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Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Viertes Quartal.

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Die proportionale Lerufsklassenwochl.

Man wende nicht ein, daß diesem Mangel durch Belehrung in der Presse,
durch Flugschriften und Wahlreden abgeholfen werde und jedermann die Mittel
zu gehste stünden, sich im Meinungsaustausch und geselligen Verkehr wenig¬
stens ein oberflächliches Urteil über die Tagesfragen zu bilden. Die erziehliche
Einwirkung, welche Vereinswesen und gewissenhafte Publizistik auf die untern
Volksklassen ausüben können, wollen wir nicht verkennen. Aber ans dem Gebiete
der innern Politik sind sachliche Erörterungen selten. Wie die Dinge einmal
liegen, darf man von der Tagespresse Objektivität nicht verlangen. Und nun
gar in den erregten Zeiten einer Wahlkampagne! Woher soll der Arbeiter, dem
zum Studium der schwebenden Streitfragen Zeit und Neigung fehlen, dann
mit einemmale Belehrung schöpfen? Etwa aus den Plataeer an den Straßen¬
ecken, aus den schwunghaften Wahlaufrufen und Flugblättern, die ihm wenige
Tage vor der Wahl ins Haus geschickt werden? Etwa in Meetings oder
Stammtischplaudereien, aus der Preßpvlcmik der Parteien oder den Debatten
der Wühlerversammlungen? Wie soll er sich hindurchfiuden dnrch das Gewirr
sachlicher Entstellungen und persönlicher Verdächtigungen, durch die Phrasen,
Versprechungen, Kompromisse und Wahlbündnisse, durch die widersprechenden
Darstellungen der Kandidaten, welche mehr darauf berechnet sind, zu überreden
als zu überzeugen, jmehr zu gewinnen als zu belehren? Wie soll er sich ein
Bild macheu von der thatsächlichen Wirkung der vorgetragenen Gesichtspunkte?
Und auf diese Wirkung allein kommt es doch an! Denn der kleine Mann hat
kein Verständnis für die Allgemeinheit in der Gesetzgebung. Ihn interessirt
dieselbe mir, soweit sie in sein persönliches Leben eingreift. Und diese Rück¬
wirkung seines Votums vermag er unmöglich zu übersehen. Nein, die Kenntnis
einiger Schlagworte aus dem Parteiprogramm genügt nicht zur Gewinnung
selbständigen politischen Urteils über die verwickelten Fragen und Tagesförde¬
rungen. Dieses kann sich nnr auf ernste anhaltende Detailarbeit gründen und
wird nicht von jedermann erworben.

Was aber allen Staatsbürgern ohne Ausnahme gemein ist, was keines
Studiums bedarf oder besonders angeregt zu werden braucht, das ist das Ver¬
ständnis für die eignen materiellen wie geistigen Interessen. Alls diesem Gebiete
ist selbst der Ärmste und Unerfahrenste zur Anlehnung an fremde Autoritäten
wenig geneigt und hält sich allein für den kompetentesten Richter. "Hier bin
ich Mensch, hier darf ichs sein." Die eigne Erfahrung, oft die bittere Not
giebt dabei die beste Lehrmeisterin ab; der Kampf uns Dasein schärft unser
Unterscheidungsvermögen für die Erkenntnis dessen, was uns frommt und
nützlich oder feindlich und gefährlich ist. Diese Fürsorge für das eigne Wohl¬
befinden -- im rein materiellen wie im höhern Sinne --, das Trachten nach
persönlichem Vorteil wird immer die eigentliche Triebfeder der Einzelnlte bilden,
aus denen sich das öffentliche Leben der menschlichen Gesellschaft zusammensetzt.
Man kann theoretische Systeme erfinden, welche, ans einer Abstraktion fußend,


Die proportionale Lerufsklassenwochl.

Man wende nicht ein, daß diesem Mangel durch Belehrung in der Presse,
durch Flugschriften und Wahlreden abgeholfen werde und jedermann die Mittel
zu gehste stünden, sich im Meinungsaustausch und geselligen Verkehr wenig¬
stens ein oberflächliches Urteil über die Tagesfragen zu bilden. Die erziehliche
Einwirkung, welche Vereinswesen und gewissenhafte Publizistik auf die untern
Volksklassen ausüben können, wollen wir nicht verkennen. Aber ans dem Gebiete
der innern Politik sind sachliche Erörterungen selten. Wie die Dinge einmal
liegen, darf man von der Tagespresse Objektivität nicht verlangen. Und nun
gar in den erregten Zeiten einer Wahlkampagne! Woher soll der Arbeiter, dem
zum Studium der schwebenden Streitfragen Zeit und Neigung fehlen, dann
mit einemmale Belehrung schöpfen? Etwa aus den Plataeer an den Straßen¬
ecken, aus den schwunghaften Wahlaufrufen und Flugblättern, die ihm wenige
Tage vor der Wahl ins Haus geschickt werden? Etwa in Meetings oder
Stammtischplaudereien, aus der Preßpvlcmik der Parteien oder den Debatten
der Wühlerversammlungen? Wie soll er sich hindurchfiuden dnrch das Gewirr
sachlicher Entstellungen und persönlicher Verdächtigungen, durch die Phrasen,
Versprechungen, Kompromisse und Wahlbündnisse, durch die widersprechenden
Darstellungen der Kandidaten, welche mehr darauf berechnet sind, zu überreden
als zu überzeugen, jmehr zu gewinnen als zu belehren? Wie soll er sich ein
Bild macheu von der thatsächlichen Wirkung der vorgetragenen Gesichtspunkte?
Und auf diese Wirkung allein kommt es doch an! Denn der kleine Mann hat
kein Verständnis für die Allgemeinheit in der Gesetzgebung. Ihn interessirt
dieselbe mir, soweit sie in sein persönliches Leben eingreift. Und diese Rück¬
wirkung seines Votums vermag er unmöglich zu übersehen. Nein, die Kenntnis
einiger Schlagworte aus dem Parteiprogramm genügt nicht zur Gewinnung
selbständigen politischen Urteils über die verwickelten Fragen und Tagesförde¬
rungen. Dieses kann sich nnr auf ernste anhaltende Detailarbeit gründen und
wird nicht von jedermann erworben.

Was aber allen Staatsbürgern ohne Ausnahme gemein ist, was keines
Studiums bedarf oder besonders angeregt zu werden braucht, das ist das Ver¬
ständnis für die eignen materiellen wie geistigen Interessen. Alls diesem Gebiete
ist selbst der Ärmste und Unerfahrenste zur Anlehnung an fremde Autoritäten
wenig geneigt und hält sich allein für den kompetentesten Richter. „Hier bin
ich Mensch, hier darf ichs sein." Die eigne Erfahrung, oft die bittere Not
giebt dabei die beste Lehrmeisterin ab; der Kampf uns Dasein schärft unser
Unterscheidungsvermögen für die Erkenntnis dessen, was uns frommt und
nützlich oder feindlich und gefährlich ist. Diese Fürsorge für das eigne Wohl¬
befinden — im rein materiellen wie im höhern Sinne —, das Trachten nach
persönlichem Vorteil wird immer die eigentliche Triebfeder der Einzelnlte bilden,
aus denen sich das öffentliche Leben der menschlichen Gesellschaft zusammensetzt.
Man kann theoretische Systeme erfinden, welche, ans einer Abstraktion fußend,


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341841_196733/20>, abgerufen am 15.01.2025.