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Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Viertes Quartal.

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Zur Geschichte des gelehrten Unterrichts.

1818 nur 91, während um 1750, als Preußen um die Hälfte weniger Ein¬
wohner hatte, etwa 400 Lateinschulen bestanden hatten. Die vom Staate nicht
anerkannten Lateinschulen gestalteten sich allmählich in Bürgerschulen, Real¬
schulen und Progymnasien um. Ein nicht minder wichtiger Vorgang war die
allmähliche Trennung des Schulwesens von der kirchlichen Verwaltung. Zunächst
wurde 1787 ein Oberschulkollegium mit der allgemeinen Oberaufsicht über das
gesamte Schulwesen betraut und 1808 eine eigne Abteilung im Ministerium
des Innern für die Verwaltung der Extcrnn des Unterrichtswesens begründet,
deren erster Leiter W. v. Humboldt wurde. Eine "wissenschaftliche Deputation"
in Berlin trat als beratende Sachverständigenkommission für die innere päda¬
gogisch-technische Leitung der Verwaltung zur Seite. Mit der Errichtung von
Provinzialschulkvllegien wurde 1825 die Verstaatlichn"", der Gymnasialver¬
waltung vollendet; ein Provinzialschnlrat, in der Regel ein Philologe, welcher
in die Regierung übertritt, steht nun an der Spitze des Gymnasinlwesens jeder
Provinz. Parallel mit dieser Umgestaltung der äußern geht eine völlige Neu¬
gestaltung der innern Verhältnisse. Bis 1810 galt die allgemeine theo¬
logische Prüfung zugleich als Lehramtsprüfung, das empfehlende Zeugnis eines
Universitätslehrers mochte denselben Wert haben, höchstens wurde noch eine
Probelektion abgelegt. Erst 1810 wurde eine allgemeine Lehramtsprüfung ein¬
geführt, welche mir die wissenschaftliche Befähigung zur Übernahme eines Lehr¬
amtes überhaupt ermitteln sollte; die Befähigung für eine bestimmte Stelle
sollte dnrch eine besondre Prüfung ermittelt werden. Humboldts Erwartung,
daß sich hierdurch mit der Zeit ein Lehrerstand, erfüllt von einem einheitlichen
Gesamtgeiste, bilden werde, wurde nicht getäuscht.

Ebenso wurden nun Reglements für die Abitnrientcnprüfungcn geschaffen,
um die vorhandenen großen Ungleichheiten zu beseitigen, und nur wenige Jahre
später, 1816, ward ein Normallehrplan veröffentlicht, welcher als die drei Haupt-
gegenstände des Gymnasialuntcrrichts Lateinisch, Griechisch und Mathematik
bezeichnete. Besondre Lektionen über Literatur, Geographie, Antiquitäten und
Mythologie der Griechen und Römer, die allgemeine Encyklopädie der Wissen¬
schaften, Philosophie, Logik, Ästhetik und Rhetorik, ebenso das Französische
wurden aus dem Lehrkursus ausdrücklich entfernt. Wolf äußerte sich über diese
beiden letztern Verordnungen: "Ich bin wie von eigner Existenz überzeugt, daß
in einer Korporation der gelehrtesten Leute äußerst wenige sind, die nach eben
diesen: Maßstabe das prachtvolle "Unbedingt tüchtig" (Nota I) noch im vier¬
zigsten Jahre verdienen würden, wenn ich mir so viel Griechisch und Latein,
so viel Geschichte, so viel Mathematik und Physik und das alles nebeneinander
überdenke"; namentlich findet er die Forderungen im Griechischen zu hoch.
Paniscus weitere Darstellung läßt erkennen, wie günstig zum Teil die Reformen
gewirkt haben, es erwuchs ein Lehrerstand, der wirklich Liebe zum Berufe und
zu den Schülern hatte, dazu kam, daß den von den Ideen des Neuhumanismus


Zur Geschichte des gelehrten Unterrichts.

1818 nur 91, während um 1750, als Preußen um die Hälfte weniger Ein¬
wohner hatte, etwa 400 Lateinschulen bestanden hatten. Die vom Staate nicht
anerkannten Lateinschulen gestalteten sich allmählich in Bürgerschulen, Real¬
schulen und Progymnasien um. Ein nicht minder wichtiger Vorgang war die
allmähliche Trennung des Schulwesens von der kirchlichen Verwaltung. Zunächst
wurde 1787 ein Oberschulkollegium mit der allgemeinen Oberaufsicht über das
gesamte Schulwesen betraut und 1808 eine eigne Abteilung im Ministerium
des Innern für die Verwaltung der Extcrnn des Unterrichtswesens begründet,
deren erster Leiter W. v. Humboldt wurde. Eine „wissenschaftliche Deputation"
in Berlin trat als beratende Sachverständigenkommission für die innere päda¬
gogisch-technische Leitung der Verwaltung zur Seite. Mit der Errichtung von
Provinzialschulkvllegien wurde 1825 die Verstaatlichn»«, der Gymnasialver¬
waltung vollendet; ein Provinzialschnlrat, in der Regel ein Philologe, welcher
in die Regierung übertritt, steht nun an der Spitze des Gymnasinlwesens jeder
Provinz. Parallel mit dieser Umgestaltung der äußern geht eine völlige Neu¬
gestaltung der innern Verhältnisse. Bis 1810 galt die allgemeine theo¬
logische Prüfung zugleich als Lehramtsprüfung, das empfehlende Zeugnis eines
Universitätslehrers mochte denselben Wert haben, höchstens wurde noch eine
Probelektion abgelegt. Erst 1810 wurde eine allgemeine Lehramtsprüfung ein¬
geführt, welche mir die wissenschaftliche Befähigung zur Übernahme eines Lehr¬
amtes überhaupt ermitteln sollte; die Befähigung für eine bestimmte Stelle
sollte dnrch eine besondre Prüfung ermittelt werden. Humboldts Erwartung,
daß sich hierdurch mit der Zeit ein Lehrerstand, erfüllt von einem einheitlichen
Gesamtgeiste, bilden werde, wurde nicht getäuscht.

Ebenso wurden nun Reglements für die Abitnrientcnprüfungcn geschaffen,
um die vorhandenen großen Ungleichheiten zu beseitigen, und nur wenige Jahre
später, 1816, ward ein Normallehrplan veröffentlicht, welcher als die drei Haupt-
gegenstände des Gymnasialuntcrrichts Lateinisch, Griechisch und Mathematik
bezeichnete. Besondre Lektionen über Literatur, Geographie, Antiquitäten und
Mythologie der Griechen und Römer, die allgemeine Encyklopädie der Wissen¬
schaften, Philosophie, Logik, Ästhetik und Rhetorik, ebenso das Französische
wurden aus dem Lehrkursus ausdrücklich entfernt. Wolf äußerte sich über diese
beiden letztern Verordnungen: „Ich bin wie von eigner Existenz überzeugt, daß
in einer Korporation der gelehrtesten Leute äußerst wenige sind, die nach eben
diesen: Maßstabe das prachtvolle „Unbedingt tüchtig" (Nota I) noch im vier¬
zigsten Jahre verdienen würden, wenn ich mir so viel Griechisch und Latein,
so viel Geschichte, so viel Mathematik und Physik und das alles nebeneinander
überdenke"; namentlich findet er die Forderungen im Griechischen zu hoch.
Paniscus weitere Darstellung läßt erkennen, wie günstig zum Teil die Reformen
gewirkt haben, es erwuchs ein Lehrerstand, der wirklich Liebe zum Berufe und
zu den Schülern hatte, dazu kam, daß den von den Ideen des Neuhumanismus


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[0255] Zur Geschichte des gelehrten Unterrichts. 1818 nur 91, während um 1750, als Preußen um die Hälfte weniger Ein¬ wohner hatte, etwa 400 Lateinschulen bestanden hatten. Die vom Staate nicht anerkannten Lateinschulen gestalteten sich allmählich in Bürgerschulen, Real¬ schulen und Progymnasien um. Ein nicht minder wichtiger Vorgang war die allmähliche Trennung des Schulwesens von der kirchlichen Verwaltung. Zunächst wurde 1787 ein Oberschulkollegium mit der allgemeinen Oberaufsicht über das gesamte Schulwesen betraut und 1808 eine eigne Abteilung im Ministerium des Innern für die Verwaltung der Extcrnn des Unterrichtswesens begründet, deren erster Leiter W. v. Humboldt wurde. Eine „wissenschaftliche Deputation" in Berlin trat als beratende Sachverständigenkommission für die innere päda¬ gogisch-technische Leitung der Verwaltung zur Seite. Mit der Errichtung von Provinzialschulkvllegien wurde 1825 die Verstaatlichn»«, der Gymnasialver¬ waltung vollendet; ein Provinzialschnlrat, in der Regel ein Philologe, welcher in die Regierung übertritt, steht nun an der Spitze des Gymnasinlwesens jeder Provinz. Parallel mit dieser Umgestaltung der äußern geht eine völlige Neu¬ gestaltung der innern Verhältnisse. Bis 1810 galt die allgemeine theo¬ logische Prüfung zugleich als Lehramtsprüfung, das empfehlende Zeugnis eines Universitätslehrers mochte denselben Wert haben, höchstens wurde noch eine Probelektion abgelegt. Erst 1810 wurde eine allgemeine Lehramtsprüfung ein¬ geführt, welche mir die wissenschaftliche Befähigung zur Übernahme eines Lehr¬ amtes überhaupt ermitteln sollte; die Befähigung für eine bestimmte Stelle sollte dnrch eine besondre Prüfung ermittelt werden. Humboldts Erwartung, daß sich hierdurch mit der Zeit ein Lehrerstand, erfüllt von einem einheitlichen Gesamtgeiste, bilden werde, wurde nicht getäuscht. Ebenso wurden nun Reglements für die Abitnrientcnprüfungcn geschaffen, um die vorhandenen großen Ungleichheiten zu beseitigen, und nur wenige Jahre später, 1816, ward ein Normallehrplan veröffentlicht, welcher als die drei Haupt- gegenstände des Gymnasialuntcrrichts Lateinisch, Griechisch und Mathematik bezeichnete. Besondre Lektionen über Literatur, Geographie, Antiquitäten und Mythologie der Griechen und Römer, die allgemeine Encyklopädie der Wissen¬ schaften, Philosophie, Logik, Ästhetik und Rhetorik, ebenso das Französische wurden aus dem Lehrkursus ausdrücklich entfernt. Wolf äußerte sich über diese beiden letztern Verordnungen: „Ich bin wie von eigner Existenz überzeugt, daß in einer Korporation der gelehrtesten Leute äußerst wenige sind, die nach eben diesen: Maßstabe das prachtvolle „Unbedingt tüchtig" (Nota I) noch im vier¬ zigsten Jahre verdienen würden, wenn ich mir so viel Griechisch und Latein, so viel Geschichte, so viel Mathematik und Physik und das alles nebeneinander überdenke"; namentlich findet er die Forderungen im Griechischen zu hoch. Paniscus weitere Darstellung läßt erkennen, wie günstig zum Teil die Reformen gewirkt haben, es erwuchs ein Lehrerstand, der wirklich Liebe zum Berufe und zu den Schülern hatte, dazu kam, daß den von den Ideen des Neuhumanismus

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341841_196733/255>, abgerufen am 15.01.2025.