausgezeichneten Lehr¬
buche "Grundzüge der Volkswirtschaftslehre," nachdem er betont hat, wie ein jeder
verpflichtet sei, in sich ein gesellschaftliches Organ, den Inhaber eines Amtes, in
seinem Besitze ein ihm von Gott und von der Gesellschaft zur besten Verwaltung
anvertrautes Gut zu sehen und zu achten: "Je weniger die Einzelnen von diesem
Bewußtsein durchdrungen sind, desto mehr bedarf es solcher Gesetze und Institu¬
tionen, welche dieses Bewußtsein zu erwecken und zu pflegen geeignet sind, und je
weniger diese Pflichten freiwillig von den Einzelnen erfüllt werden, je mehr dieses
Pflichtgefühl entschwindet, desto mehr muß durch Gesetze, Institutionen und öffent¬
liche Vcrwaltnngsthätigkeit die Erfüllung dieser Pflichten gesichert werden."




Krieg und Geschüft. So war denn eine Zeit lang gransame Thatsache
geworden, was vor einigen Wochen von dem Organ des deutschen Reichskanzlers
als eine unbillige Zumutung erklärt wurde, daß dreihundert Millionen Europäer
der Gefahr der Friedensstörung ausgesetzt waren, weil drei Balkanstaaten von kaum
sechs Millionen Einwohnern plötzlich auf den Gedanken gekommen waren, daß ihr
lokales Gleichgewicht, d. i. ihr partikularistischer Ehrgeiz in Frage gestellt sei.

Was ein Krieg zu bedeuten hat, weiß die Gegenwart aus den Erlebnissen
einer großen, unvergessenen Vergangenheit. In seinem Gefolge finden sich Schmerzen


Gründen der Sittlichkeit Anerkennung gefordert und aus Gründen des Rechtes Er¬
füllung erlangt. Zu dieser Anerkennung und Erfüllung sollte sich der moderne
Besitz freiwillig entschließen, bevor er dazu von Gesellschaft und Staat gezwungen
wird, was seine soziale Stellung gefährden würde. Es ist ein Kampf ums Dasein
gerümpft worden; man hat gesagt, es müsse so sein, und man hat es geglaubt.
Allein mau hat dabei übersehen, daß die menschliche Gesellschaft ein Organismus
ist, in welchem es nicht angeht, daß die eine Zelle soviel Nahrung als möglich auf¬
fängt, während die andre vertrocknet, in welchem alle Glieder lebenskräftig und
lebensthätig bleiben müssen, wenn das Ganze gedeihen und nicht absterben soll.

Einträchtiges Zusammenwirken und nicht Kampf erfordert der Organismus der
Menschheit. Allznweit getriebener wirtschaftlicher Individualismus gefährdet den
Bestand der Gesellschaft. Die einzelne Zelle darf nicht von der gemeinsamen Nahrung
soviel nehmen, als sie nur erreichen kann. Daraus vermag keine Harmonie hervor¬
zugehen, sondern eben mir der Kampf ums Dasein mit alleu Mitteln.


Ich sage dir: nicht Skythen und Chazarcn,
Die einst den Glanz getilgt der alten Welt,
Bedrohen unsre Zeit, nicht fremde Völker.
Aus eignem Schoß ringt ir>s sich der Barbar,
Der, wenn erst ohne Zügel, alles Große,
Die Kunst, die Wissenschaft, den Staat, die Kirche,
Herabstürzt von der Höhe, die sie schützt,
Zur Oberfläche eigener Genteinheit,
Bis alles gleich, el ja, weil alles niedrig.

So dichtete Grillpcirzer in Wien, so mahnte Steinbach ebenda, dessen Vortrug eine
That und in Wien eine Heldenthat war, wo die öffentlichen Blätter in Lobes¬
hymnen ausbrechen zu müssen glauben, wenn Baron Rothschild 1000 Gulden für
eine Synagoge hergiebt, oder Bnrou Hirsch eiuen größern Betrag den Armen von
Wien überweist, um zum Mitgliede des Herrenhauses ernannt zu werden, oder
wenn irgendein Börsenjobber sich den Adelstitel kauft, indem er lOV OOO Gulden
für eiuen wohlthätigen Zweck spendet.

Dr. Neurath, ebenfalls ein Wiener, sagt in seinem neuen ausgezeichneten Lehr¬
buche „Grundzüge der Volkswirtschaftslehre," nachdem er betont hat, wie ein jeder
verpflichtet sei, in sich ein gesellschaftliches Organ, den Inhaber eines Amtes, in
seinem Besitze ein ihm von Gott und von der Gesellschaft zur besten Verwaltung
anvertrautes Gut zu sehen und zu achten: „Je weniger die Einzelnen von diesem
Bewußtsein durchdrungen sind, desto mehr bedarf es solcher Gesetze und Institu¬
tionen, welche dieses Bewußtsein zu erwecken und zu pflegen geeignet sind, und je
weniger diese Pflichten freiwillig von den Einzelnen erfüllt werden, je mehr dieses
Pflichtgefühl entschwindet, desto mehr muß durch Gesetze, Institutionen und öffent¬
liche Vcrwaltnngsthätigkeit die Erfüllung dieser Pflichten gesichert werden."




Krieg und Geschüft. So war denn eine Zeit lang gransame Thatsache
geworden, was vor einigen Wochen von dem Organ des deutschen Reichskanzlers
als eine unbillige Zumutung erklärt wurde, daß dreihundert Millionen Europäer
der Gefahr der Friedensstörung ausgesetzt waren, weil drei Balkanstaaten von kaum
sechs Millionen Einwohnern plötzlich auf den Gedanken gekommen waren, daß ihr
lokales Gleichgewicht, d. i. ihr partikularistischer Ehrgeiz in Frage gestellt sei.

Was ein Krieg zu bedeuten hat, weiß die Gegenwart aus den Erlebnissen
einer großen, unvergessenen Vergangenheit. In seinem Gefolge finden sich Schmerzen


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[0670] Gründen der Sittlichkeit Anerkennung gefordert und aus Gründen des Rechtes Er¬ füllung erlangt. Zu dieser Anerkennung und Erfüllung sollte sich der moderne Besitz freiwillig entschließen, bevor er dazu von Gesellschaft und Staat gezwungen wird, was seine soziale Stellung gefährden würde. Es ist ein Kampf ums Dasein gerümpft worden; man hat gesagt, es müsse so sein, und man hat es geglaubt. Allein mau hat dabei übersehen, daß die menschliche Gesellschaft ein Organismus ist, in welchem es nicht angeht, daß die eine Zelle soviel Nahrung als möglich auf¬ fängt, während die andre vertrocknet, in welchem alle Glieder lebenskräftig und lebensthätig bleiben müssen, wenn das Ganze gedeihen und nicht absterben soll. Einträchtiges Zusammenwirken und nicht Kampf erfordert der Organismus der Menschheit. Allznweit getriebener wirtschaftlicher Individualismus gefährdet den Bestand der Gesellschaft. Die einzelne Zelle darf nicht von der gemeinsamen Nahrung soviel nehmen, als sie nur erreichen kann. Daraus vermag keine Harmonie hervor¬ zugehen, sondern eben mir der Kampf ums Dasein mit alleu Mitteln. Ich sage dir: nicht Skythen und Chazarcn, Die einst den Glanz getilgt der alten Welt, Bedrohen unsre Zeit, nicht fremde Völker. Aus eignem Schoß ringt ir>s sich der Barbar, Der, wenn erst ohne Zügel, alles Große, Die Kunst, die Wissenschaft, den Staat, die Kirche, Herabstürzt von der Höhe, die sie schützt, Zur Oberfläche eigener Genteinheit, Bis alles gleich, el ja, weil alles niedrig. So dichtete Grillpcirzer in Wien, so mahnte Steinbach ebenda, dessen Vortrug eine That und in Wien eine Heldenthat war, wo die öffentlichen Blätter in Lobes¬ hymnen ausbrechen zu müssen glauben, wenn Baron Rothschild 1000 Gulden für eine Synagoge hergiebt, oder Bnrou Hirsch eiuen größern Betrag den Armen von Wien überweist, um zum Mitgliede des Herrenhauses ernannt zu werden, oder wenn irgendein Börsenjobber sich den Adelstitel kauft, indem er lOV OOO Gulden für eiuen wohlthätigen Zweck spendet. Dr. Neurath, ebenfalls ein Wiener, sagt in seinem neuen ausgezeichneten Lehr¬ buche „Grundzüge der Volkswirtschaftslehre," nachdem er betont hat, wie ein jeder verpflichtet sei, in sich ein gesellschaftliches Organ, den Inhaber eines Amtes, in seinem Besitze ein ihm von Gott und von der Gesellschaft zur besten Verwaltung anvertrautes Gut zu sehen und zu achten: „Je weniger die Einzelnen von diesem Bewußtsein durchdrungen sind, desto mehr bedarf es solcher Gesetze und Institu¬ tionen, welche dieses Bewußtsein zu erwecken und zu pflegen geeignet sind, und je weniger diese Pflichten freiwillig von den Einzelnen erfüllt werden, je mehr dieses Pflichtgefühl entschwindet, desto mehr muß durch Gesetze, Institutionen und öffent¬ liche Vcrwaltnngsthätigkeit die Erfüllung dieser Pflichten gesichert werden." Krieg und Geschüft. So war denn eine Zeit lang gransame Thatsache geworden, was vor einigen Wochen von dem Organ des deutschen Reichskanzlers als eine unbillige Zumutung erklärt wurde, daß dreihundert Millionen Europäer der Gefahr der Friedensstörung ausgesetzt waren, weil drei Balkanstaaten von kaum sechs Millionen Einwohnern plötzlich auf den Gedanken gekommen waren, daß ihr lokales Gleichgewicht, d. i. ihr partikularistischer Ehrgeiz in Frage gestellt sei. Was ein Krieg zu bedeuten hat, weiß die Gegenwart aus den Erlebnissen einer großen, unvergessenen Vergangenheit. In seinem Gefolge finden sich Schmerzen

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341841_196733/670>, abgerufen am 15.01.2025.