Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Viertes Quartal.

Bild:
<< vorherige Seite
Lin Jesuit über Goethe.

die heutige Blüte der dortigen Industrie aus jenen Jahren mittelbar hervor¬
gegangen ist, übersieht er und bürdet den Schaden dem Volke auf, das ihn
garnicht zu tragen hatte.

Sogar die wunderbar rührende, Goethes edles Herz in reinstem Glänze
zeigende Weise, wie er sich eines durch verwickelte Schicksale, nicht ohne seine
Schuld, in Not geratenen Mannes annahm, ihn aus eignen Mitteln und durch
seinen menschenfreundlichen Zuspruch erhielt, entgeht der überall nur Gemeines
erblickenden Böswilligkeit nicht. Weil Goethe später den nach Thätigkeit sich
sehnenden Unglücklichen, dem er eine Anstellung nicht verschaffen konnte, zu
mancherlei Diensten gebrauchte, die ihm Unterhaltung boten und ihm auch einen
Zuschuß zu Goethes freiwilliger Gabe eintrugen, soll er nach Baumgartners Dar¬
stellung "den armen Hypochonder benutzt haben, damit er fröhlich Theater spielen,
mit den Damen liebeln und tausend andre Dinge treiben konnte" (S. 356). Wer
gegenüber den erhaltenen zwanzig Briefen Goethes an den Unglücklichen ein
solches Urteil zu fällen wagt, der muß jedes edeln menschlichen Gefühles bar
sein oder -- die Mission haben, Goethe zu verunglimpfen, um dem unkundigen
Leser schadenfroh zuzurufen: "Das ist der Götze des glaubenslosen Protestan¬
tismus und des Liberalismus!"

Auch ein schlechter Sohn muß Goethe gewesen sein, damit Baumgartner
sich mit einem "Pfui!" von ihm abwenden kann; er hat alle Zukunftshoffnungen
des Vaters zerstört, weil er, statt in Frankfurt zu bleiben, sich einem von diesem
stets mit vorurteilsvollen Mißtrauen angesehenen Fürstenhöfe widmete (S. 428).
Was würde Baumgartner sagen, wenn el" Vater, weil er darauf gerechnet, der
Sohn werde immer an seiner Seite bleiben, ihm die Erlaubnis versagte, in den
alle Familienbande zerreißenden Jesuitenorden zu treten? Goethe konnte nach
Baumgartner kein "wackrer, edeldenkender Sohn" fein, weil er dem Drange
seines Geistes folgte, Frankfurt verließ, wo er nicht zur vollsten Entwicklung
gelangen konnte; er sollte dem Rufe des ihm gewogenen Schicksals nicht folgen,
welches ihm das vollste Zutrauen eines jungen Fürsten schenkte, der ihm eine
ehrenvolle Laufbahn eröffnete und in der ihm fremden angestrengten Thätigkeit
ihm ein Gegengewicht gegen die leichte Entzündbarkeit seines Herzens gab.
Leichtfertig, wie immer, behauptet Baumgartner, die Freude über den Besuch
seines Sohnes in Begleitung des Herzogs habe des Alten Geist verwirrt --
eine für Baumgartners Zweck ganz unnötige Unwahrheit; denn wir wissen, daß
der Geist des Vaters schon früher abgestumpft war. Bitter empfand dies
Goethe, der kurz vor jenem Besuche an die Mutter schrieb: "Gott hat nicht
gewollt, daß der Vater die so sehnlich gewünschten Früchte genießen solle; er
hat ihm den Appetit verdorben. Nun so sei's!" Freilich hatte die Ankunft seines
Wolfgang dem Vater eine solche Freude bereitet, daß die Mutter fürchtete, er
sterbe auf der Stelle, und er noch lange nicht recht zu sich kommen konnte.
Wie wenn Johann Kaspar wirklich in der seligen Freude über des Sohnes


Lin Jesuit über Goethe.

die heutige Blüte der dortigen Industrie aus jenen Jahren mittelbar hervor¬
gegangen ist, übersieht er und bürdet den Schaden dem Volke auf, das ihn
garnicht zu tragen hatte.

Sogar die wunderbar rührende, Goethes edles Herz in reinstem Glänze
zeigende Weise, wie er sich eines durch verwickelte Schicksale, nicht ohne seine
Schuld, in Not geratenen Mannes annahm, ihn aus eignen Mitteln und durch
seinen menschenfreundlichen Zuspruch erhielt, entgeht der überall nur Gemeines
erblickenden Böswilligkeit nicht. Weil Goethe später den nach Thätigkeit sich
sehnenden Unglücklichen, dem er eine Anstellung nicht verschaffen konnte, zu
mancherlei Diensten gebrauchte, die ihm Unterhaltung boten und ihm auch einen
Zuschuß zu Goethes freiwilliger Gabe eintrugen, soll er nach Baumgartners Dar¬
stellung „den armen Hypochonder benutzt haben, damit er fröhlich Theater spielen,
mit den Damen liebeln und tausend andre Dinge treiben konnte" (S. 356). Wer
gegenüber den erhaltenen zwanzig Briefen Goethes an den Unglücklichen ein
solches Urteil zu fällen wagt, der muß jedes edeln menschlichen Gefühles bar
sein oder — die Mission haben, Goethe zu verunglimpfen, um dem unkundigen
Leser schadenfroh zuzurufen: „Das ist der Götze des glaubenslosen Protestan¬
tismus und des Liberalismus!"

Auch ein schlechter Sohn muß Goethe gewesen sein, damit Baumgartner
sich mit einem „Pfui!" von ihm abwenden kann; er hat alle Zukunftshoffnungen
des Vaters zerstört, weil er, statt in Frankfurt zu bleiben, sich einem von diesem
stets mit vorurteilsvollen Mißtrauen angesehenen Fürstenhöfe widmete (S. 428).
Was würde Baumgartner sagen, wenn el» Vater, weil er darauf gerechnet, der
Sohn werde immer an seiner Seite bleiben, ihm die Erlaubnis versagte, in den
alle Familienbande zerreißenden Jesuitenorden zu treten? Goethe konnte nach
Baumgartner kein „wackrer, edeldenkender Sohn" fein, weil er dem Drange
seines Geistes folgte, Frankfurt verließ, wo er nicht zur vollsten Entwicklung
gelangen konnte; er sollte dem Rufe des ihm gewogenen Schicksals nicht folgen,
welches ihm das vollste Zutrauen eines jungen Fürsten schenkte, der ihm eine
ehrenvolle Laufbahn eröffnete und in der ihm fremden angestrengten Thätigkeit
ihm ein Gegengewicht gegen die leichte Entzündbarkeit seines Herzens gab.
Leichtfertig, wie immer, behauptet Baumgartner, die Freude über den Besuch
seines Sohnes in Begleitung des Herzogs habe des Alten Geist verwirrt —
eine für Baumgartners Zweck ganz unnötige Unwahrheit; denn wir wissen, daß
der Geist des Vaters schon früher abgestumpft war. Bitter empfand dies
Goethe, der kurz vor jenem Besuche an die Mutter schrieb: „Gott hat nicht
gewollt, daß der Vater die so sehnlich gewünschten Früchte genießen solle; er
hat ihm den Appetit verdorben. Nun so sei's!" Freilich hatte die Ankunft seines
Wolfgang dem Vater eine solche Freude bereitet, daß die Mutter fürchtete, er
sterbe auf der Stelle, und er noch lange nicht recht zu sich kommen konnte.
Wie wenn Johann Kaspar wirklich in der seligen Freude über des Sohnes


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0334" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/197068"/>
          <fw type="header" place="top"> Lin Jesuit über Goethe.</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_1063" prev="#ID_1062"> die heutige Blüte der dortigen Industrie aus jenen Jahren mittelbar hervor¬<lb/>
gegangen ist, übersieht er und bürdet den Schaden dem Volke auf, das ihn<lb/>
garnicht zu tragen hatte.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1064"> Sogar die wunderbar rührende, Goethes edles Herz in reinstem Glänze<lb/>
zeigende Weise, wie er sich eines durch verwickelte Schicksale, nicht ohne seine<lb/>
Schuld, in Not geratenen Mannes annahm, ihn aus eignen Mitteln und durch<lb/>
seinen menschenfreundlichen Zuspruch erhielt, entgeht der überall nur Gemeines<lb/>
erblickenden Böswilligkeit nicht. Weil Goethe später den nach Thätigkeit sich<lb/>
sehnenden Unglücklichen, dem er eine Anstellung nicht verschaffen konnte, zu<lb/>
mancherlei Diensten gebrauchte, die ihm Unterhaltung boten und ihm auch einen<lb/>
Zuschuß zu Goethes freiwilliger Gabe eintrugen, soll er nach Baumgartners Dar¬<lb/>
stellung &#x201E;den armen Hypochonder benutzt haben, damit er fröhlich Theater spielen,<lb/>
mit den Damen liebeln und tausend andre Dinge treiben konnte" (S. 356). Wer<lb/>
gegenüber den erhaltenen zwanzig Briefen Goethes an den Unglücklichen ein<lb/>
solches Urteil zu fällen wagt, der muß jedes edeln menschlichen Gefühles bar<lb/>
sein oder &#x2014; die Mission haben, Goethe zu verunglimpfen, um dem unkundigen<lb/>
Leser schadenfroh zuzurufen: &#x201E;Das ist der Götze des glaubenslosen Protestan¬<lb/>
tismus und des Liberalismus!"</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1065" next="#ID_1066"> Auch ein schlechter Sohn muß Goethe gewesen sein, damit Baumgartner<lb/>
sich mit einem &#x201E;Pfui!" von ihm abwenden kann; er hat alle Zukunftshoffnungen<lb/>
des Vaters zerstört, weil er, statt in Frankfurt zu bleiben, sich einem von diesem<lb/>
stets mit vorurteilsvollen Mißtrauen angesehenen Fürstenhöfe widmete (S. 428).<lb/>
Was würde Baumgartner sagen, wenn el» Vater, weil er darauf gerechnet, der<lb/>
Sohn werde immer an seiner Seite bleiben, ihm die Erlaubnis versagte, in den<lb/>
alle Familienbande zerreißenden Jesuitenorden zu treten? Goethe konnte nach<lb/>
Baumgartner kein &#x201E;wackrer, edeldenkender Sohn" fein, weil er dem Drange<lb/>
seines Geistes folgte, Frankfurt verließ, wo er nicht zur vollsten Entwicklung<lb/>
gelangen konnte; er sollte dem Rufe des ihm gewogenen Schicksals nicht folgen,<lb/>
welches ihm das vollste Zutrauen eines jungen Fürsten schenkte, der ihm eine<lb/>
ehrenvolle Laufbahn eröffnete und in der ihm fremden angestrengten Thätigkeit<lb/>
ihm ein Gegengewicht gegen die leichte Entzündbarkeit seines Herzens gab.<lb/>
Leichtfertig, wie immer, behauptet Baumgartner, die Freude über den Besuch<lb/>
seines Sohnes in Begleitung des Herzogs habe des Alten Geist verwirrt &#x2014;<lb/>
eine für Baumgartners Zweck ganz unnötige Unwahrheit; denn wir wissen, daß<lb/>
der Geist des Vaters schon früher abgestumpft war. Bitter empfand dies<lb/>
Goethe, der kurz vor jenem Besuche an die Mutter schrieb: &#x201E;Gott hat nicht<lb/>
gewollt, daß der Vater die so sehnlich gewünschten Früchte genießen solle; er<lb/>
hat ihm den Appetit verdorben. Nun so sei's!" Freilich hatte die Ankunft seines<lb/>
Wolfgang dem Vater eine solche Freude bereitet, daß die Mutter fürchtete, er<lb/>
sterbe auf der Stelle, und er noch lange nicht recht zu sich kommen konnte.<lb/>
Wie wenn Johann Kaspar wirklich in der seligen Freude über des Sohnes</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0334] Lin Jesuit über Goethe. die heutige Blüte der dortigen Industrie aus jenen Jahren mittelbar hervor¬ gegangen ist, übersieht er und bürdet den Schaden dem Volke auf, das ihn garnicht zu tragen hatte. Sogar die wunderbar rührende, Goethes edles Herz in reinstem Glänze zeigende Weise, wie er sich eines durch verwickelte Schicksale, nicht ohne seine Schuld, in Not geratenen Mannes annahm, ihn aus eignen Mitteln und durch seinen menschenfreundlichen Zuspruch erhielt, entgeht der überall nur Gemeines erblickenden Böswilligkeit nicht. Weil Goethe später den nach Thätigkeit sich sehnenden Unglücklichen, dem er eine Anstellung nicht verschaffen konnte, zu mancherlei Diensten gebrauchte, die ihm Unterhaltung boten und ihm auch einen Zuschuß zu Goethes freiwilliger Gabe eintrugen, soll er nach Baumgartners Dar¬ stellung „den armen Hypochonder benutzt haben, damit er fröhlich Theater spielen, mit den Damen liebeln und tausend andre Dinge treiben konnte" (S. 356). Wer gegenüber den erhaltenen zwanzig Briefen Goethes an den Unglücklichen ein solches Urteil zu fällen wagt, der muß jedes edeln menschlichen Gefühles bar sein oder — die Mission haben, Goethe zu verunglimpfen, um dem unkundigen Leser schadenfroh zuzurufen: „Das ist der Götze des glaubenslosen Protestan¬ tismus und des Liberalismus!" Auch ein schlechter Sohn muß Goethe gewesen sein, damit Baumgartner sich mit einem „Pfui!" von ihm abwenden kann; er hat alle Zukunftshoffnungen des Vaters zerstört, weil er, statt in Frankfurt zu bleiben, sich einem von diesem stets mit vorurteilsvollen Mißtrauen angesehenen Fürstenhöfe widmete (S. 428). Was würde Baumgartner sagen, wenn el» Vater, weil er darauf gerechnet, der Sohn werde immer an seiner Seite bleiben, ihm die Erlaubnis versagte, in den alle Familienbande zerreißenden Jesuitenorden zu treten? Goethe konnte nach Baumgartner kein „wackrer, edeldenkender Sohn" fein, weil er dem Drange seines Geistes folgte, Frankfurt verließ, wo er nicht zur vollsten Entwicklung gelangen konnte; er sollte dem Rufe des ihm gewogenen Schicksals nicht folgen, welches ihm das vollste Zutrauen eines jungen Fürsten schenkte, der ihm eine ehrenvolle Laufbahn eröffnete und in der ihm fremden angestrengten Thätigkeit ihm ein Gegengewicht gegen die leichte Entzündbarkeit seines Herzens gab. Leichtfertig, wie immer, behauptet Baumgartner, die Freude über den Besuch seines Sohnes in Begleitung des Herzogs habe des Alten Geist verwirrt — eine für Baumgartners Zweck ganz unnötige Unwahrheit; denn wir wissen, daß der Geist des Vaters schon früher abgestumpft war. Bitter empfand dies Goethe, der kurz vor jenem Besuche an die Mutter schrieb: „Gott hat nicht gewollt, daß der Vater die so sehnlich gewünschten Früchte genießen solle; er hat ihm den Appetit verdorben. Nun so sei's!" Freilich hatte die Ankunft seines Wolfgang dem Vater eine solche Freude bereitet, daß die Mutter fürchtete, er sterbe auf der Stelle, und er noch lange nicht recht zu sich kommen konnte. Wie wenn Johann Kaspar wirklich in der seligen Freude über des Sohnes

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341841_196733
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341841_196733/334
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341841_196733/334>, abgerufen am 15.01.2025.