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Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Viertes Quartal.

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Die Aussichten nach dem Wahlergebnis in England.

Geschichte sein, wenn man einen großen Staat in zwei Stücke zerschlagen wollte,
weil ein Politiker wie Parnell eine parlamentarische Unbequemlichkeit, ein
Hindernis für die eine der beiden alten Parteien ist, die andre unterzukriegen
und sich ungestört der Macht zu freuen.

Es ist, sagten wir, schwer zu glauben, daß Gladstone seinen frühern Thor¬
heiten die größere hinzufügen wird, zur Trennung Irlands von Großbritannien
die Hand zu bieten. Aber ganz unmöglich ist dies nicht. 1860 kamen die
Liberalen mit dem geringen Übergewichte von dreizehn Parlamentsstimmen über
die Konservativen ans Regiment, und doch lebte das damals gebildete Kabinet
volle sechs Jahre, d. h. bis die Periode, für welche das Unterhaus gewählt
worden, abgelaufen war. Dieser Erfolg Palmerstons beruhte allerdings ans
einer Taktik, die jetzt nicht anwendbar sein dürfte. Der damalige Führer der
Liberalen ließ die Reformarbeit fallen und vertraute auf eine treffliche Ver¬
waltung nach den bestehenden Grundsätzen und Einrichtungen. Gladstones ver-
schiedne Budgets allein schon gaben dem Ministerium Anspruch auf das Ver¬
trauen des Landes, die auswärtige Politik desselben war zwar keineswegs frei
von Mißgriffen, im ganzen aber vorsichtig und erfolgreich, und durch den
Handelsvertrag mit Frankreich empfahl es sich bei den Mittelklassen. Aber
alles das war, bevor Gladstone der liberalen Partei seine Begeisterung für
große, tiefeinschneidende und weit ausgedehnte Reformen in der Gesetzgebung
eingeimpft hatte, und die Frage ist jetzt, ob die britische Fortschrittspartei nicht
durch ein sehr weitgehendes Programm mit neuen anlockenden Vorschlägen zu¬
sammengehalten werden muß, wen" sie uicht in Gemäßigte und Radikale zer¬
fallen soll, und es scheint, daß Gladstone mehr an ihrem Bestände gelegen ist als
an wichtigen Interessen des Reiches, zu denen die Einheit desselben gehören könnte.

Dazu kommt noch eine Schwierigkeit, die sich in den Jahren von 1859 bis
1865 uoch nicht fühlbar machte, nämlich die, daß im Unterhause sich eine dritte
Parteigruppe gebildet hat, die von den beiden alten Organisationen der Nation
vollständig getrennt, aber stets (beiläufig wie unser Zentrum) bereit ist, sich der
einen zum Schaden der andern zeitweilig anzuschließen. Wenn die Liberalen
zwar stärker als die Konservativen, beide Parteien aber so schwach sind, daß die
eine wie die andre aus Furcht vor der Opposition der Parnelliten Bedenken
tragen muß, die Leitung der Geschäfte zu übernehmen oder zu behalten, so ist
es immerhin, wenn wir uns auf den Standpunkt von Parteimännern stellen,
denkbar, daß die Führer der einen oder der andern ihren Frieden mit den
Parnelliten auf Bedingungen hin zu schließen versuchen, die außerhalb der vom
Interesse Großbritanniens gezognen Schranken liegen^ Gladstone aber fällt mit
seiner Art zu denken mehr unter diese Möglichkeit als Salisbury.

Man kann zwar sagen, daß die jetzigen Minister sich die Unterstützung der
irischen Nationalisten schon einigermaßen gesichert hätten, indem sie die "Ver¬
brechensakte" fallen ließen und Lord Speneers Entscheidungen nicht bestätigte".


Die Aussichten nach dem Wahlergebnis in England.

Geschichte sein, wenn man einen großen Staat in zwei Stücke zerschlagen wollte,
weil ein Politiker wie Parnell eine parlamentarische Unbequemlichkeit, ein
Hindernis für die eine der beiden alten Parteien ist, die andre unterzukriegen
und sich ungestört der Macht zu freuen.

Es ist, sagten wir, schwer zu glauben, daß Gladstone seinen frühern Thor¬
heiten die größere hinzufügen wird, zur Trennung Irlands von Großbritannien
die Hand zu bieten. Aber ganz unmöglich ist dies nicht. 1860 kamen die
Liberalen mit dem geringen Übergewichte von dreizehn Parlamentsstimmen über
die Konservativen ans Regiment, und doch lebte das damals gebildete Kabinet
volle sechs Jahre, d. h. bis die Periode, für welche das Unterhaus gewählt
worden, abgelaufen war. Dieser Erfolg Palmerstons beruhte allerdings ans
einer Taktik, die jetzt nicht anwendbar sein dürfte. Der damalige Führer der
Liberalen ließ die Reformarbeit fallen und vertraute auf eine treffliche Ver¬
waltung nach den bestehenden Grundsätzen und Einrichtungen. Gladstones ver-
schiedne Budgets allein schon gaben dem Ministerium Anspruch auf das Ver¬
trauen des Landes, die auswärtige Politik desselben war zwar keineswegs frei
von Mißgriffen, im ganzen aber vorsichtig und erfolgreich, und durch den
Handelsvertrag mit Frankreich empfahl es sich bei den Mittelklassen. Aber
alles das war, bevor Gladstone der liberalen Partei seine Begeisterung für
große, tiefeinschneidende und weit ausgedehnte Reformen in der Gesetzgebung
eingeimpft hatte, und die Frage ist jetzt, ob die britische Fortschrittspartei nicht
durch ein sehr weitgehendes Programm mit neuen anlockenden Vorschlägen zu¬
sammengehalten werden muß, wen« sie uicht in Gemäßigte und Radikale zer¬
fallen soll, und es scheint, daß Gladstone mehr an ihrem Bestände gelegen ist als
an wichtigen Interessen des Reiches, zu denen die Einheit desselben gehören könnte.

Dazu kommt noch eine Schwierigkeit, die sich in den Jahren von 1859 bis
1865 uoch nicht fühlbar machte, nämlich die, daß im Unterhause sich eine dritte
Parteigruppe gebildet hat, die von den beiden alten Organisationen der Nation
vollständig getrennt, aber stets (beiläufig wie unser Zentrum) bereit ist, sich der
einen zum Schaden der andern zeitweilig anzuschließen. Wenn die Liberalen
zwar stärker als die Konservativen, beide Parteien aber so schwach sind, daß die
eine wie die andre aus Furcht vor der Opposition der Parnelliten Bedenken
tragen muß, die Leitung der Geschäfte zu übernehmen oder zu behalten, so ist
es immerhin, wenn wir uns auf den Standpunkt von Parteimännern stellen,
denkbar, daß die Führer der einen oder der andern ihren Frieden mit den
Parnelliten auf Bedingungen hin zu schließen versuchen, die außerhalb der vom
Interesse Großbritanniens gezognen Schranken liegen^ Gladstone aber fällt mit
seiner Art zu denken mehr unter diese Möglichkeit als Salisbury.

Man kann zwar sagen, daß die jetzigen Minister sich die Unterstützung der
irischen Nationalisten schon einigermaßen gesichert hätten, indem sie die „Ver¬
brechensakte" fallen ließen und Lord Speneers Entscheidungen nicht bestätigte».


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[0600] Die Aussichten nach dem Wahlergebnis in England. Geschichte sein, wenn man einen großen Staat in zwei Stücke zerschlagen wollte, weil ein Politiker wie Parnell eine parlamentarische Unbequemlichkeit, ein Hindernis für die eine der beiden alten Parteien ist, die andre unterzukriegen und sich ungestört der Macht zu freuen. Es ist, sagten wir, schwer zu glauben, daß Gladstone seinen frühern Thor¬ heiten die größere hinzufügen wird, zur Trennung Irlands von Großbritannien die Hand zu bieten. Aber ganz unmöglich ist dies nicht. 1860 kamen die Liberalen mit dem geringen Übergewichte von dreizehn Parlamentsstimmen über die Konservativen ans Regiment, und doch lebte das damals gebildete Kabinet volle sechs Jahre, d. h. bis die Periode, für welche das Unterhaus gewählt worden, abgelaufen war. Dieser Erfolg Palmerstons beruhte allerdings ans einer Taktik, die jetzt nicht anwendbar sein dürfte. Der damalige Führer der Liberalen ließ die Reformarbeit fallen und vertraute auf eine treffliche Ver¬ waltung nach den bestehenden Grundsätzen und Einrichtungen. Gladstones ver- schiedne Budgets allein schon gaben dem Ministerium Anspruch auf das Ver¬ trauen des Landes, die auswärtige Politik desselben war zwar keineswegs frei von Mißgriffen, im ganzen aber vorsichtig und erfolgreich, und durch den Handelsvertrag mit Frankreich empfahl es sich bei den Mittelklassen. Aber alles das war, bevor Gladstone der liberalen Partei seine Begeisterung für große, tiefeinschneidende und weit ausgedehnte Reformen in der Gesetzgebung eingeimpft hatte, und die Frage ist jetzt, ob die britische Fortschrittspartei nicht durch ein sehr weitgehendes Programm mit neuen anlockenden Vorschlägen zu¬ sammengehalten werden muß, wen« sie uicht in Gemäßigte und Radikale zer¬ fallen soll, und es scheint, daß Gladstone mehr an ihrem Bestände gelegen ist als an wichtigen Interessen des Reiches, zu denen die Einheit desselben gehören könnte. Dazu kommt noch eine Schwierigkeit, die sich in den Jahren von 1859 bis 1865 uoch nicht fühlbar machte, nämlich die, daß im Unterhause sich eine dritte Parteigruppe gebildet hat, die von den beiden alten Organisationen der Nation vollständig getrennt, aber stets (beiläufig wie unser Zentrum) bereit ist, sich der einen zum Schaden der andern zeitweilig anzuschließen. Wenn die Liberalen zwar stärker als die Konservativen, beide Parteien aber so schwach sind, daß die eine wie die andre aus Furcht vor der Opposition der Parnelliten Bedenken tragen muß, die Leitung der Geschäfte zu übernehmen oder zu behalten, so ist es immerhin, wenn wir uns auf den Standpunkt von Parteimännern stellen, denkbar, daß die Führer der einen oder der andern ihren Frieden mit den Parnelliten auf Bedingungen hin zu schließen versuchen, die außerhalb der vom Interesse Großbritanniens gezognen Schranken liegen^ Gladstone aber fällt mit seiner Art zu denken mehr unter diese Möglichkeit als Salisbury. Man kann zwar sagen, daß die jetzigen Minister sich die Unterstützung der irischen Nationalisten schon einigermaßen gesichert hätten, indem sie die „Ver¬ brechensakte" fallen ließen und Lord Speneers Entscheidungen nicht bestätigte».

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341841_196733/600>, abgerufen am 15.01.2025.