Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Viertes Quartal.Die Balkanstaaten und die Großmächte. slawismus, die Begeisterung für die Einheit und Freiheit der slawischen "Vrudcr- Damit würde aber nur die eigentliche bulgarische Frage bis auf weiteres Die Balkanstaaten und die Großmächte. slawismus, die Begeisterung für die Einheit und Freiheit der slawischen „Vrudcr- Damit würde aber nur die eigentliche bulgarische Frage bis auf weiteres <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0168" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/196902"/> <fw type="header" place="top"> Die Balkanstaaten und die Großmächte.</fw><lb/> <p xml:id="ID_529" prev="#ID_528"> slawismus, die Begeisterung für die Einheit und Freiheit der slawischen „Vrudcr-<lb/> nationen." Die Polen erfuhren das auf ihre Kosten, als sie sich 1863 empörten,<lb/> um jene Einheit ihrenteils zu zerreißen. Sie hatten hier nicht nur den Zaren<lb/> und seine Generale gegen sich, sondern alle Moskowiter, welche die Trennung<lb/> eines Gliedes vom Reiche fürchteten und infolgedessen jeder Mißhandlung und<lb/> Tcrronsiruug der polnischen Gegner des „heiligen" Rußlands beifällig zuschauten.<lb/> Aehnliche Gefühle gaben sich 1876 und 1877 kund. Es war diesmal ein Be¬<lb/> freiungskrieg, ein Kreuzzug der Rechtgläubigen gegen die türkischen Heiden.<lb/> Freiwillige aus allen Klassen gingen den Heeren des Zaren voran, und es ist<lb/> bis auf deu heutigen Tag unentschieden geblieben, ob der Autokrat, als er letztere<lb/> marschiren ließ, den nationalen Drang und Trieb leitete oder ihm gehorchte.<lb/> Die öffentliche Stimmung in Rußland bestand 1876 auf der Einmischung des<lb/> Kaisers zur Rettung der Serben, und dieselbe Macht würde ihn vermutlich<lb/> bedrängen und vielleicht mit gleichem Erfolge, wenn muhamedanische Soldaten<lb/> der bulgarische» Miliz eine rasche und entscheidende Schlappe beibrachten. Die<lb/> Pforte könnte also nicht mit Sicherheit auf die Enthaltsamkeit der russischen<lb/> Regierung rechnen, wenn sie gegen die Insurgenten marschiren ließe, und daß<lb/> auch Oesterreich nicht Gewehr beim Fuß zusehe» dürfte, wenn die Balkanländer<lb/> wieder vom Kriege heimgesucht würden, scheint ebenfalls klar. Die Mächte können<lb/> schweigend zulassen, daß die Türkei sich aufmacht, um ihr vertragsmüßiges Recht<lb/> wieder zur Geltung zu bringen, aber aus Tiszas Erklärung klingt vernehmlich<lb/> heraus, daß der Sultan, wenn er sich zum Kriege entschlösse, aus seine eigne<lb/> Gefahr hin handeln nud zusehen müßte, wie er selbst mit den Folgen fertig<lb/> werden könnte. Kein Freund der Pforte darf ihr unter solchen Auspizien rate»,<lb/> das Wagnis zu unternehmen. Sie wird daher aller Wahrscheinlichkeit nach in<lb/> eine Personalunion Bulgariens mit Ostrumclicn willigen, deren Träger den<lb/> Sultan als Suzerün über sich anerkennt und ihm nach wie vor Tribut ent¬<lb/> richtet.</p><lb/> <p xml:id="ID_530" next="#ID_531"> Damit würde aber nur die eigentliche bulgarische Frage bis auf weiteres<lb/> aus der Welt geschafft sein. Es blieben die Ansprüche Serbiens und Griechen¬<lb/> lands auf Kompensation, auf.Herstellung des durch die Union angeblich zerstörten<lb/> Gleichgewichts der Bnltanstaaten übrig, eines Gleichgewichts, das freilich niemals<lb/> rechtlich allsgesprochen und verbürgt worden ist. Besonders wichtig ist die<lb/> Stellung, die Serbien zu der bulgarischen Union genommen hat. Die Serben<lb/> sind das bedenklichste Element in der Bevölkerung der Balkanländer. Sie haben<lb/> in der slawischen Welt Aehnlichleit mit den Polen in der letzten Periode ihrer<lb/> Selbständigkeit, insofern sie wie diese einmal eine große Zeit hatten, wo ihr<lb/> Reich im Osten eine bedeutende Ausdehnung und Macht besaß. Wie die Polen<lb/> an Zeiten zurückdenken konnten, wo ihre Könige das ganze damalige Rußland<lb/> mittelbar oder unmittelbar beherrschten und einen beträchtlichen Teil desselben<lb/> besaßen, so können die Serben ans ihr „goldnes Zeitalter" zurückblicken, wo ihr<lb/> Herrscher sich den Kaisertitel beilegte und Bosnier, Bulgaren, Griechen. und<lb/> Albanesen seinein Szepter Unterthan sah. Es ist das freilich ungefähr fünf<lb/> Jahrhunderte her, und diese lange Vergangenheit sollte den Serben einige<lb/> Bescheidenheit empfehlen. Ihre Erfolge hatten in der Art, wie sie erreicht<lb/> wurden, einige Ähnlichkeit mit dem, was jetzt unter Umständen vielleicht<lb/> möglich wäre. Sie siegten und breiteten ihre Herrschaft aus gegenüber einer<lb/> Macht, welche der jetzigen Türkei glich, gegenüber dem wankenden und zer¬<lb/> bröckelnder Staatsbäu, der die kraftlose griechische Fortsetzung des alten römischen</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0168]
Die Balkanstaaten und die Großmächte.
slawismus, die Begeisterung für die Einheit und Freiheit der slawischen „Vrudcr-
nationen." Die Polen erfuhren das auf ihre Kosten, als sie sich 1863 empörten,
um jene Einheit ihrenteils zu zerreißen. Sie hatten hier nicht nur den Zaren
und seine Generale gegen sich, sondern alle Moskowiter, welche die Trennung
eines Gliedes vom Reiche fürchteten und infolgedessen jeder Mißhandlung und
Tcrronsiruug der polnischen Gegner des „heiligen" Rußlands beifällig zuschauten.
Aehnliche Gefühle gaben sich 1876 und 1877 kund. Es war diesmal ein Be¬
freiungskrieg, ein Kreuzzug der Rechtgläubigen gegen die türkischen Heiden.
Freiwillige aus allen Klassen gingen den Heeren des Zaren voran, und es ist
bis auf deu heutigen Tag unentschieden geblieben, ob der Autokrat, als er letztere
marschiren ließ, den nationalen Drang und Trieb leitete oder ihm gehorchte.
Die öffentliche Stimmung in Rußland bestand 1876 auf der Einmischung des
Kaisers zur Rettung der Serben, und dieselbe Macht würde ihn vermutlich
bedrängen und vielleicht mit gleichem Erfolge, wenn muhamedanische Soldaten
der bulgarische» Miliz eine rasche und entscheidende Schlappe beibrachten. Die
Pforte könnte also nicht mit Sicherheit auf die Enthaltsamkeit der russischen
Regierung rechnen, wenn sie gegen die Insurgenten marschiren ließe, und daß
auch Oesterreich nicht Gewehr beim Fuß zusehe» dürfte, wenn die Balkanländer
wieder vom Kriege heimgesucht würden, scheint ebenfalls klar. Die Mächte können
schweigend zulassen, daß die Türkei sich aufmacht, um ihr vertragsmüßiges Recht
wieder zur Geltung zu bringen, aber aus Tiszas Erklärung klingt vernehmlich
heraus, daß der Sultan, wenn er sich zum Kriege entschlösse, aus seine eigne
Gefahr hin handeln nud zusehen müßte, wie er selbst mit den Folgen fertig
werden könnte. Kein Freund der Pforte darf ihr unter solchen Auspizien rate»,
das Wagnis zu unternehmen. Sie wird daher aller Wahrscheinlichkeit nach in
eine Personalunion Bulgariens mit Ostrumclicn willigen, deren Träger den
Sultan als Suzerün über sich anerkennt und ihm nach wie vor Tribut ent¬
richtet.
Damit würde aber nur die eigentliche bulgarische Frage bis auf weiteres
aus der Welt geschafft sein. Es blieben die Ansprüche Serbiens und Griechen¬
lands auf Kompensation, auf.Herstellung des durch die Union angeblich zerstörten
Gleichgewichts der Bnltanstaaten übrig, eines Gleichgewichts, das freilich niemals
rechtlich allsgesprochen und verbürgt worden ist. Besonders wichtig ist die
Stellung, die Serbien zu der bulgarischen Union genommen hat. Die Serben
sind das bedenklichste Element in der Bevölkerung der Balkanländer. Sie haben
in der slawischen Welt Aehnlichleit mit den Polen in der letzten Periode ihrer
Selbständigkeit, insofern sie wie diese einmal eine große Zeit hatten, wo ihr
Reich im Osten eine bedeutende Ausdehnung und Macht besaß. Wie die Polen
an Zeiten zurückdenken konnten, wo ihre Könige das ganze damalige Rußland
mittelbar oder unmittelbar beherrschten und einen beträchtlichen Teil desselben
besaßen, so können die Serben ans ihr „goldnes Zeitalter" zurückblicken, wo ihr
Herrscher sich den Kaisertitel beilegte und Bosnier, Bulgaren, Griechen. und
Albanesen seinein Szepter Unterthan sah. Es ist das freilich ungefähr fünf
Jahrhunderte her, und diese lange Vergangenheit sollte den Serben einige
Bescheidenheit empfehlen. Ihre Erfolge hatten in der Art, wie sie erreicht
wurden, einige Ähnlichkeit mit dem, was jetzt unter Umständen vielleicht
möglich wäre. Sie siegten und breiteten ihre Herrschaft aus gegenüber einer
Macht, welche der jetzigen Türkei glich, gegenüber dem wankenden und zer¬
bröckelnder Staatsbäu, der die kraftlose griechische Fortsetzung des alten römischen
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