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Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Viertes Quartal.

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Herr Windthorst und seine Gefolgschaft im Reichstage.

Man darf daraus, daß das Zentrum den Reichskanzler bei Durchführung
der neuen Zollpolitik und bei den sozialpolitischen Gesetzen unterstützte, keines¬
wegs schließen, daß Herr Windthorst und sein welsisch-jesuitischer Anhang sich
zu einem friedlichen Leben und Wirken in Reich und Staat verstehen wollten.
Verlassen von der 1878 durch theoretische Subtilitäten verblendeten national¬
liberalen Partei, mußte Fürst Bismarck, wenn er überhaupt das in seiner
materiellen Existenz gefährdete neue Reich aus dem Strudel des Manchester-
tums retten wollte, seine Bundesgenossen im Volke ohne die Hilfe einer Partei
selbst suchen. Gerade vom Rhein und dem katholischen Teile Süddeutschlands war
der Schmerzensschrei über die seitherige Delbrücksche Handelspolitik am lautesten.
Ebenso wie der Reichskanzler aus patriotischem Pflichtgefühl die Bedürfnisse des
Volkes auch in wirtschaftlicher Hinsicht zu befriedigen bemüht war, mußte die Leitung
des Zentrums und wider seinen Willen auch Herr Windthorst aus Parteierhaltungs¬
interesse diese Bemühungen unterstützen, umsomehr, als ihnen durch die kirchen¬
friedliche Politik der Negierung, der Boden einer kräftigen Agitation allmählich
entzogen war. Auch die Förderung der sozialpolitischen Vorlagen zeigt nicht sowohl
Wohlwollen für die Regierung als Verständnis für die Interessen der Partei,
die sich auch hier zufällig mit denen des Volkes decken. Während die liberalen
Parteien teils gänzlich an den Grundsätzen vom "Nachtwächterstaat" hängen blieben,
teils sich noch lange Zeit, von der alten Nachbarschaft befangen, zu einem offnen
Eintreten für die soziale Politik nicht emporzuraffeu vermochten, suchte das Zentrum
in der Unterstützung der Arbeiterbewegung für sich ein neues Agitationsfeld.

Die Erwähnung dieser Hauptpunkte sollte nur zu dem Nachweise dienen,
daß auch dn, wo das Zentrum mit der Regierung Hand in Hand ging, dies
für Herrn Windthorst und seinen Anhang nur einen Waffenstillstand zur Heran¬
ziehung neuer Truppen und Mittel bedeutete.

Unterdes fuhr die Regierung fort, im Geiste des bekannten kronprinzlichen
Schreibens mit dem Papste den "Prinzipienstreit" zu schlichten und die vor-
handnen Schwierigkeiten mit Liebe und Versöhnlichkeit zu behandeln. Jeder
Katholik, der sich sein eignes Urteil nicht von fanatischen Neichsfeinden beein¬
flussen läßt, muß anerkennen, daß sich das Verhältnis zwischen Preußen und
dem Papste in ganz außerordentlicher Weise zu einem guten gestaltet hat. Mit
Ausnahme von Posen sind alle Bischofsstühle wieder besetzt, überall ist es ge¬
lungen, sich mit der Kurie zu verständigen und einen moäus vivönäi zu finden.*)
Die Wahl des Papstes als Vermittler in der Karolinen-Angelegenheit hat, wie
selbst die größten Widersacher einstimmig zugeben, das Ansehen des Papsttums
unter den Regierungen und Völkern außergewöhnlich erhöht. Fürst Bismarck
darf für sich das Verdienst in Anspruch nehmen, daß gerade er es war, der zu



*) Der durch Berufung des Dr. Krementz nach Köln freigewurdene Erinländische Bischoss-
stuhlwird sicherm Nachrichten zufolge durch die Kapitelwahl seiner nnverziiglichen Wieder-
l'esetzung entgegengehn.
Herr Windthorst und seine Gefolgschaft im Reichstage.

Man darf daraus, daß das Zentrum den Reichskanzler bei Durchführung
der neuen Zollpolitik und bei den sozialpolitischen Gesetzen unterstützte, keines¬
wegs schließen, daß Herr Windthorst und sein welsisch-jesuitischer Anhang sich
zu einem friedlichen Leben und Wirken in Reich und Staat verstehen wollten.
Verlassen von der 1878 durch theoretische Subtilitäten verblendeten national¬
liberalen Partei, mußte Fürst Bismarck, wenn er überhaupt das in seiner
materiellen Existenz gefährdete neue Reich aus dem Strudel des Manchester-
tums retten wollte, seine Bundesgenossen im Volke ohne die Hilfe einer Partei
selbst suchen. Gerade vom Rhein und dem katholischen Teile Süddeutschlands war
der Schmerzensschrei über die seitherige Delbrücksche Handelspolitik am lautesten.
Ebenso wie der Reichskanzler aus patriotischem Pflichtgefühl die Bedürfnisse des
Volkes auch in wirtschaftlicher Hinsicht zu befriedigen bemüht war, mußte die Leitung
des Zentrums und wider seinen Willen auch Herr Windthorst aus Parteierhaltungs¬
interesse diese Bemühungen unterstützen, umsomehr, als ihnen durch die kirchen¬
friedliche Politik der Negierung, der Boden einer kräftigen Agitation allmählich
entzogen war. Auch die Förderung der sozialpolitischen Vorlagen zeigt nicht sowohl
Wohlwollen für die Regierung als Verständnis für die Interessen der Partei,
die sich auch hier zufällig mit denen des Volkes decken. Während die liberalen
Parteien teils gänzlich an den Grundsätzen vom „Nachtwächterstaat" hängen blieben,
teils sich noch lange Zeit, von der alten Nachbarschaft befangen, zu einem offnen
Eintreten für die soziale Politik nicht emporzuraffeu vermochten, suchte das Zentrum
in der Unterstützung der Arbeiterbewegung für sich ein neues Agitationsfeld.

Die Erwähnung dieser Hauptpunkte sollte nur zu dem Nachweise dienen,
daß auch dn, wo das Zentrum mit der Regierung Hand in Hand ging, dies
für Herrn Windthorst und seinen Anhang nur einen Waffenstillstand zur Heran¬
ziehung neuer Truppen und Mittel bedeutete.

Unterdes fuhr die Regierung fort, im Geiste des bekannten kronprinzlichen
Schreibens mit dem Papste den „Prinzipienstreit" zu schlichten und die vor-
handnen Schwierigkeiten mit Liebe und Versöhnlichkeit zu behandeln. Jeder
Katholik, der sich sein eignes Urteil nicht von fanatischen Neichsfeinden beein¬
flussen läßt, muß anerkennen, daß sich das Verhältnis zwischen Preußen und
dem Papste in ganz außerordentlicher Weise zu einem guten gestaltet hat. Mit
Ausnahme von Posen sind alle Bischofsstühle wieder besetzt, überall ist es ge¬
lungen, sich mit der Kurie zu verständigen und einen moäus vivönäi zu finden.*)
Die Wahl des Papstes als Vermittler in der Karolinen-Angelegenheit hat, wie
selbst die größten Widersacher einstimmig zugeben, das Ansehen des Papsttums
unter den Regierungen und Völkern außergewöhnlich erhöht. Fürst Bismarck
darf für sich das Verdienst in Anspruch nehmen, daß gerade er es war, der zu



*) Der durch Berufung des Dr. Krementz nach Köln freigewurdene Erinländische Bischoss-
stuhlwird sicherm Nachrichten zufolge durch die Kapitelwahl seiner nnverziiglichen Wieder-
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[0571] Herr Windthorst und seine Gefolgschaft im Reichstage. Man darf daraus, daß das Zentrum den Reichskanzler bei Durchführung der neuen Zollpolitik und bei den sozialpolitischen Gesetzen unterstützte, keines¬ wegs schließen, daß Herr Windthorst und sein welsisch-jesuitischer Anhang sich zu einem friedlichen Leben und Wirken in Reich und Staat verstehen wollten. Verlassen von der 1878 durch theoretische Subtilitäten verblendeten national¬ liberalen Partei, mußte Fürst Bismarck, wenn er überhaupt das in seiner materiellen Existenz gefährdete neue Reich aus dem Strudel des Manchester- tums retten wollte, seine Bundesgenossen im Volke ohne die Hilfe einer Partei selbst suchen. Gerade vom Rhein und dem katholischen Teile Süddeutschlands war der Schmerzensschrei über die seitherige Delbrücksche Handelspolitik am lautesten. Ebenso wie der Reichskanzler aus patriotischem Pflichtgefühl die Bedürfnisse des Volkes auch in wirtschaftlicher Hinsicht zu befriedigen bemüht war, mußte die Leitung des Zentrums und wider seinen Willen auch Herr Windthorst aus Parteierhaltungs¬ interesse diese Bemühungen unterstützen, umsomehr, als ihnen durch die kirchen¬ friedliche Politik der Negierung, der Boden einer kräftigen Agitation allmählich entzogen war. Auch die Förderung der sozialpolitischen Vorlagen zeigt nicht sowohl Wohlwollen für die Regierung als Verständnis für die Interessen der Partei, die sich auch hier zufällig mit denen des Volkes decken. Während die liberalen Parteien teils gänzlich an den Grundsätzen vom „Nachtwächterstaat" hängen blieben, teils sich noch lange Zeit, von der alten Nachbarschaft befangen, zu einem offnen Eintreten für die soziale Politik nicht emporzuraffeu vermochten, suchte das Zentrum in der Unterstützung der Arbeiterbewegung für sich ein neues Agitationsfeld. Die Erwähnung dieser Hauptpunkte sollte nur zu dem Nachweise dienen, daß auch dn, wo das Zentrum mit der Regierung Hand in Hand ging, dies für Herrn Windthorst und seinen Anhang nur einen Waffenstillstand zur Heran¬ ziehung neuer Truppen und Mittel bedeutete. Unterdes fuhr die Regierung fort, im Geiste des bekannten kronprinzlichen Schreibens mit dem Papste den „Prinzipienstreit" zu schlichten und die vor- handnen Schwierigkeiten mit Liebe und Versöhnlichkeit zu behandeln. Jeder Katholik, der sich sein eignes Urteil nicht von fanatischen Neichsfeinden beein¬ flussen läßt, muß anerkennen, daß sich das Verhältnis zwischen Preußen und dem Papste in ganz außerordentlicher Weise zu einem guten gestaltet hat. Mit Ausnahme von Posen sind alle Bischofsstühle wieder besetzt, überall ist es ge¬ lungen, sich mit der Kurie zu verständigen und einen moäus vivönäi zu finden.*) Die Wahl des Papstes als Vermittler in der Karolinen-Angelegenheit hat, wie selbst die größten Widersacher einstimmig zugeben, das Ansehen des Papsttums unter den Regierungen und Völkern außergewöhnlich erhöht. Fürst Bismarck darf für sich das Verdienst in Anspruch nehmen, daß gerade er es war, der zu *) Der durch Berufung des Dr. Krementz nach Köln freigewurdene Erinländische Bischoss- stuhlwird sicherm Nachrichten zufolge durch die Kapitelwahl seiner nnverziiglichen Wieder- l'esetzung entgegengehn.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341841_196733/571>, abgerufen am 15.01.2025.