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Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Viertes Quartal.

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Die dramatische Runst <L> v. Wildenbruchs.

so Würde es ihm ergehen wie dem, der die Gesetze des Denkens nicht beachtet:
er würde heillose Verwirrung anrichten. Das sind banale Wahrheiten, und
vielleicht bedürfte es der Entschuldigung, daß man sie immer wieder von neuem
vorträgt. Aber warum werden die Gesetze der Schönheit immer und immer
wieder verletzt? In ihrer Befolgung feiert auch das Genie seine höchste"
Triumphe, wollte es dieselben mißachten, so würde es am innern Widersprüche
zu gründe gehen. Vor diesem Schicksale bleibt nun zwar der bloß nachahmende
Künstler oder Dichter -- denn nur mit ihm haben wir es hier zu thun -- des¬
halb eher bewahrt, weil er das Ideal nicht mit der leuchtenden Klarheit
in sich trägt wie das Genie und daher sich selber nicht an tötlicher Stelle
treffen kann. Aber anderseits gelangen auch seine Werke nicht zum vollen
warmen Leben. Der Grund davon ist auch hier, daß er eben nicht aus sich
selber das Gesetz beobachten kann. Oder er müßte denn, da ihm die Unmittel¬
barkeit fehlt, wie Lessing darauf bedacht sein, auf indirekten Wege mit Hilfe des
scharf sichtenden Verstandes zur Einsicht und zur Fähigkeit zu gelangen. Denn
dazu hat er allerdings wie jener die heiligste Verpflichtung. Der Individualismus
oder das Recht des Einzelnen darf sich außer in der Erfindung doch nur in
der äußern Anordnung sowie in der Diktion und Farbengebung geltend macheu.
Im übrigen herrscht wie überall so auch hier die ganz bestimmte Ordnung, die
man ungestraft nicht verletzen kann. Das ist eine so unumstößliche Wahrheit,
daß die Werke jedes Dichters in demselben Maße an Schönheit und innerem
Werte verlieren, als sie sich von diesen Gesetzen abwenden, und genau in derselben
Proportion gewinnen, in welcher sie sich bewußt oder unbewußt von ihnen
leiten lassen.

Was Wildenbruch betrifft, so ist das erstere am "Harold" und an den "Karo¬
lingern" sattsam nachgewiesen worden. Dagegen ist der Kritiker in der erfreu¬
lichen Lage, das zweite an zwei andern Stücken desselben Dichters darthun zu
könne,,. Es ist ohne Zweifel, daß Wildenbruch mit den Schauspielen "Väter
und Söhne" und "Der Mennvnit" entschieden die besten Würfe gethan hat,
und nicht bloß aus den Gründen, von denen zuletzt die Rede war, sondern
auch aus andern, die uns jetzt zunächst beschäftigen mögen.

Fürs erste muß es als ein unzweifelhafter Vorzug bezeichnet werden, daß
er in beiden die Handlung auf rein vaterländischen Boden verlegt hat. Über¬
zeugungen und Gefühle, Neigungen und Leidenschaften, aus deren Widerspiel
ein Drama entsteht, können und dürfen allgemein menschlicher Natur sein, für
die rein künstlerische Beurteilung kommt es nicht darauf an, ob ihnen irgendein
nationales Gepräge aufgedrückt ist. Aber wird die Wahl in einem Volke ge¬
stellt, dessen patriotische Eigenschaften noch wesentlicher Steigerung bedürfen, so
liegt es auf der Hand, daß derjenige Stoff den Vorzug verdient, welchen der
Dichter in das nationale Gewand gekleidet hat. Wenn auch Schiller in einem
seiner kleinern Aufsätze "Die Schaubühne als eine moralische Anstalt betrachtet"


Die dramatische Runst <L> v. Wildenbruchs.

so Würde es ihm ergehen wie dem, der die Gesetze des Denkens nicht beachtet:
er würde heillose Verwirrung anrichten. Das sind banale Wahrheiten, und
vielleicht bedürfte es der Entschuldigung, daß man sie immer wieder von neuem
vorträgt. Aber warum werden die Gesetze der Schönheit immer und immer
wieder verletzt? In ihrer Befolgung feiert auch das Genie seine höchste»
Triumphe, wollte es dieselben mißachten, so würde es am innern Widersprüche
zu gründe gehen. Vor diesem Schicksale bleibt nun zwar der bloß nachahmende
Künstler oder Dichter — denn nur mit ihm haben wir es hier zu thun — des¬
halb eher bewahrt, weil er das Ideal nicht mit der leuchtenden Klarheit
in sich trägt wie das Genie und daher sich selber nicht an tötlicher Stelle
treffen kann. Aber anderseits gelangen auch seine Werke nicht zum vollen
warmen Leben. Der Grund davon ist auch hier, daß er eben nicht aus sich
selber das Gesetz beobachten kann. Oder er müßte denn, da ihm die Unmittel¬
barkeit fehlt, wie Lessing darauf bedacht sein, auf indirekten Wege mit Hilfe des
scharf sichtenden Verstandes zur Einsicht und zur Fähigkeit zu gelangen. Denn
dazu hat er allerdings wie jener die heiligste Verpflichtung. Der Individualismus
oder das Recht des Einzelnen darf sich außer in der Erfindung doch nur in
der äußern Anordnung sowie in der Diktion und Farbengebung geltend macheu.
Im übrigen herrscht wie überall so auch hier die ganz bestimmte Ordnung, die
man ungestraft nicht verletzen kann. Das ist eine so unumstößliche Wahrheit,
daß die Werke jedes Dichters in demselben Maße an Schönheit und innerem
Werte verlieren, als sie sich von diesen Gesetzen abwenden, und genau in derselben
Proportion gewinnen, in welcher sie sich bewußt oder unbewußt von ihnen
leiten lassen.

Was Wildenbruch betrifft, so ist das erstere am „Harold" und an den „Karo¬
lingern" sattsam nachgewiesen worden. Dagegen ist der Kritiker in der erfreu¬
lichen Lage, das zweite an zwei andern Stücken desselben Dichters darthun zu
könne,,. Es ist ohne Zweifel, daß Wildenbruch mit den Schauspielen „Väter
und Söhne" und „Der Mennvnit" entschieden die besten Würfe gethan hat,
und nicht bloß aus den Gründen, von denen zuletzt die Rede war, sondern
auch aus andern, die uns jetzt zunächst beschäftigen mögen.

Fürs erste muß es als ein unzweifelhafter Vorzug bezeichnet werden, daß
er in beiden die Handlung auf rein vaterländischen Boden verlegt hat. Über¬
zeugungen und Gefühle, Neigungen und Leidenschaften, aus deren Widerspiel
ein Drama entsteht, können und dürfen allgemein menschlicher Natur sein, für
die rein künstlerische Beurteilung kommt es nicht darauf an, ob ihnen irgendein
nationales Gepräge aufgedrückt ist. Aber wird die Wahl in einem Volke ge¬
stellt, dessen patriotische Eigenschaften noch wesentlicher Steigerung bedürfen, so
liegt es auf der Hand, daß derjenige Stoff den Vorzug verdient, welchen der
Dichter in das nationale Gewand gekleidet hat. Wenn auch Schiller in einem
seiner kleinern Aufsätze „Die Schaubühne als eine moralische Anstalt betrachtet"


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341841_196733/479>, abgerufen am 15.01.2025.