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Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Viertes Quartal.

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Auf dem Stilfser Joch.

vielen folgenden Galerien ein, als die von Giuseppe gefürchtete Lawine herab¬
stürzte, ein Stück der Galerie hinwegriß und den Weg weiter als eine halbe
Stunde versperrte. Die Männer begannen dnrch den Schnee eine Bahn zu
graben, denn Vittorio wollte bei dem Eintritt" in die erste Galerie das ferne
Geräusch eines Wagens gehört haben, und bei dem Zweifel über die Möglichkeit
eines Unglückes entschied man sich für die Durchforschung des frischen Schnee¬
sturzes, obwohl der alte Giuseppe das Unternehmen für bedenklich hielt. Die
Hunde wurden bei dem weitern Graben immer unruhiger und begannen heulend
in dein Schnee zu wühlen, sodaß für die erfahrenen Schneebahner kein Zweifel
mehr bestand, daß ein Unglück Menschen betroffen haben müsse. Nach mühseliger
Arbeit von mehr als zwei Stunden gelangte man an eine hohle Stelle, wo sich
der Schnee an den hervorragenden Felsen angelehnt und in diesem eine Stütze
gefunden hatte; hier hatte die Lawine eine Art von Schneegalerie gebildet.
Als die Männer mit .Harald in diese eindrangen, stießen sie ans einen umge¬
worfenen Wagen. Die Pferde und der Kutscher rührten sich nicht, sie waren
entweder erstickt oder dnrch einen Schneesturz erschlagen; dagegen ertönte aus
dem Innern des Wagens ein leises Wimmern. Während der eine Teil der
roUvri den Schnee wegschaufelte und der andre auf den weitern Sturz auf¬
merkte, um die Gefährte" rechtzeitig zu warnen, drang Harald in das Innere
des Wagens, der von Vittorio in die Höhe gehoben wurde, ein und hob eine
ohnmächtige Frau mit einem in ein Vettchen gehüllten Kinde heraus. Kaum
war er mit seiner Bürde an das Tageslicht getreten und hatte sie in den Schnee
niedergelegt, da entrang sich seiner Brust der Ruf "Vroni!" mit solcher Macht,
daß die Bewußtlose zu sich kam und noch betäubt von dem Schrecken des Todes
die Augen aufschlug, ohne ein Wort herauszubringen. Plötzlich ertönte von
Giuseppe der Ruf: Zurück, der Fels schwankt! Harald ergriff mit Hast Vroni
und das Kind und trug beide mit der Verzweiflung eines Riesen zurück, aber
schon hatte sich der Fels gelöst und war, nachdem Frau und Kind von ihrem
Retter sicher geborgen waren, mit solcher Wucht auf den Rücken Haralds ge¬
stürzt, daß dieser ohnmächtig zusammenbrach.

Zum zweitenmale wurde Harald von Giuseppe und Vittorio ans einer Bahre
in das Wirtshaus von Santa Maria getragen, ans einer zweiten lag Vroni mit
ihrem Kinde -- ein düsterer Zug, der sich schweigend und nicht ohne Gefahr
über die unwegsam gewordenen Pfade bewegte. Harald war ans der Bewußt¬
losigkeit nicht erwacht; er wurde immer bleicher, und nur an seinen schmerzlich
zuckenden Zügen war es sichtbar, wie fürchterlich es in seinem Innern wühlte.

Für einen so schweren Fall war die Hilfe eine nur allzu geringe. Die
Bewohnerschaft des Hauses war von dem Unglück so betäubt, daß alle den Kopf
verloren zu haben schienen. Nina war die erste, welche ihre Besonnenheit
wieder erlangte und, obwohl sie am meisten mit dem Freunde litt, am ehesten
den Mut fand, den eignen Kummer M vergessen, um den Schmerz Haralds zu


Auf dem Stilfser Joch.

vielen folgenden Galerien ein, als die von Giuseppe gefürchtete Lawine herab¬
stürzte, ein Stück der Galerie hinwegriß und den Weg weiter als eine halbe
Stunde versperrte. Die Männer begannen dnrch den Schnee eine Bahn zu
graben, denn Vittorio wollte bei dem Eintritt« in die erste Galerie das ferne
Geräusch eines Wagens gehört haben, und bei dem Zweifel über die Möglichkeit
eines Unglückes entschied man sich für die Durchforschung des frischen Schnee¬
sturzes, obwohl der alte Giuseppe das Unternehmen für bedenklich hielt. Die
Hunde wurden bei dem weitern Graben immer unruhiger und begannen heulend
in dein Schnee zu wühlen, sodaß für die erfahrenen Schneebahner kein Zweifel
mehr bestand, daß ein Unglück Menschen betroffen haben müsse. Nach mühseliger
Arbeit von mehr als zwei Stunden gelangte man an eine hohle Stelle, wo sich
der Schnee an den hervorragenden Felsen angelehnt und in diesem eine Stütze
gefunden hatte; hier hatte die Lawine eine Art von Schneegalerie gebildet.
Als die Männer mit .Harald in diese eindrangen, stießen sie ans einen umge¬
worfenen Wagen. Die Pferde und der Kutscher rührten sich nicht, sie waren
entweder erstickt oder dnrch einen Schneesturz erschlagen; dagegen ertönte aus
dem Innern des Wagens ein leises Wimmern. Während der eine Teil der
roUvri den Schnee wegschaufelte und der andre auf den weitern Sturz auf¬
merkte, um die Gefährte» rechtzeitig zu warnen, drang Harald in das Innere
des Wagens, der von Vittorio in die Höhe gehoben wurde, ein und hob eine
ohnmächtige Frau mit einem in ein Vettchen gehüllten Kinde heraus. Kaum
war er mit seiner Bürde an das Tageslicht getreten und hatte sie in den Schnee
niedergelegt, da entrang sich seiner Brust der Ruf „Vroni!" mit solcher Macht,
daß die Bewußtlose zu sich kam und noch betäubt von dem Schrecken des Todes
die Augen aufschlug, ohne ein Wort herauszubringen. Plötzlich ertönte von
Giuseppe der Ruf: Zurück, der Fels schwankt! Harald ergriff mit Hast Vroni
und das Kind und trug beide mit der Verzweiflung eines Riesen zurück, aber
schon hatte sich der Fels gelöst und war, nachdem Frau und Kind von ihrem
Retter sicher geborgen waren, mit solcher Wucht auf den Rücken Haralds ge¬
stürzt, daß dieser ohnmächtig zusammenbrach.

Zum zweitenmale wurde Harald von Giuseppe und Vittorio ans einer Bahre
in das Wirtshaus von Santa Maria getragen, ans einer zweiten lag Vroni mit
ihrem Kinde — ein düsterer Zug, der sich schweigend und nicht ohne Gefahr
über die unwegsam gewordenen Pfade bewegte. Harald war ans der Bewußt¬
losigkeit nicht erwacht; er wurde immer bleicher, und nur an seinen schmerzlich
zuckenden Zügen war es sichtbar, wie fürchterlich es in seinem Innern wühlte.

Für einen so schweren Fall war die Hilfe eine nur allzu geringe. Die
Bewohnerschaft des Hauses war von dem Unglück so betäubt, daß alle den Kopf
verloren zu haben schienen. Nina war die erste, welche ihre Besonnenheit
wieder erlangte und, obwohl sie am meisten mit dem Freunde litt, am ehesten
den Mut fand, den eignen Kummer M vergessen, um den Schmerz Haralds zu


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[0543] Auf dem Stilfser Joch. vielen folgenden Galerien ein, als die von Giuseppe gefürchtete Lawine herab¬ stürzte, ein Stück der Galerie hinwegriß und den Weg weiter als eine halbe Stunde versperrte. Die Männer begannen dnrch den Schnee eine Bahn zu graben, denn Vittorio wollte bei dem Eintritt« in die erste Galerie das ferne Geräusch eines Wagens gehört haben, und bei dem Zweifel über die Möglichkeit eines Unglückes entschied man sich für die Durchforschung des frischen Schnee¬ sturzes, obwohl der alte Giuseppe das Unternehmen für bedenklich hielt. Die Hunde wurden bei dem weitern Graben immer unruhiger und begannen heulend in dein Schnee zu wühlen, sodaß für die erfahrenen Schneebahner kein Zweifel mehr bestand, daß ein Unglück Menschen betroffen haben müsse. Nach mühseliger Arbeit von mehr als zwei Stunden gelangte man an eine hohle Stelle, wo sich der Schnee an den hervorragenden Felsen angelehnt und in diesem eine Stütze gefunden hatte; hier hatte die Lawine eine Art von Schneegalerie gebildet. Als die Männer mit .Harald in diese eindrangen, stießen sie ans einen umge¬ worfenen Wagen. Die Pferde und der Kutscher rührten sich nicht, sie waren entweder erstickt oder dnrch einen Schneesturz erschlagen; dagegen ertönte aus dem Innern des Wagens ein leises Wimmern. Während der eine Teil der roUvri den Schnee wegschaufelte und der andre auf den weitern Sturz auf¬ merkte, um die Gefährte» rechtzeitig zu warnen, drang Harald in das Innere des Wagens, der von Vittorio in die Höhe gehoben wurde, ein und hob eine ohnmächtige Frau mit einem in ein Vettchen gehüllten Kinde heraus. Kaum war er mit seiner Bürde an das Tageslicht getreten und hatte sie in den Schnee niedergelegt, da entrang sich seiner Brust der Ruf „Vroni!" mit solcher Macht, daß die Bewußtlose zu sich kam und noch betäubt von dem Schrecken des Todes die Augen aufschlug, ohne ein Wort herauszubringen. Plötzlich ertönte von Giuseppe der Ruf: Zurück, der Fels schwankt! Harald ergriff mit Hast Vroni und das Kind und trug beide mit der Verzweiflung eines Riesen zurück, aber schon hatte sich der Fels gelöst und war, nachdem Frau und Kind von ihrem Retter sicher geborgen waren, mit solcher Wucht auf den Rücken Haralds ge¬ stürzt, daß dieser ohnmächtig zusammenbrach. Zum zweitenmale wurde Harald von Giuseppe und Vittorio ans einer Bahre in das Wirtshaus von Santa Maria getragen, ans einer zweiten lag Vroni mit ihrem Kinde — ein düsterer Zug, der sich schweigend und nicht ohne Gefahr über die unwegsam gewordenen Pfade bewegte. Harald war ans der Bewußt¬ losigkeit nicht erwacht; er wurde immer bleicher, und nur an seinen schmerzlich zuckenden Zügen war es sichtbar, wie fürchterlich es in seinem Innern wühlte. Für einen so schweren Fall war die Hilfe eine nur allzu geringe. Die Bewohnerschaft des Hauses war von dem Unglück so betäubt, daß alle den Kopf verloren zu haben schienen. Nina war die erste, welche ihre Besonnenheit wieder erlangte und, obwohl sie am meisten mit dem Freunde litt, am ehesten den Mut fand, den eignen Kummer M vergessen, um den Schmerz Haralds zu

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341841_196733/543>, abgerufen am 15.01.2025.