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Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Viertes Quartal.

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Berlin, wie es wächst und verschlingt.

Es überfällt einen eine Art Schreckensgefühl, wenn man sich diesen vor
zwanzig Jahren gegebenen Snchvcrhalt vergegenwärtigt. Denn wie lange noch,
so muß man sich sagen: Alles bebaut! Wie lange noch, so grenzt Berlin west¬
lich an den Grünewald und südlich an das Tempelhofer Feld -- den berühmten
Manöverplatz, auf dessen Preisgeben in absehbarer Zeit sicherlich nicht zu rechnen
ist --, und ist damit nach diesen Richtungen hin an zwei Grenzen angekommen,
über die es, als Stadt, schwerlich hinaus kann! Wie lange noch, so ist auch
süd- und nordöstlich und nördlich bis nach Rummelsburg, Weißensee und Pankow
hin kein Raum mehr, und es muß selbst nach diesen Seiten hin über stunden¬
weit entlegne Ortschaften hinausgegriffen werden! Was soll daraus schließlich
werden?

Sehen wir uns nun das heutige Berlin an, und zwar so, daß wir die
offenbar schon im Entstehen begriffenen Straßen, sowie die in nächster Zeit als
abgeschlossen zu betrachtenden Stadtteile überall anrechnen und schon in unsre
Betrachtung mit hineinziehen; denn diese ganze Betrachtung könnte nichts nützen,
wenn sie schon nach drei bis vier Jahren als überholt bezeichnet werden müßte.
Um mit dem Norden zu beginnen, so ist der Wedding heute ein schöner, gro߬
artiger Stadtteil geworden, mit Kirchen, öffentlichen Plätzen, Märkten :c.. durch¬
zogen von Pferdebahulinien, in regsten Verkehr mit allen Stadtteilen; und
über ihn hinaus reiht sich bereits, begünstigt durch die dort vorübergehende
Nordringbahn mit ihrer Gesundbrunnen-Station, Straße an Straße. Es wäre
zu viel gesagt, wollte man schon das ganze Terrain bis Pankow oder gar bis
Tegel als städtisch okkupirt bezeichnen, aber zu Ende dieses Jahrhunderts wird
auch daran nicht mehr viel fehlen. Ähnliches gilt von dem neben dem Wedding
gelegenen, östlich daranstoßenden Gebiete, dem eigentlichen "Norden von Berlin"
(früher "Rosenthaler Vorstadt"), mit seinem alten Viehhofe, an dessen Neubele-
bung für allerhand Zwecke eifrig gearbeitet wird; auch dies ist längst ein eigner,
allgemein als solcher betrachteter Stadtteil geworden, und wenn Berlin an dem¬
selben auch keine große Freude hat (es ist dies das eigentliche Svzialdemokraten-
viertel), so präsentirt er sich doch äußerlich uicht schlechter als die meisten andern.
Nun kommt der Nordosten, die Richtung nach Schönhausen und Weißensee.
Hier ist die Entwicklung allerdings lückenhafter und mehr auf bestimmte Straßcn-
züge beschränkt, aber auch hier findet sie in großem Maße statt. Natürlich
sind es nicht gerade Villen oder Prachtbauten, welche hier -- in der vom
klimatologischen Standpunkte ungünstigsten Richtung -- errichtet werden;
Wohnungen für kleine Leute und dem allgemeinen Bedürfnisse dienende Ge¬
schäfte, das allein entspricht der hier zu Tage tretenden Nachfrage. Immerhin
fehlt es nicht an Gurten, und schöne, alte Alleen geben den Hauptstraßen ein
ebenso freundliches wie stattliches Gepräge. Ähnliche Verhältnisse entwickeln
sich südlich oder südöstlich von dieser Gegend, um den neuen Viehhof her; in
Bezug auf schnelle Entstehung ganzer, starkbcwohnter Stadtteile dürfte dieser


Berlin, wie es wächst und verschlingt.

Es überfällt einen eine Art Schreckensgefühl, wenn man sich diesen vor
zwanzig Jahren gegebenen Snchvcrhalt vergegenwärtigt. Denn wie lange noch,
so muß man sich sagen: Alles bebaut! Wie lange noch, so grenzt Berlin west¬
lich an den Grünewald und südlich an das Tempelhofer Feld — den berühmten
Manöverplatz, auf dessen Preisgeben in absehbarer Zeit sicherlich nicht zu rechnen
ist —, und ist damit nach diesen Richtungen hin an zwei Grenzen angekommen,
über die es, als Stadt, schwerlich hinaus kann! Wie lange noch, so ist auch
süd- und nordöstlich und nördlich bis nach Rummelsburg, Weißensee und Pankow
hin kein Raum mehr, und es muß selbst nach diesen Seiten hin über stunden¬
weit entlegne Ortschaften hinausgegriffen werden! Was soll daraus schließlich
werden?

Sehen wir uns nun das heutige Berlin an, und zwar so, daß wir die
offenbar schon im Entstehen begriffenen Straßen, sowie die in nächster Zeit als
abgeschlossen zu betrachtenden Stadtteile überall anrechnen und schon in unsre
Betrachtung mit hineinziehen; denn diese ganze Betrachtung könnte nichts nützen,
wenn sie schon nach drei bis vier Jahren als überholt bezeichnet werden müßte.
Um mit dem Norden zu beginnen, so ist der Wedding heute ein schöner, gro߬
artiger Stadtteil geworden, mit Kirchen, öffentlichen Plätzen, Märkten :c.. durch¬
zogen von Pferdebahulinien, in regsten Verkehr mit allen Stadtteilen; und
über ihn hinaus reiht sich bereits, begünstigt durch die dort vorübergehende
Nordringbahn mit ihrer Gesundbrunnen-Station, Straße an Straße. Es wäre
zu viel gesagt, wollte man schon das ganze Terrain bis Pankow oder gar bis
Tegel als städtisch okkupirt bezeichnen, aber zu Ende dieses Jahrhunderts wird
auch daran nicht mehr viel fehlen. Ähnliches gilt von dem neben dem Wedding
gelegenen, östlich daranstoßenden Gebiete, dem eigentlichen „Norden von Berlin"
(früher „Rosenthaler Vorstadt"), mit seinem alten Viehhofe, an dessen Neubele-
bung für allerhand Zwecke eifrig gearbeitet wird; auch dies ist längst ein eigner,
allgemein als solcher betrachteter Stadtteil geworden, und wenn Berlin an dem¬
selben auch keine große Freude hat (es ist dies das eigentliche Svzialdemokraten-
viertel), so präsentirt er sich doch äußerlich uicht schlechter als die meisten andern.
Nun kommt der Nordosten, die Richtung nach Schönhausen und Weißensee.
Hier ist die Entwicklung allerdings lückenhafter und mehr auf bestimmte Straßcn-
züge beschränkt, aber auch hier findet sie in großem Maße statt. Natürlich
sind es nicht gerade Villen oder Prachtbauten, welche hier — in der vom
klimatologischen Standpunkte ungünstigsten Richtung — errichtet werden;
Wohnungen für kleine Leute und dem allgemeinen Bedürfnisse dienende Ge¬
schäfte, das allein entspricht der hier zu Tage tretenden Nachfrage. Immerhin
fehlt es nicht an Gurten, und schöne, alte Alleen geben den Hauptstraßen ein
ebenso freundliches wie stattliches Gepräge. Ähnliche Verhältnisse entwickeln
sich südlich oder südöstlich von dieser Gegend, um den neuen Viehhof her; in
Bezug auf schnelle Entstehung ganzer, starkbcwohnter Stadtteile dürfte dieser


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[0423] Berlin, wie es wächst und verschlingt. Es überfällt einen eine Art Schreckensgefühl, wenn man sich diesen vor zwanzig Jahren gegebenen Snchvcrhalt vergegenwärtigt. Denn wie lange noch, so muß man sich sagen: Alles bebaut! Wie lange noch, so grenzt Berlin west¬ lich an den Grünewald und südlich an das Tempelhofer Feld — den berühmten Manöverplatz, auf dessen Preisgeben in absehbarer Zeit sicherlich nicht zu rechnen ist —, und ist damit nach diesen Richtungen hin an zwei Grenzen angekommen, über die es, als Stadt, schwerlich hinaus kann! Wie lange noch, so ist auch süd- und nordöstlich und nördlich bis nach Rummelsburg, Weißensee und Pankow hin kein Raum mehr, und es muß selbst nach diesen Seiten hin über stunden¬ weit entlegne Ortschaften hinausgegriffen werden! Was soll daraus schließlich werden? Sehen wir uns nun das heutige Berlin an, und zwar so, daß wir die offenbar schon im Entstehen begriffenen Straßen, sowie die in nächster Zeit als abgeschlossen zu betrachtenden Stadtteile überall anrechnen und schon in unsre Betrachtung mit hineinziehen; denn diese ganze Betrachtung könnte nichts nützen, wenn sie schon nach drei bis vier Jahren als überholt bezeichnet werden müßte. Um mit dem Norden zu beginnen, so ist der Wedding heute ein schöner, gro߬ artiger Stadtteil geworden, mit Kirchen, öffentlichen Plätzen, Märkten :c.. durch¬ zogen von Pferdebahulinien, in regsten Verkehr mit allen Stadtteilen; und über ihn hinaus reiht sich bereits, begünstigt durch die dort vorübergehende Nordringbahn mit ihrer Gesundbrunnen-Station, Straße an Straße. Es wäre zu viel gesagt, wollte man schon das ganze Terrain bis Pankow oder gar bis Tegel als städtisch okkupirt bezeichnen, aber zu Ende dieses Jahrhunderts wird auch daran nicht mehr viel fehlen. Ähnliches gilt von dem neben dem Wedding gelegenen, östlich daranstoßenden Gebiete, dem eigentlichen „Norden von Berlin" (früher „Rosenthaler Vorstadt"), mit seinem alten Viehhofe, an dessen Neubele- bung für allerhand Zwecke eifrig gearbeitet wird; auch dies ist längst ein eigner, allgemein als solcher betrachteter Stadtteil geworden, und wenn Berlin an dem¬ selben auch keine große Freude hat (es ist dies das eigentliche Svzialdemokraten- viertel), so präsentirt er sich doch äußerlich uicht schlechter als die meisten andern. Nun kommt der Nordosten, die Richtung nach Schönhausen und Weißensee. Hier ist die Entwicklung allerdings lückenhafter und mehr auf bestimmte Straßcn- züge beschränkt, aber auch hier findet sie in großem Maße statt. Natürlich sind es nicht gerade Villen oder Prachtbauten, welche hier — in der vom klimatologischen Standpunkte ungünstigsten Richtung — errichtet werden; Wohnungen für kleine Leute und dem allgemeinen Bedürfnisse dienende Ge¬ schäfte, das allein entspricht der hier zu Tage tretenden Nachfrage. Immerhin fehlt es nicht an Gurten, und schöne, alte Alleen geben den Hauptstraßen ein ebenso freundliches wie stattliches Gepräge. Ähnliche Verhältnisse entwickeln sich südlich oder südöstlich von dieser Gegend, um den neuen Viehhof her; in Bezug auf schnelle Entstehung ganzer, starkbcwohnter Stadtteile dürfte dieser

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341841_196733/423>, abgerufen am 15.01.2025.