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Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Viertes Quartal.

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Ans dem Stilfsor Joch.

genügt es, wenn jemand nur einen einzigen Winter die Gesellschaft meidet, um
für immer vergessen zu sein. Zumal jetzt bei dem Beginne der schönen Jahreszeit
hörte jede gesellige Verbindung von selbst auf, und so konnte Harald wie ein
verwunschener Prinz in seinem Atelier Hausen, ohne befürchten zu müssen, auch
nur einmal den Zauberbann seiner Einsamkeit gestört zu sehen. Sein Atelier
lag im Garten; die Häuser der Straße, welche erst vor kurzem am Nord¬
rande des Tiergartens entstanden war, standen zumeist noch leer; nur in das
eine oder andre war der wenig frohe Eigentümer eingezogen, um wenigstens
aus der eignen Wohnung den Nutzen zu ziehen, den einzigen, den ihm bisher
sein Spekulationsbau gewährte. Ab und zu gelang es noch, die leerstehenden
Wohnungen kleinen, in dürftigen Verhältnissen lebenden Beamten zu vermieten,
die dazu berufen waren, durch Trockeuwohnen die Räume für das Beziehen durch
reichere Nachfolger wohnlich zu machen. Haralds Hanse fehlten aber sogar die
Trockenwohner. Außer seinem Hauswirt, einem kleinen Maurerpolier, der die
wenigen Ersparnisse seiner mühevollen Thätigkeit auf diesen Hausbau verwandt
und sich überdies noch in drückende Schulden gestürzt hatte, wohnte niemand
in dem Hause, und was Harald an Aufwartung und Bedienung brauchte,
leistete ihm die alte Frau des Eigentümers. So konnte er ungestört seinem
eignen Kummer leben.

Da trat eines Tages Graf Jsenstein bei ihm ein; auch zu diesem war die
Nachricht von Vronis Flucht mit Lenormant gelangt, und es war in ihm ein
leiser Verdacht aufgestiegen, als ob der Künstler von diesem Ereignis schwer
betroffen sein müßte. Denn der Graf war ein scharfer Beobachter und ein
gewiegter Menschenkenner, und es war ihm nicht entgangen, daß das Interesse,
welches Harald im vergangnen Jahre bei dem Feste sür die Verunglückten
gezeigt hatte, in Vroni seinen Hauptbewegungsgrund haben mußte. So diskret
sich auch Harald benommen hatte, so genügte für den Scharfblick des Grafen
oft nur eine Bewegung, um daraus mehr zu erraten, als andre imstande waren.
Auch hatte der Graf den Künstler zu einem Besuch eingeladen, aber keine Ant¬
wort erhalten, weil Harald in den ersten Tagen seines Schmerzes die Karte
beiseite geworfen und nicht wieder an sie gedacht hatte. Gleich bei der ersten
Begrüßung merkte der Graf an dem apathischen Wesen des jungen Mannes, daß
ihn ein schwerer Kummer betroffen hatte, und er sah sich in seinen Vermutungen,
denen er sonst keinen Ausdruck verlieh, mir bestärkt. Der Graf hoffte, daß eine
ernste Arbeit und der damit verknüpfte Erfolg den Künstler wieder einem freudigem
Leben zurückgeben möchte, und so erzählte er im Laufe des Gesprächs, daß er
seinem Schwiegervater, einem alten Parlamentarier und Kunstfreund, in einem
Bilde ein Geburtstagsgeschenk machen wollte, zu welchem ihm Harald behilflich
sein müsse.

Das Bild muß aber aus dem Leben genommen sein, bemerkte der Graf,
und einen Gegenstand darstellen, welcher den geistigen Kampf unsrer Zeit cha-


Ans dem Stilfsor Joch.

genügt es, wenn jemand nur einen einzigen Winter die Gesellschaft meidet, um
für immer vergessen zu sein. Zumal jetzt bei dem Beginne der schönen Jahreszeit
hörte jede gesellige Verbindung von selbst auf, und so konnte Harald wie ein
verwunschener Prinz in seinem Atelier Hausen, ohne befürchten zu müssen, auch
nur einmal den Zauberbann seiner Einsamkeit gestört zu sehen. Sein Atelier
lag im Garten; die Häuser der Straße, welche erst vor kurzem am Nord¬
rande des Tiergartens entstanden war, standen zumeist noch leer; nur in das
eine oder andre war der wenig frohe Eigentümer eingezogen, um wenigstens
aus der eignen Wohnung den Nutzen zu ziehen, den einzigen, den ihm bisher
sein Spekulationsbau gewährte. Ab und zu gelang es noch, die leerstehenden
Wohnungen kleinen, in dürftigen Verhältnissen lebenden Beamten zu vermieten,
die dazu berufen waren, durch Trockeuwohnen die Räume für das Beziehen durch
reichere Nachfolger wohnlich zu machen. Haralds Hanse fehlten aber sogar die
Trockenwohner. Außer seinem Hauswirt, einem kleinen Maurerpolier, der die
wenigen Ersparnisse seiner mühevollen Thätigkeit auf diesen Hausbau verwandt
und sich überdies noch in drückende Schulden gestürzt hatte, wohnte niemand
in dem Hause, und was Harald an Aufwartung und Bedienung brauchte,
leistete ihm die alte Frau des Eigentümers. So konnte er ungestört seinem
eignen Kummer leben.

Da trat eines Tages Graf Jsenstein bei ihm ein; auch zu diesem war die
Nachricht von Vronis Flucht mit Lenormant gelangt, und es war in ihm ein
leiser Verdacht aufgestiegen, als ob der Künstler von diesem Ereignis schwer
betroffen sein müßte. Denn der Graf war ein scharfer Beobachter und ein
gewiegter Menschenkenner, und es war ihm nicht entgangen, daß das Interesse,
welches Harald im vergangnen Jahre bei dem Feste sür die Verunglückten
gezeigt hatte, in Vroni seinen Hauptbewegungsgrund haben mußte. So diskret
sich auch Harald benommen hatte, so genügte für den Scharfblick des Grafen
oft nur eine Bewegung, um daraus mehr zu erraten, als andre imstande waren.
Auch hatte der Graf den Künstler zu einem Besuch eingeladen, aber keine Ant¬
wort erhalten, weil Harald in den ersten Tagen seines Schmerzes die Karte
beiseite geworfen und nicht wieder an sie gedacht hatte. Gleich bei der ersten
Begrüßung merkte der Graf an dem apathischen Wesen des jungen Mannes, daß
ihn ein schwerer Kummer betroffen hatte, und er sah sich in seinen Vermutungen,
denen er sonst keinen Ausdruck verlieh, mir bestärkt. Der Graf hoffte, daß eine
ernste Arbeit und der damit verknüpfte Erfolg den Künstler wieder einem freudigem
Leben zurückgeben möchte, und so erzählte er im Laufe des Gesprächs, daß er
seinem Schwiegervater, einem alten Parlamentarier und Kunstfreund, in einem
Bilde ein Geburtstagsgeschenk machen wollte, zu welchem ihm Harald behilflich
sein müsse.

Das Bild muß aber aus dem Leben genommen sein, bemerkte der Graf,
und einen Gegenstand darstellen, welcher den geistigen Kampf unsrer Zeit cha-


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[0459] Ans dem Stilfsor Joch. genügt es, wenn jemand nur einen einzigen Winter die Gesellschaft meidet, um für immer vergessen zu sein. Zumal jetzt bei dem Beginne der schönen Jahreszeit hörte jede gesellige Verbindung von selbst auf, und so konnte Harald wie ein verwunschener Prinz in seinem Atelier Hausen, ohne befürchten zu müssen, auch nur einmal den Zauberbann seiner Einsamkeit gestört zu sehen. Sein Atelier lag im Garten; die Häuser der Straße, welche erst vor kurzem am Nord¬ rande des Tiergartens entstanden war, standen zumeist noch leer; nur in das eine oder andre war der wenig frohe Eigentümer eingezogen, um wenigstens aus der eignen Wohnung den Nutzen zu ziehen, den einzigen, den ihm bisher sein Spekulationsbau gewährte. Ab und zu gelang es noch, die leerstehenden Wohnungen kleinen, in dürftigen Verhältnissen lebenden Beamten zu vermieten, die dazu berufen waren, durch Trockeuwohnen die Räume für das Beziehen durch reichere Nachfolger wohnlich zu machen. Haralds Hanse fehlten aber sogar die Trockenwohner. Außer seinem Hauswirt, einem kleinen Maurerpolier, der die wenigen Ersparnisse seiner mühevollen Thätigkeit auf diesen Hausbau verwandt und sich überdies noch in drückende Schulden gestürzt hatte, wohnte niemand in dem Hause, und was Harald an Aufwartung und Bedienung brauchte, leistete ihm die alte Frau des Eigentümers. So konnte er ungestört seinem eignen Kummer leben. Da trat eines Tages Graf Jsenstein bei ihm ein; auch zu diesem war die Nachricht von Vronis Flucht mit Lenormant gelangt, und es war in ihm ein leiser Verdacht aufgestiegen, als ob der Künstler von diesem Ereignis schwer betroffen sein müßte. Denn der Graf war ein scharfer Beobachter und ein gewiegter Menschenkenner, und es war ihm nicht entgangen, daß das Interesse, welches Harald im vergangnen Jahre bei dem Feste sür die Verunglückten gezeigt hatte, in Vroni seinen Hauptbewegungsgrund haben mußte. So diskret sich auch Harald benommen hatte, so genügte für den Scharfblick des Grafen oft nur eine Bewegung, um daraus mehr zu erraten, als andre imstande waren. Auch hatte der Graf den Künstler zu einem Besuch eingeladen, aber keine Ant¬ wort erhalten, weil Harald in den ersten Tagen seines Schmerzes die Karte beiseite geworfen und nicht wieder an sie gedacht hatte. Gleich bei der ersten Begrüßung merkte der Graf an dem apathischen Wesen des jungen Mannes, daß ihn ein schwerer Kummer betroffen hatte, und er sah sich in seinen Vermutungen, denen er sonst keinen Ausdruck verlieh, mir bestärkt. Der Graf hoffte, daß eine ernste Arbeit und der damit verknüpfte Erfolg den Künstler wieder einem freudigem Leben zurückgeben möchte, und so erzählte er im Laufe des Gesprächs, daß er seinem Schwiegervater, einem alten Parlamentarier und Kunstfreund, in einem Bilde ein Geburtstagsgeschenk machen wollte, zu welchem ihm Harald behilflich sein müsse. Das Bild muß aber aus dem Leben genommen sein, bemerkte der Graf, und einen Gegenstand darstellen, welcher den geistigen Kampf unsrer Zeit cha-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341841_196733/459>, abgerufen am 15.01.2025.