Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Viertes Quartal.Iwan Gontscharow, Schwägerin hat ihn sarkastisch über die einfältigen Provinzler gestimmt, aber Iwan Gontscharow, Schwägerin hat ihn sarkastisch über die einfältigen Provinzler gestimmt, aber <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0436" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/197170"/> <fw type="header" place="top"> Iwan Gontscharow,</fw><lb/> <p xml:id="ID_1408" prev="#ID_1407" next="#ID_1409"> Schwägerin hat ihn sarkastisch über die einfältigen Provinzler gestimmt, aber<lb/> er erinnerte sich der Wohlthaten, die sie ihm vor siebzehn Jahren, als er noch<lb/> nicht der reiche Fabrikherr wie jetzt, sondern am Beginne seiner in strenger<lb/> Arbeit zurückgelegten Laufbahn war, erwiesen hatte, und empfing den Neffen.<lb/> Daß Alexander den guten Takt hatte, ihm nicht gleich von der Reise ganz un¬<lb/> vorbereitet ins Haus zu fallen, gefällt ihm. Aber sonst wohl weniges. Die senti¬<lb/> mentale Zärtlichkeit, das weibische Mitteilungsbedürfnis, die schwülstigen, schön¬<lb/> geistigen Redewendungen, ja selbst die altmodische Kleidung hat er zu tadeln.<lb/> Alexander fällt aus allen Himmeln. Bisher war er der geistreichste und hübscheste<lb/> und eleganteste junge Mann in seiner Gegend, ja er schmeichelt sich, ein hoff¬<lb/> nungsvoller Dichter zusein, und der Onkel behandelt ihn so wegwerfend! Nicht<lb/> einmal umarmen ließ er sich. Endlich fragt dieser: „Warum bist du herge¬<lb/> kommen?" — „Ich bin gekommen, um zu . . . leben." — „Leben? Wenn du<lb/> darunter essen, trinken und schlafen meinst, so war es nicht der Mühe wert, so<lb/> weit zu reisen. Das alles würde dir zu Hanse viel besser gelingen; doch ist<lb/> es etwas andres, was du meinst, so erkläre dich." — „Um das Leben zu ge¬<lb/> nießen, wollte ich sagen," setzte Alexander errötend hinzu. „Ich bin des Landlebens<lb/> überdrüssig — immer das ewige Einerlei ..." Der Onkel beweist ihm schließlich<lb/> daß er nicht wisse, was er wolle, daß er mit seinem geringen Vermögen in Peters¬<lb/> burg nicht das „Leben werde genießen" können, daß er eine Arbeit, eine Anstellung<lb/> suchen müsse, die er ihm auch verschaffen wolle. „Sage mir, was du verstehst<lb/> und wozu du dich am meisten berufen fühlst?" — „Ich kenne die Theologie, das<lb/> bürgerliche Recht, die Kriminal-, Natur- und Volksgesetze, die Diplomatie, die<lb/> Neichsökvnomie, Philosophie, Ästhetik, Archäologie" — „Genug, genug! kannst<lb/> du aber auch gut russisch schreiben? Vorderhand ist es das Wichtigste." — „Welch<lb/> eine Frage, Onkel! Ob ich russisch zu schreiben verstehe!" rief Alexander und eilte<lb/> zur Kommode, wo er verschiedne Papiere hervorsuchte. Unterdessen hatte der<lb/> Onkel einen Brief von: Tische genommen und las ihn. Der Brief enthält die<lb/> Herzensergießungen des in allen seinen Schwärmereien und ganz besonders im<lb/> nüchternen Onkel enttäuschten Alexander an den Jugendfreund. Der Onkel findet<lb/> den Stil Pasfabel, zerreißt aber den Brief, zündet sich eine Zigarre damit an<lb/> und zwingt den Neffen folgendes Diktat niederzuschreiben, welches uns zugleich<lb/> in der kürzesten Form dieses zweite Lebensbild der Dichtung vorführt. „Mein<lb/> Onkel ist weder ein Dämon, noch ein Engel, sondern eben solch ein Mensch<lb/> wie die andern, nur etwas anders als wir ^Alexander und der Freund in der<lb/> Provinz^ beide. Sein Handeln und Fühlen ist irdisch; er meint, daß man sich<lb/> nicht zum Himmel emporschwingen müsse, da wir auf der Erde leben und zu<lb/> menschlichen Dingen berufen sind, und da der Himmel unser auch noch nicht<lb/> bedarf. Deshalb beschäftigt er sich nur mit irdischen Dingen und mit dem Lebe»,<lb/> so wie es ist, und nicht, wie wir es haben möchten. Er glaubt an alles Gute<lb/> und zugleich auch an alles Böse, an das Schöne und Schlechte. An Freund-</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0436]
Iwan Gontscharow,
Schwägerin hat ihn sarkastisch über die einfältigen Provinzler gestimmt, aber
er erinnerte sich der Wohlthaten, die sie ihm vor siebzehn Jahren, als er noch
nicht der reiche Fabrikherr wie jetzt, sondern am Beginne seiner in strenger
Arbeit zurückgelegten Laufbahn war, erwiesen hatte, und empfing den Neffen.
Daß Alexander den guten Takt hatte, ihm nicht gleich von der Reise ganz un¬
vorbereitet ins Haus zu fallen, gefällt ihm. Aber sonst wohl weniges. Die senti¬
mentale Zärtlichkeit, das weibische Mitteilungsbedürfnis, die schwülstigen, schön¬
geistigen Redewendungen, ja selbst die altmodische Kleidung hat er zu tadeln.
Alexander fällt aus allen Himmeln. Bisher war er der geistreichste und hübscheste
und eleganteste junge Mann in seiner Gegend, ja er schmeichelt sich, ein hoff¬
nungsvoller Dichter zusein, und der Onkel behandelt ihn so wegwerfend! Nicht
einmal umarmen ließ er sich. Endlich fragt dieser: „Warum bist du herge¬
kommen?" — „Ich bin gekommen, um zu . . . leben." — „Leben? Wenn du
darunter essen, trinken und schlafen meinst, so war es nicht der Mühe wert, so
weit zu reisen. Das alles würde dir zu Hanse viel besser gelingen; doch ist
es etwas andres, was du meinst, so erkläre dich." — „Um das Leben zu ge¬
nießen, wollte ich sagen," setzte Alexander errötend hinzu. „Ich bin des Landlebens
überdrüssig — immer das ewige Einerlei ..." Der Onkel beweist ihm schließlich
daß er nicht wisse, was er wolle, daß er mit seinem geringen Vermögen in Peters¬
burg nicht das „Leben werde genießen" können, daß er eine Arbeit, eine Anstellung
suchen müsse, die er ihm auch verschaffen wolle. „Sage mir, was du verstehst
und wozu du dich am meisten berufen fühlst?" — „Ich kenne die Theologie, das
bürgerliche Recht, die Kriminal-, Natur- und Volksgesetze, die Diplomatie, die
Neichsökvnomie, Philosophie, Ästhetik, Archäologie" — „Genug, genug! kannst
du aber auch gut russisch schreiben? Vorderhand ist es das Wichtigste." — „Welch
eine Frage, Onkel! Ob ich russisch zu schreiben verstehe!" rief Alexander und eilte
zur Kommode, wo er verschiedne Papiere hervorsuchte. Unterdessen hatte der
Onkel einen Brief von: Tische genommen und las ihn. Der Brief enthält die
Herzensergießungen des in allen seinen Schwärmereien und ganz besonders im
nüchternen Onkel enttäuschten Alexander an den Jugendfreund. Der Onkel findet
den Stil Pasfabel, zerreißt aber den Brief, zündet sich eine Zigarre damit an
und zwingt den Neffen folgendes Diktat niederzuschreiben, welches uns zugleich
in der kürzesten Form dieses zweite Lebensbild der Dichtung vorführt. „Mein
Onkel ist weder ein Dämon, noch ein Engel, sondern eben solch ein Mensch
wie die andern, nur etwas anders als wir ^Alexander und der Freund in der
Provinz^ beide. Sein Handeln und Fühlen ist irdisch; er meint, daß man sich
nicht zum Himmel emporschwingen müsse, da wir auf der Erde leben und zu
menschlichen Dingen berufen sind, und da der Himmel unser auch noch nicht
bedarf. Deshalb beschäftigt er sich nur mit irdischen Dingen und mit dem Lebe»,
so wie es ist, und nicht, wie wir es haben möchten. Er glaubt an alles Gute
und zugleich auch an alles Böse, an das Schöne und Schlechte. An Freund-
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