Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Viertes Quartal.447 Brief in italienischer Sprache erhalten. Aber da ihn seine Kopfschmerzen wieder Verehrungswertester Herr. Ihre Gastfreundschaft und die Unschuld Ihres Kindes werden auf das Keller wurde ohnmächtig; als er wieder zu sich kam, war seines Jammers Beide, die sich in dem gemeinsamen Schmerze noch näher zu einander 447 Brief in italienischer Sprache erhalten. Aber da ihn seine Kopfschmerzen wieder Verehrungswertester Herr. Ihre Gastfreundschaft und die Unschuld Ihres Kindes werden auf das Keller wurde ohnmächtig; als er wieder zu sich kam, war seines Jammers Beide, die sich in dem gemeinsamen Schmerze noch näher zu einander <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <div n="2"> <pb facs="#f0455" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/197189"/> <p xml:id="ID_1452" next="#ID_1453"> 447</p><lb/> <p xml:id="ID_1453" prev="#ID_1452"> Brief in italienischer Sprache erhalten. Aber da ihn seine Kopfschmerzen wieder<lb/> heftig plagten und er der Sprache nicht so mächtig war, um den unorthographisch<lb/> und in fast unentzifferbarer Schrift geschriebenen Brief zu enträtseln, so hatte<lb/> er ihn beiseite gelegt, um ihn Vroni zu zeigen. Aber sein Unwohlsein war<lb/> immer stärker geworden, und deshalb hatte er sich zu Bette begeben, ohne die<lb/> Rückkehr der Tochter vom Theater abzuwarten. Am heutigen Morgen hörte er<lb/> beim Erwachen zu seinem Schreck, daß das Fräulein nicht zurückgekehrt, statt<lb/> ihrer aber noch in der Nacht ein Brief angekommen sei, sodaß die Dienerschaft<lb/> geglaubt habe, Vroni sei, wie es wohl gelegentlich vorgekommen, nach dem Theater<lb/> zu einer Freundin gegangen und habe bei dieser übernachtet. In dem Briefe<lb/> setzte Vroni den Vater von ihrem Entschlüsse in Kenntnis und hoffte von der<lb/> Philosophische» Anschauungsweise desselben Billigung und Verzeihen. Die Flucht<lb/> sei lediglich auf Zureden Lenormants erfolgt, der mit dem Ende seines Spieles<lb/> in Berlin argwöhnte, daß man seine Abwesenheit dazu benutzen könnte, die Ge¬<lb/> liebte durch Verleumdung von ihm abtrünnig zu machen und der namentlich<lb/> in Harald einen gefährlichen Nebenbuhler fürchtete. Nach der Trauung, die<lb/> in Paris stattfinden würde, werde sie dem Vater weitere Nachricht geben, den<lb/> sie bei ihrem Gastspiel im nächsten Winter in Berlin wiedersehen wolle. Keller<lb/> gab sodann Harald den anonymen italienischen Brief zu lesen. Dieser lautete:</p><lb/> <note type="salute"> Verehrungswertester Herr.</note><lb/> <p xml:id="ID_1454"> Ihre Gastfreundschaft und die Unschuld Ihres Kindes werden auf das<lb/> schnödeste mißbraucht. Mr. Lenormaut ist längst verheiratet, seine Tochter<lb/> hat bereits vergangnen Winter in San Carlo gesungen. Es ist nicht das<lb/> erstemal, daß Lcnormcmt die Unschuld verführt. Auch die Schreiberin dieses<lb/> Briefes ist eines seiner vielen Opfer.</p><lb/> <p xml:id="ID_1455"> Keller wurde ohnmächtig; als er wieder zu sich kam, war seines Jammers<lb/> kein Ende: Verloren ist meine einzige Hoffnung, zu gründe gerichtet mein<lb/> ganzes System, mein ganzes Leben! Und ungeachtet des eignen Schmerzes<lb/> ^'griff Harald ein tiefes Mitleiden zu diesem Manne, der mit seiner Tochter<lb/> auch seine ganze Lebensaufgabe zerstört sah.</p><lb/> <p xml:id="ID_1456" next="#ID_1457"> Beide, die sich in dem gemeinsamen Schmerze noch näher zu einander<lb/> gefunden hatten, berieten, was zu thun sei. Der anonyme Brief war<lb/> eigentlich das schlimmste bei der Sache; wenn sein Inhalt die Wahrheit<lb/> enthielt, dann hatte Vroni nicht bloß ihren Vater und Harald, sondern auch<lb/> sich selbst im höchsten Grade unglücklich gemacht. Die Schriftzüge ließen auf<lb/> eine Frauenhand schließen, und gerade dies schien für die Nichtigkeit dieses<lb/> Inhalts zu sprechen. Auf der andern Seite war die Anonymität ein Deckmantel<lb/> der Feigheit und das bequemste Mittel, das Gift der Verleumdung auszustreuen.<lb/> Aber wie einmal die Würfel gefallen waren, gab es kein andres Mittel, als<lb/> Vroni, welche selbst den entscheidenden Schritt gethan hatte, des Weiteren<lb/> gewähren zu lassen. Keller wie Harald waren darin einig, daß, wenn die Be-</p><lb/> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0455]
447
Brief in italienischer Sprache erhalten. Aber da ihn seine Kopfschmerzen wieder
heftig plagten und er der Sprache nicht so mächtig war, um den unorthographisch
und in fast unentzifferbarer Schrift geschriebenen Brief zu enträtseln, so hatte
er ihn beiseite gelegt, um ihn Vroni zu zeigen. Aber sein Unwohlsein war
immer stärker geworden, und deshalb hatte er sich zu Bette begeben, ohne die
Rückkehr der Tochter vom Theater abzuwarten. Am heutigen Morgen hörte er
beim Erwachen zu seinem Schreck, daß das Fräulein nicht zurückgekehrt, statt
ihrer aber noch in der Nacht ein Brief angekommen sei, sodaß die Dienerschaft
geglaubt habe, Vroni sei, wie es wohl gelegentlich vorgekommen, nach dem Theater
zu einer Freundin gegangen und habe bei dieser übernachtet. In dem Briefe
setzte Vroni den Vater von ihrem Entschlüsse in Kenntnis und hoffte von der
Philosophische» Anschauungsweise desselben Billigung und Verzeihen. Die Flucht
sei lediglich auf Zureden Lenormants erfolgt, der mit dem Ende seines Spieles
in Berlin argwöhnte, daß man seine Abwesenheit dazu benutzen könnte, die Ge¬
liebte durch Verleumdung von ihm abtrünnig zu machen und der namentlich
in Harald einen gefährlichen Nebenbuhler fürchtete. Nach der Trauung, die
in Paris stattfinden würde, werde sie dem Vater weitere Nachricht geben, den
sie bei ihrem Gastspiel im nächsten Winter in Berlin wiedersehen wolle. Keller
gab sodann Harald den anonymen italienischen Brief zu lesen. Dieser lautete:
Verehrungswertester Herr.
Ihre Gastfreundschaft und die Unschuld Ihres Kindes werden auf das
schnödeste mißbraucht. Mr. Lenormaut ist längst verheiratet, seine Tochter
hat bereits vergangnen Winter in San Carlo gesungen. Es ist nicht das
erstemal, daß Lcnormcmt die Unschuld verführt. Auch die Schreiberin dieses
Briefes ist eines seiner vielen Opfer.
Keller wurde ohnmächtig; als er wieder zu sich kam, war seines Jammers
kein Ende: Verloren ist meine einzige Hoffnung, zu gründe gerichtet mein
ganzes System, mein ganzes Leben! Und ungeachtet des eignen Schmerzes
^'griff Harald ein tiefes Mitleiden zu diesem Manne, der mit seiner Tochter
auch seine ganze Lebensaufgabe zerstört sah.
Beide, die sich in dem gemeinsamen Schmerze noch näher zu einander
gefunden hatten, berieten, was zu thun sei. Der anonyme Brief war
eigentlich das schlimmste bei der Sache; wenn sein Inhalt die Wahrheit
enthielt, dann hatte Vroni nicht bloß ihren Vater und Harald, sondern auch
sich selbst im höchsten Grade unglücklich gemacht. Die Schriftzüge ließen auf
eine Frauenhand schließen, und gerade dies schien für die Nichtigkeit dieses
Inhalts zu sprechen. Auf der andern Seite war die Anonymität ein Deckmantel
der Feigheit und das bequemste Mittel, das Gift der Verleumdung auszustreuen.
Aber wie einmal die Würfel gefallen waren, gab es kein andres Mittel, als
Vroni, welche selbst den entscheidenden Schritt gethan hatte, des Weiteren
gewähren zu lassen. Keller wie Harald waren darin einig, daß, wenn die Be-
Informationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
FeedbackSie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden. Kommentar zur DTA-AusgabeDieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen … Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.
Weitere Informationen:Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur. Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (ꝛ): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja; Nachkorrektur erfolgte automatisch.
|
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden. Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des § 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2025 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften.
Kontakt: redaktion(at)deutschestextarchiv.de. |