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Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Viertes Quartal.

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Der Nichtgewählte an die Wähler.

als etwa die tausendste Rede oder Nähmaschine. Ferner ist meine parlamen¬
tarische Thätigkeit viel freier und daher segensreicher, wenn ich nicht auf die
Ansichten und Wünsche von Wählern Rücksicht zu nehmen brauche. Wer will
mich hindern, das Volk zu vertreten, welches leider wieder einmal, und nicht
bloß in meinem Falle, in der Minderheit geblieben ist?

Doch ich nehme das soeben ausgesprochene "leider" zurück. Es ist besser
so. Da bekanntlich nur die Freisinnigen das Volk vertreten, und deren Anzahl
sich wieder erheblich vermindert hat, so ist der Beweis geliefert, daß die Schreckens¬
herrschaft, nnter welcher Preußen und Deutschland seufzen, eine stetige Vermin¬
derung des Volkes verschuldet. Diese Deduktion ist unanfechtbar, und ich hoffe,
daß dieselbe auf der Tribüne und in der Presse die richtige Verwertung finden
und von dem Statistiker des Freisinns, Herrn Geh. Rat Engel, "wissenschaft¬
lich" werde ausgenutzt werden.

Daher stimme ich wohl den Stimmführern der Partei, Alexander dem
Großen, Eugen dem Großen und allen den andern Großen, darin bei, daß die
angebliche Niederlage eigentlich ein Sieg sei, aber nicht ihrer Argumentation.
Sie sagen: "Wir haben ein Bein gebrochen -- welches Glück, da wir schon
darauf gefaßt waren, den Hals zu brechen." Das ist allerdings geistreich,
aber nicht richtig. Ein Glück müßte man es nennen, wenn die Partei noch
mehr in die Brüche gegangen wäre. Je winziger die Fraktion wird, desto deut¬
licher illustrirt ihre Minderzahl die bestehenden Zustände. Darum müssen wir
wünschen, daß es dahin komme (und es wird ja dahin kommen!), daß der ganze
Freisinn in der berühmten Droschke, welche Herr Richter dereinst für die kon¬
servative Partei in Bereitschaft hielt, zur Sitzung fahren kann: Herr Büchte-
mann als Fachmann auf dem Bock, Herr Löwe, wenn er noch mitwill, Hinten¬
auf. Will dann die Majorität des kleinen Häufleins spotten, dann werden wir
sie niederdonnern. "Ja," werden wir sprechen, "es ist so, eine so große Ver¬
sammlung, und doch die wirkliche Volksvertretung nur sechs Mann hoch. Das
ist die Frucht der verderblichen Negicrungspvlitik. So weit haben es der Kanzler
und seine Getreuen gebracht durch die rücksichtslose Anwendung der schnödesten
Gewaltmittel. Sie haben sich nicht gescheut, deu heiligen "Fortschritt" -ra ad-
Lurckuin zu führen und den "Freisinn" in seiner traurigen Nacktheit zu zeigen.
Sie haben gegen die von uns dekretirten ewigen Prinzipien die Unzufriedenen
zu befriedigen, die Hungernden zu speisen, den Enterbten ein Erbe zu verschaffen
gesucht. Sie haben den Irrglauben verbreitet, daß die längste Parlamentsrede
den Boden nicht ertragfähig mache und den Produkten nicht Absatz verschaffe.
Sie haben uns zum Trotze das Reich nach innen und nach außen befestigt, und
es aus purer Bosheit so eingerichtet, daß sie gegen uns immer Recht behielten.
Nun sehen wir die Folgen! Das ganze Volk nur noch von sechs weisen The-
banern vertreten, und nicht einmal so viele wären gerettet worden ohne den
Zuzug einiger Fähnlein von jenseits der Berge. Wie in den Zeiten der tiefsten


Der Nichtgewählte an die Wähler.

als etwa die tausendste Rede oder Nähmaschine. Ferner ist meine parlamen¬
tarische Thätigkeit viel freier und daher segensreicher, wenn ich nicht auf die
Ansichten und Wünsche von Wählern Rücksicht zu nehmen brauche. Wer will
mich hindern, das Volk zu vertreten, welches leider wieder einmal, und nicht
bloß in meinem Falle, in der Minderheit geblieben ist?

Doch ich nehme das soeben ausgesprochene „leider" zurück. Es ist besser
so. Da bekanntlich nur die Freisinnigen das Volk vertreten, und deren Anzahl
sich wieder erheblich vermindert hat, so ist der Beweis geliefert, daß die Schreckens¬
herrschaft, nnter welcher Preußen und Deutschland seufzen, eine stetige Vermin¬
derung des Volkes verschuldet. Diese Deduktion ist unanfechtbar, und ich hoffe,
daß dieselbe auf der Tribüne und in der Presse die richtige Verwertung finden
und von dem Statistiker des Freisinns, Herrn Geh. Rat Engel, „wissenschaft¬
lich" werde ausgenutzt werden.

Daher stimme ich wohl den Stimmführern der Partei, Alexander dem
Großen, Eugen dem Großen und allen den andern Großen, darin bei, daß die
angebliche Niederlage eigentlich ein Sieg sei, aber nicht ihrer Argumentation.
Sie sagen: „Wir haben ein Bein gebrochen — welches Glück, da wir schon
darauf gefaßt waren, den Hals zu brechen." Das ist allerdings geistreich,
aber nicht richtig. Ein Glück müßte man es nennen, wenn die Partei noch
mehr in die Brüche gegangen wäre. Je winziger die Fraktion wird, desto deut¬
licher illustrirt ihre Minderzahl die bestehenden Zustände. Darum müssen wir
wünschen, daß es dahin komme (und es wird ja dahin kommen!), daß der ganze
Freisinn in der berühmten Droschke, welche Herr Richter dereinst für die kon¬
servative Partei in Bereitschaft hielt, zur Sitzung fahren kann: Herr Büchte-
mann als Fachmann auf dem Bock, Herr Löwe, wenn er noch mitwill, Hinten¬
auf. Will dann die Majorität des kleinen Häufleins spotten, dann werden wir
sie niederdonnern. „Ja," werden wir sprechen, „es ist so, eine so große Ver¬
sammlung, und doch die wirkliche Volksvertretung nur sechs Mann hoch. Das
ist die Frucht der verderblichen Negicrungspvlitik. So weit haben es der Kanzler
und seine Getreuen gebracht durch die rücksichtslose Anwendung der schnödesten
Gewaltmittel. Sie haben sich nicht gescheut, deu heiligen „Fortschritt" -ra ad-
Lurckuin zu führen und den „Freisinn" in seiner traurigen Nacktheit zu zeigen.
Sie haben gegen die von uns dekretirten ewigen Prinzipien die Unzufriedenen
zu befriedigen, die Hungernden zu speisen, den Enterbten ein Erbe zu verschaffen
gesucht. Sie haben den Irrglauben verbreitet, daß die längste Parlamentsrede
den Boden nicht ertragfähig mache und den Produkten nicht Absatz verschaffe.
Sie haben uns zum Trotze das Reich nach innen und nach außen befestigt, und
es aus purer Bosheit so eingerichtet, daß sie gegen uns immer Recht behielten.
Nun sehen wir die Folgen! Das ganze Volk nur noch von sechs weisen The-
banern vertreten, und nicht einmal so viele wären gerettet worden ohne den
Zuzug einiger Fähnlein von jenseits der Berge. Wie in den Zeiten der tiefsten


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[0357] Der Nichtgewählte an die Wähler. als etwa die tausendste Rede oder Nähmaschine. Ferner ist meine parlamen¬ tarische Thätigkeit viel freier und daher segensreicher, wenn ich nicht auf die Ansichten und Wünsche von Wählern Rücksicht zu nehmen brauche. Wer will mich hindern, das Volk zu vertreten, welches leider wieder einmal, und nicht bloß in meinem Falle, in der Minderheit geblieben ist? Doch ich nehme das soeben ausgesprochene „leider" zurück. Es ist besser so. Da bekanntlich nur die Freisinnigen das Volk vertreten, und deren Anzahl sich wieder erheblich vermindert hat, so ist der Beweis geliefert, daß die Schreckens¬ herrschaft, nnter welcher Preußen und Deutschland seufzen, eine stetige Vermin¬ derung des Volkes verschuldet. Diese Deduktion ist unanfechtbar, und ich hoffe, daß dieselbe auf der Tribüne und in der Presse die richtige Verwertung finden und von dem Statistiker des Freisinns, Herrn Geh. Rat Engel, „wissenschaft¬ lich" werde ausgenutzt werden. Daher stimme ich wohl den Stimmführern der Partei, Alexander dem Großen, Eugen dem Großen und allen den andern Großen, darin bei, daß die angebliche Niederlage eigentlich ein Sieg sei, aber nicht ihrer Argumentation. Sie sagen: „Wir haben ein Bein gebrochen — welches Glück, da wir schon darauf gefaßt waren, den Hals zu brechen." Das ist allerdings geistreich, aber nicht richtig. Ein Glück müßte man es nennen, wenn die Partei noch mehr in die Brüche gegangen wäre. Je winziger die Fraktion wird, desto deut¬ licher illustrirt ihre Minderzahl die bestehenden Zustände. Darum müssen wir wünschen, daß es dahin komme (und es wird ja dahin kommen!), daß der ganze Freisinn in der berühmten Droschke, welche Herr Richter dereinst für die kon¬ servative Partei in Bereitschaft hielt, zur Sitzung fahren kann: Herr Büchte- mann als Fachmann auf dem Bock, Herr Löwe, wenn er noch mitwill, Hinten¬ auf. Will dann die Majorität des kleinen Häufleins spotten, dann werden wir sie niederdonnern. „Ja," werden wir sprechen, „es ist so, eine so große Ver¬ sammlung, und doch die wirkliche Volksvertretung nur sechs Mann hoch. Das ist die Frucht der verderblichen Negicrungspvlitik. So weit haben es der Kanzler und seine Getreuen gebracht durch die rücksichtslose Anwendung der schnödesten Gewaltmittel. Sie haben sich nicht gescheut, deu heiligen „Fortschritt" -ra ad- Lurckuin zu führen und den „Freisinn" in seiner traurigen Nacktheit zu zeigen. Sie haben gegen die von uns dekretirten ewigen Prinzipien die Unzufriedenen zu befriedigen, die Hungernden zu speisen, den Enterbten ein Erbe zu verschaffen gesucht. Sie haben den Irrglauben verbreitet, daß die längste Parlamentsrede den Boden nicht ertragfähig mache und den Produkten nicht Absatz verschaffe. Sie haben uns zum Trotze das Reich nach innen und nach außen befestigt, und es aus purer Bosheit so eingerichtet, daß sie gegen uns immer Recht behielten. Nun sehen wir die Folgen! Das ganze Volk nur noch von sechs weisen The- banern vertreten, und nicht einmal so viele wären gerettet worden ohne den Zuzug einiger Fähnlein von jenseits der Berge. Wie in den Zeiten der tiefsten

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341841_196733/357>, abgerufen am 15.01.2025.