Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Viertes Quartal.

Bild:
<< vorherige Seite


Auf dem Stilfser Joch.
von Adam von Lestenberg, (Schlich.)
Vierzehntes Uapitel.

as Frühjahr hatte diesmal seinem Namen Ehre gemacht; es
war frühzeitig eingetreten, und was seit Menschengedenken nicht
geschehen war, schon um den Beginn des Aprils war die
Bergstraße wieder so weit frei geworden, daß Harald in der
Begleitung seiner lange erfahrenen Freunde sehr gut den Weg
nach Bormio hätte antreten können, wenn er wieder mit der zivilisirten Welt
hätte in Verbindung treten wollen. Allein er verspürte noch immer keine Lust,
sein neues, aber vergessenes Heim wieder aufzugeben und sich auf das Gerate¬
wohl nochmals in den Strudel des Lebens zu wagen. Hier oben war seine Wunde
zwar geschlossen und vernarbt, aber doch nicht vergessen; wie von einer schweren
Krankheit war er erwacht, aber wenn er auch Physisch vollkommen wiederhergestellt
war, in seinem Innern hallte es noch von den schweren Erlebnissen der letzten
Zeit nach. Nur so viel hatte er überwunden, daß ihn die trüben Gedanken nicht
mehr qucilteu, daß sein Kopf wieder frei geworden war und er nicht mehr
so oft an die Vergangenheit dachte. Er lebte ganz der Gegenwart, er grübelte
über nichts mehr nach. Von seinem Bruder hatte er durch Vermittelung des
kühnen Vittorio, des Sohnes von Giuseppe, der auch im Winter einmal den Weg
nach Bormio nicht scheute, Nachricht empfangen und war beglückt darüber, daß
er zur Erforschung der Elektrizität der Aale eine Reise nach Brasilien unter¬
nommen hatte. So lebte der Künstler in seiner stillen Abgeschiedenheit wieder
aus; aber uicht wie Ekkehard hatte er sich in der Einsamkeit dnrch ein neues
Kunstwerk den Frieden seiner Seele wieder errungen, sondern durch lebendigen
Umgang mit natürlichen und treuen Menschen, durch die liebevolle Thätigkeit,
welche er Nina und Toniv widmete. Es war dem Künstler schwer gefallen, sich




Auf dem Stilfser Joch.
von Adam von Lestenberg, (Schlich.)
Vierzehntes Uapitel.

as Frühjahr hatte diesmal seinem Namen Ehre gemacht; es
war frühzeitig eingetreten, und was seit Menschengedenken nicht
geschehen war, schon um den Beginn des Aprils war die
Bergstraße wieder so weit frei geworden, daß Harald in der
Begleitung seiner lange erfahrenen Freunde sehr gut den Weg
nach Bormio hätte antreten können, wenn er wieder mit der zivilisirten Welt
hätte in Verbindung treten wollen. Allein er verspürte noch immer keine Lust,
sein neues, aber vergessenes Heim wieder aufzugeben und sich auf das Gerate¬
wohl nochmals in den Strudel des Lebens zu wagen. Hier oben war seine Wunde
zwar geschlossen und vernarbt, aber doch nicht vergessen; wie von einer schweren
Krankheit war er erwacht, aber wenn er auch Physisch vollkommen wiederhergestellt
war, in seinem Innern hallte es noch von den schweren Erlebnissen der letzten
Zeit nach. Nur so viel hatte er überwunden, daß ihn die trüben Gedanken nicht
mehr qucilteu, daß sein Kopf wieder frei geworden war und er nicht mehr
so oft an die Vergangenheit dachte. Er lebte ganz der Gegenwart, er grübelte
über nichts mehr nach. Von seinem Bruder hatte er durch Vermittelung des
kühnen Vittorio, des Sohnes von Giuseppe, der auch im Winter einmal den Weg
nach Bormio nicht scheute, Nachricht empfangen und war beglückt darüber, daß
er zur Erforschung der Elektrizität der Aale eine Reise nach Brasilien unter¬
nommen hatte. So lebte der Künstler in seiner stillen Abgeschiedenheit wieder
aus; aber uicht wie Ekkehard hatte er sich in der Einsamkeit dnrch ein neues
Kunstwerk den Frieden seiner Seele wieder errungen, sondern durch lebendigen
Umgang mit natürlichen und treuen Menschen, durch die liebevolle Thätigkeit,
welche er Nina und Toniv widmete. Es war dem Künstler schwer gefallen, sich


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0541" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/197275"/>
          <figure facs="http://media.dwds.de/dta/images/grenzboten_341841_196733/figures/grenzboten_341841_196733_197275_000.jpg"/><lb/>
        </div>
        <div n="1">
          <head> Auf dem Stilfser Joch.<lb/><note type="byline"> von Adam von Lestenberg,</note> (Schlich.)</head><lb/>
          <div n="2">
            <head> Vierzehntes Uapitel.</head><lb/>
            <p xml:id="ID_1703" next="#ID_1704"> as Frühjahr hatte diesmal seinem Namen Ehre gemacht; es<lb/>
war frühzeitig eingetreten, und was seit Menschengedenken nicht<lb/>
geschehen war, schon um den Beginn des Aprils war die<lb/>
Bergstraße wieder so weit frei geworden, daß Harald in der<lb/>
Begleitung seiner lange erfahrenen Freunde sehr gut den Weg<lb/>
nach Bormio hätte antreten können, wenn er wieder mit der zivilisirten Welt<lb/>
hätte in Verbindung treten wollen. Allein er verspürte noch immer keine Lust,<lb/>
sein neues, aber vergessenes Heim wieder aufzugeben und sich auf das Gerate¬<lb/>
wohl nochmals in den Strudel des Lebens zu wagen. Hier oben war seine Wunde<lb/>
zwar geschlossen und vernarbt, aber doch nicht vergessen; wie von einer schweren<lb/>
Krankheit war er erwacht, aber wenn er auch Physisch vollkommen wiederhergestellt<lb/>
war, in seinem Innern hallte es noch von den schweren Erlebnissen der letzten<lb/>
Zeit nach. Nur so viel hatte er überwunden, daß ihn die trüben Gedanken nicht<lb/>
mehr qucilteu, daß sein Kopf wieder frei geworden war und er nicht mehr<lb/>
so oft an die Vergangenheit dachte. Er lebte ganz der Gegenwart, er grübelte<lb/>
über nichts mehr nach. Von seinem Bruder hatte er durch Vermittelung des<lb/>
kühnen Vittorio, des Sohnes von Giuseppe, der auch im Winter einmal den Weg<lb/>
nach Bormio nicht scheute, Nachricht empfangen und war beglückt darüber, daß<lb/>
er zur Erforschung der Elektrizität der Aale eine Reise nach Brasilien unter¬<lb/>
nommen hatte. So lebte der Künstler in seiner stillen Abgeschiedenheit wieder<lb/>
aus; aber uicht wie Ekkehard hatte er sich in der Einsamkeit dnrch ein neues<lb/>
Kunstwerk den Frieden seiner Seele wieder errungen, sondern durch lebendigen<lb/>
Umgang mit natürlichen und treuen Menschen, durch die liebevolle Thätigkeit,<lb/>
welche er Nina und Toniv widmete. Es war dem Künstler schwer gefallen, sich</p><lb/>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0541] [Abbildung] Auf dem Stilfser Joch. von Adam von Lestenberg, (Schlich.) Vierzehntes Uapitel. as Frühjahr hatte diesmal seinem Namen Ehre gemacht; es war frühzeitig eingetreten, und was seit Menschengedenken nicht geschehen war, schon um den Beginn des Aprils war die Bergstraße wieder so weit frei geworden, daß Harald in der Begleitung seiner lange erfahrenen Freunde sehr gut den Weg nach Bormio hätte antreten können, wenn er wieder mit der zivilisirten Welt hätte in Verbindung treten wollen. Allein er verspürte noch immer keine Lust, sein neues, aber vergessenes Heim wieder aufzugeben und sich auf das Gerate¬ wohl nochmals in den Strudel des Lebens zu wagen. Hier oben war seine Wunde zwar geschlossen und vernarbt, aber doch nicht vergessen; wie von einer schweren Krankheit war er erwacht, aber wenn er auch Physisch vollkommen wiederhergestellt war, in seinem Innern hallte es noch von den schweren Erlebnissen der letzten Zeit nach. Nur so viel hatte er überwunden, daß ihn die trüben Gedanken nicht mehr qucilteu, daß sein Kopf wieder frei geworden war und er nicht mehr so oft an die Vergangenheit dachte. Er lebte ganz der Gegenwart, er grübelte über nichts mehr nach. Von seinem Bruder hatte er durch Vermittelung des kühnen Vittorio, des Sohnes von Giuseppe, der auch im Winter einmal den Weg nach Bormio nicht scheute, Nachricht empfangen und war beglückt darüber, daß er zur Erforschung der Elektrizität der Aale eine Reise nach Brasilien unter¬ nommen hatte. So lebte der Künstler in seiner stillen Abgeschiedenheit wieder aus; aber uicht wie Ekkehard hatte er sich in der Einsamkeit dnrch ein neues Kunstwerk den Frieden seiner Seele wieder errungen, sondern durch lebendigen Umgang mit natürlichen und treuen Menschen, durch die liebevolle Thätigkeit, welche er Nina und Toniv widmete. Es war dem Künstler schwer gefallen, sich

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341841_196733
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341841_196733/541
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341841_196733/541>, abgerufen am 15.01.2025.