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Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Viertes Quartal.

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Gin Jesuit über Goethe.

Leute prunken gerade mit dem am liebsten, von dem sie die schwächste Kenntnis
haben. Größere Werke, die bedeutende Aufsätze gesammelt enthalten, ohne daß
der Titel vom einzelnen Kunde gäbe, wird man kaum angeführt finden, dagegen
das "Goethe-Jahrbuch," das Baumgartner natürlich in niedriger Weise bespottet,
manche Zeitschriften und Zeitungen bis zum Konversationslexikon herab. Titel
kann man sich leicht aus bibliographischen Werken abschreiben und sie ohne
Beziehung auf bestimmte Stellen in den Anmerkungen aufmarschiren lassen.
Höchst unangenehm fällt das Prunken mit Zitaten auf. Oft werden mehrere
gegeben, neben dem zutreffenden die durchaus unnötigen daraus abgeleiteten,
wie S. 24, 267, 269, ja zuweilen folgt das ursprüngliche erst auf das ab¬
geleitete, wie S. 51, 277. Auch fehlt wohl die eigentliche Quelle, und es werden
nur von dieser abhängige gegeben, wie S. 7Z, 155, 271. Ganz irriges läuft
verräterisch mit unter. Wenn es S. 57 heißt: "Varnhagen von Ense, an sich
kein sehr glaubwürdiger Zeuge, nimmt den wirklichen Fall Friederikens an," so
möchten wir Baumgartner die Glaubwürdigkeit jenes ausgezeichneten Kenners
wünschen. Die Angabe ist wunderbar verfehlt. Nicht um Varnhagen handelt
es sich, sondern um einen von ihm herausgegebenen Bericht Nükes; aber auch
Näke zeugt nicht, sondern er berichtet nnr, was er von dem protestantischen Pfarrer
in Sessenheim gehört hat. Und wir wisse" jetzt, daß die Sache nur eine gehässige
Klatscherei gegen deu katholischen Amtsgenossen war, ja daß Näke in seinem
Nachlaß diesen ihm zugebrachten gemeinen Klatsch widerrufen hat. Vou alledem
war also garnichts anzuführen und besonders Varnhagen aus dem Spiele zu
lassen, der an Fnederikens Unschuld glaubte. Der kürzlich verstorbene Pfarrer
Lucius hat für jeden, der die Wahrheit liebt, gegen die von katholischen Geist¬
lichen gesponnene freche Verleumdung, die Geburt eines Kindes Friederikens werde
durch ein Taufbuch bestätigt, den Beweis geliefert, daß diese im Elsaß immerfort
als unbescholten gegolten hat. Das ist freilich dem Jesuitenpater nicht recht,
und so wagt er die Behauptung, diese Argumente seien nicht durchschlagend, ja
Goethes eigne Erzählung scheint ihm Friederikens Verführung psychologisch sehr
wahrscheinlich zu machen. Die psychologische Wahrscheinlichkeit kann einzig darin
liegen, daß es, da die Eltern den Liebenden den freiesten Verkehr gestattet hatten,
bei der Sündhaftigkeit der Menschen und Goethes Heißblütigkeit fast unmöglich
sei, das Mädchen sei nicht zu Falle gekommen. Aber nicht allein Goethes ganze
Erzählung beweist das Gegenteil, sondern auch sein Besuch des Scssenheimer
Pfarrhauses im September 1779; Hütte er die Geliebte so schnöde betrogen,
er würde sich wohl gehütet haben, ihr und den Eltern noch einmal vor die
Augen zu treten. Aber je mehr Steine er gewissenlos auf Goethe werfen kann,
umso größer ist die Freude unsers s-ävaeatus ämboli.

Wenn Baumgartner auch vieles und für die Bestimmung des Buches zu
viel, zu kenntnislos und zu bunt durcheinander zitirt, so fehlen doch manche für
seinen Zweck sehr wichtige Schriften. An erster Stelle nennen wir die auf ge-


Grenzboten. IV. 1885. 41
Gin Jesuit über Goethe.

Leute prunken gerade mit dem am liebsten, von dem sie die schwächste Kenntnis
haben. Größere Werke, die bedeutende Aufsätze gesammelt enthalten, ohne daß
der Titel vom einzelnen Kunde gäbe, wird man kaum angeführt finden, dagegen
das „Goethe-Jahrbuch," das Baumgartner natürlich in niedriger Weise bespottet,
manche Zeitschriften und Zeitungen bis zum Konversationslexikon herab. Titel
kann man sich leicht aus bibliographischen Werken abschreiben und sie ohne
Beziehung auf bestimmte Stellen in den Anmerkungen aufmarschiren lassen.
Höchst unangenehm fällt das Prunken mit Zitaten auf. Oft werden mehrere
gegeben, neben dem zutreffenden die durchaus unnötigen daraus abgeleiteten,
wie S. 24, 267, 269, ja zuweilen folgt das ursprüngliche erst auf das ab¬
geleitete, wie S. 51, 277. Auch fehlt wohl die eigentliche Quelle, und es werden
nur von dieser abhängige gegeben, wie S. 7Z, 155, 271. Ganz irriges läuft
verräterisch mit unter. Wenn es S. 57 heißt: „Varnhagen von Ense, an sich
kein sehr glaubwürdiger Zeuge, nimmt den wirklichen Fall Friederikens an," so
möchten wir Baumgartner die Glaubwürdigkeit jenes ausgezeichneten Kenners
wünschen. Die Angabe ist wunderbar verfehlt. Nicht um Varnhagen handelt
es sich, sondern um einen von ihm herausgegebenen Bericht Nükes; aber auch
Näke zeugt nicht, sondern er berichtet nnr, was er von dem protestantischen Pfarrer
in Sessenheim gehört hat. Und wir wisse» jetzt, daß die Sache nur eine gehässige
Klatscherei gegen deu katholischen Amtsgenossen war, ja daß Näke in seinem
Nachlaß diesen ihm zugebrachten gemeinen Klatsch widerrufen hat. Vou alledem
war also garnichts anzuführen und besonders Varnhagen aus dem Spiele zu
lassen, der an Fnederikens Unschuld glaubte. Der kürzlich verstorbene Pfarrer
Lucius hat für jeden, der die Wahrheit liebt, gegen die von katholischen Geist¬
lichen gesponnene freche Verleumdung, die Geburt eines Kindes Friederikens werde
durch ein Taufbuch bestätigt, den Beweis geliefert, daß diese im Elsaß immerfort
als unbescholten gegolten hat. Das ist freilich dem Jesuitenpater nicht recht,
und so wagt er die Behauptung, diese Argumente seien nicht durchschlagend, ja
Goethes eigne Erzählung scheint ihm Friederikens Verführung psychologisch sehr
wahrscheinlich zu machen. Die psychologische Wahrscheinlichkeit kann einzig darin
liegen, daß es, da die Eltern den Liebenden den freiesten Verkehr gestattet hatten,
bei der Sündhaftigkeit der Menschen und Goethes Heißblütigkeit fast unmöglich
sei, das Mädchen sei nicht zu Falle gekommen. Aber nicht allein Goethes ganze
Erzählung beweist das Gegenteil, sondern auch sein Besuch des Scssenheimer
Pfarrhauses im September 1779; Hütte er die Geliebte so schnöde betrogen,
er würde sich wohl gehütet haben, ihr und den Eltern noch einmal vor die
Augen zu treten. Aber je mehr Steine er gewissenlos auf Goethe werfen kann,
umso größer ist die Freude unsers s-ävaeatus ämboli.

Wenn Baumgartner auch vieles und für die Bestimmung des Buches zu
viel, zu kenntnislos und zu bunt durcheinander zitirt, so fehlen doch manche für
seinen Zweck sehr wichtige Schriften. An erster Stelle nennen wir die auf ge-


Grenzboten. IV. 1885. 41
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341841_196733/329>, abgerufen am 15.01.2025.