Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Viertes Quartal.Die proportionale Berufsklassenwahl. eine ideale Gesellschaftsbildung und Güterverteilung darstellen. Sie mögen den Wenn aber dieser Organismus besteht und ewig bestehen wird, warum ihn Immer lassen sich soziale und politische Strömungen ans jenes dein Daß diese Juteressenfrage bald insgeheim, bald eingestandenermaßen die Die proportionale Berufsklassenwahl. eine ideale Gesellschaftsbildung und Güterverteilung darstellen. Sie mögen den Wenn aber dieser Organismus besteht und ewig bestehen wird, warum ihn Immer lassen sich soziale und politische Strömungen ans jenes dein Daß diese Juteressenfrage bald insgeheim, bald eingestandenermaßen die <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <div n="2"> <pb facs="#f0021" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/196755"/> <fw type="header" place="top"> Die proportionale Berufsklassenwahl.</fw><lb/> <p xml:id="ID_42" prev="#ID_41"> eine ideale Gesellschaftsbildung und Güterverteilung darstellen. Sie mögen den<lb/> Denker entzücken; für den Realpolitiker bleiben sie wertlos. Er hat mit mensch¬<lb/> lichen Unvollkommenheiten, Ungleichheiten und Leidenschaften zu rechne», welche<lb/> den unvermeidlichen Jnteresscnknmpf erzeugen, und die Staatskunst besteht eben<lb/> darin, diese Interessen abzuwägen, zu klassifiziren, in Einklang zu bringen und<lb/> dem Gesamtwohl dienstbar zu macheu. Die Gesellschaft ist nicht als mechanisches<lb/> Räderwerk aufzufassen, sondern als eine Vereinigung dynamischer Kräfte.</p><lb/> <p xml:id="ID_43"> Wenn aber dieser Organismus besteht und ewig bestehen wird, warum ihn<lb/> dann in Atome zerstückeln, warum ihn nicht vielmehr als einzig unveränderliche<lb/> Grundlage des Staatswesens anerkennen?</p><lb/> <p xml:id="ID_44"> Immer lassen sich soziale und politische Strömungen ans jenes dein<lb/> Menschen tief eingewurzelte Gefühl des Selbsterhaltungstriebes zurückführen,<lb/> mag auch das Ringen nach einer Verbesserung seiner Lage oder die Tendenz,<lb/> den errungenen Platz zu behaupten, sich in das gefälligere Gewand der Schaffens¬<lb/> lust, des Ehrgeizes, des Korpsgeistes kleiden oder sich mit dem Mantel eines<lb/> Parteiprogrammes drapireu. Freilich können Religion und Kultur die selbst-<lb/> siichtigeu Regungen der menschlichen Natur zurückdrüugeu und in Schranken<lb/> halten; auszurotten vermögen sie dieselben nicht. Im Staatsleben zumal spielen<lb/> letztere eine weit größere Rolle, als unser hochzivilisirtcs Zeitalter ihnen ein¬<lb/> zuräumen geneigt ist. Wir können es bedauern, aber es ist so. Wäre es<lb/> demnach nicht vernünftiger, sobald man einmal die Gleichberechtigung aller Staats¬<lb/> bürger zur Teilnahme an der Gesetzgebung als leitendes Prinzip aufstellt, den<lb/> Kampf und Ausgleich der Interessen zum Ausgangspunkt zu nehmen? Wenn<lb/> in der gesetzgebenden Körperschaft jeder Wähler vertreten sein soll, wäre es da<lb/> nicht richtig, die dort vereinigten Mandate auch in der Weise zu verteilen, daß<lb/> sie die Wünsche und Forderungen der verschiednen Kategorien und Interessenten-<lb/> gruppen in dem Maße zum Ausdruck bringen, wie sich die verschiednen Interessen<lb/> im öffentlichen Leben geltend machen? Und hierfür bietet der Beruf den ge¬<lb/> eignetsten Maßstab.</p><lb/> <p xml:id="ID_45" next="#ID_46"> Daß diese Juteressenfrage bald insgeheim, bald eingestandenermaßen die<lb/> Wahl beeinflußt, wird auch jetzt nicht geleugnet. In allen Wahlreden spielen die<lb/> praktischen Fragen, die Forderungen des Augenblicks die Hauptrolle. Das ist so<lb/> unbestreitbar, daß jede Partei, wenn es gilt, die Mitglieder einer andern Rich¬<lb/> tung für ihren Kandidaten zu werben, die Forderungen dieser Nebenpartei in<lb/> die Besprechung zieht und mit Zugeständnissen oder Versprechungen nicht karge.<lb/> Wie eingehend hat man bei den letzten Stichwahlen die Forderungen der Arbeiter¬<lb/> partei diskutirt! Normalsarbeitstag, Beschränkung der Frauen- und Kinderarbeit,<lb/> staatliche Kontrole der Fabriken, Steuererlaß, Lohnerhöhung waren die Schlag-<lb/> Worte, mit denen mau von allen Seiten die mißtrauischen Arbeiter anzulocken<lb/> suchte. Ist doch selbst von den Kandidaten gemäßigter Parteien die Dreiteilung<lb/> in acht Stunden Schlaf, acht Stunden Arbeit und acht Stunden Erholung als</p><lb/> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0021]
Die proportionale Berufsklassenwahl.
eine ideale Gesellschaftsbildung und Güterverteilung darstellen. Sie mögen den
Denker entzücken; für den Realpolitiker bleiben sie wertlos. Er hat mit mensch¬
lichen Unvollkommenheiten, Ungleichheiten und Leidenschaften zu rechne», welche
den unvermeidlichen Jnteresscnknmpf erzeugen, und die Staatskunst besteht eben
darin, diese Interessen abzuwägen, zu klassifiziren, in Einklang zu bringen und
dem Gesamtwohl dienstbar zu macheu. Die Gesellschaft ist nicht als mechanisches
Räderwerk aufzufassen, sondern als eine Vereinigung dynamischer Kräfte.
Wenn aber dieser Organismus besteht und ewig bestehen wird, warum ihn
dann in Atome zerstückeln, warum ihn nicht vielmehr als einzig unveränderliche
Grundlage des Staatswesens anerkennen?
Immer lassen sich soziale und politische Strömungen ans jenes dein
Menschen tief eingewurzelte Gefühl des Selbsterhaltungstriebes zurückführen,
mag auch das Ringen nach einer Verbesserung seiner Lage oder die Tendenz,
den errungenen Platz zu behaupten, sich in das gefälligere Gewand der Schaffens¬
lust, des Ehrgeizes, des Korpsgeistes kleiden oder sich mit dem Mantel eines
Parteiprogrammes drapireu. Freilich können Religion und Kultur die selbst-
siichtigeu Regungen der menschlichen Natur zurückdrüugeu und in Schranken
halten; auszurotten vermögen sie dieselben nicht. Im Staatsleben zumal spielen
letztere eine weit größere Rolle, als unser hochzivilisirtcs Zeitalter ihnen ein¬
zuräumen geneigt ist. Wir können es bedauern, aber es ist so. Wäre es
demnach nicht vernünftiger, sobald man einmal die Gleichberechtigung aller Staats¬
bürger zur Teilnahme an der Gesetzgebung als leitendes Prinzip aufstellt, den
Kampf und Ausgleich der Interessen zum Ausgangspunkt zu nehmen? Wenn
in der gesetzgebenden Körperschaft jeder Wähler vertreten sein soll, wäre es da
nicht richtig, die dort vereinigten Mandate auch in der Weise zu verteilen, daß
sie die Wünsche und Forderungen der verschiednen Kategorien und Interessenten-
gruppen in dem Maße zum Ausdruck bringen, wie sich die verschiednen Interessen
im öffentlichen Leben geltend machen? Und hierfür bietet der Beruf den ge¬
eignetsten Maßstab.
Daß diese Juteressenfrage bald insgeheim, bald eingestandenermaßen die
Wahl beeinflußt, wird auch jetzt nicht geleugnet. In allen Wahlreden spielen die
praktischen Fragen, die Forderungen des Augenblicks die Hauptrolle. Das ist so
unbestreitbar, daß jede Partei, wenn es gilt, die Mitglieder einer andern Rich¬
tung für ihren Kandidaten zu werben, die Forderungen dieser Nebenpartei in
die Besprechung zieht und mit Zugeständnissen oder Versprechungen nicht karge.
Wie eingehend hat man bei den letzten Stichwahlen die Forderungen der Arbeiter¬
partei diskutirt! Normalsarbeitstag, Beschränkung der Frauen- und Kinderarbeit,
staatliche Kontrole der Fabriken, Steuererlaß, Lohnerhöhung waren die Schlag-
Worte, mit denen mau von allen Seiten die mißtrauischen Arbeiter anzulocken
suchte. Ist doch selbst von den Kandidaten gemäßigter Parteien die Dreiteilung
in acht Stunden Schlaf, acht Stunden Arbeit und acht Stunden Erholung als
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