Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Viertes Quartal.Die Balkanstaaten und die Großmächte. und auf der Rückfahrt von da, mit dem deutschen Reichskanzler in Friedrichs¬ Die Stellung, welche Oesterreich-Ungarn zu dem Ereignisse vou Philippopcl Die Balkanstaaten und die Großmächte. und auf der Rückfahrt von da, mit dem deutschen Reichskanzler in Friedrichs¬ Die Stellung, welche Oesterreich-Ungarn zu dem Ereignisse vou Philippopcl <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0167" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/196901"/> <fw type="header" place="top"> Die Balkanstaaten und die Großmächte.</fw><lb/> <p xml:id="ID_527" prev="#ID_526"> und auf der Rückfahrt von da, mit dem deutschen Reichskanzler in Friedrichs¬<lb/> ruhe konferirte.</p><lb/> <p xml:id="ID_528" next="#ID_529"> Die Stellung, welche Oesterreich-Ungarn zu dem Ereignisse vou Philippopcl<lb/> einnimmt, wurde dem ungarischen Reichstage vou dem Minister Tisza so deutlich<lb/> als möglich auseinandergesetzt. Die Kaiserbegegnuug in Kremsier war auch ihm<lb/> „nur ein Akt der Höflichkeit," und es handelte sich dort weder um eine schlie߬<lb/> liche Annexion Bosniens noch um eine Vereinigung Bulgariens mit Ost-<lb/> rumelien. Die Bewegung zu Gunsten der letzteren war allerdings bekannt,<lb/> aber der Ausbruch der Verschwörung überraschte die europäischen Kabinette.<lb/> Alle Mächte wünschen die Aufrechterhaltung des Berliner Vertrages, und keine<lb/> hindert die Türkei, ihre darin verbürgten Rechte geltend zu machen. Anderseits<lb/> aber war aus Andeutungen des Ministers zu entnehmen, daß Leine der Gro߬<lb/> mächte gewillt ist, für eine Wiederherstellung der 1873 getroffenen Einrichtung<lb/> die Waffen zu ergreife». Die Verantwortlichkeit für ein derartiges Vorgehen<lb/> bleibt also dem Sultan selbst überlassen. Ein paar Wochen Erwägens und<lb/> Bcratens noch, und der Einmarsch ottvmanischer Truppen in Ostrumelien wird<lb/> großen Schwierigkeiten begegnen. Die Pforte scheint aus Geldmangel mit<lb/> ihrem Latein zu Ende zu sein. Die Garnison Adrianvpels ist nicht stark, und<lb/> von der in Konstantinopel glaubt man nichts entbehren zu können. Fände man<lb/> aber auch Mittel, um eine zur Niederwerfung der Aufständischen genügende<lb/> türkische Armee zusammenzubringen, so stünden die Serben und Griechen bereit,<lb/> mit Waffengewalt in Macedonien und Thessalien einzufallen, und zu gleicher<lb/> Zeit würde'beim Vormarsch der Türken nach Philippvpel sehr wahrscheinlich<lb/> ein maeedonischer Aufstand ausbrechen. Allen diesen Wahrscheinlichkeiten gegen¬<lb/> über hieße es für die Pforte, die Hand in ein Wespennest stecken, wenn sie<lb/> zum Schwerte griffe, ohne der thatkräftigen Unterstützung von andrer Seite<lb/> sicher zu sein. Und das ist noch nicht alles, noch nicht das schlimmste, was<lb/> der Sultan und seine Räte zu fürchten hätten. Gesetzt den Fall, sie besiegten<lb/> die Jnsurgenten in Ostrumelien, so konnte sich leicht wiederholen, was 1876<lb/> bei dem Siege über die Serben geschah. Die letzteren wurden gründlich ge¬<lb/> schlagen, sofort aber zeigte sich Rußland bereit, ihre Niederlage zu rächen.<lb/> Wir zweifeln nicht im geringsten daran, daß Kaiser Alexander die Verletzung<lb/> des Berliner Vertrages durch die Bulgaren mißbilligt. Sie kann ihm schon<lb/> als eine Revolution nicht gefallen, und sie muß ihm umso unerwünschter<lb/> sein, als die Verschwörer unabhängig von seiner Politik handelten, sich von<lb/> seiner Göuuerschnft emnnzipirten und sich anschickten, fernerhin nach eignem Rat<lb/> nud auf eigne Hand ihr Glück zu versuchen. Aber neben dem Zaren giebt es,<lb/> so allmächtig er zu sein scheint, noch eine Macht, mit der zu rechnen ist, die<lb/> Volksstimmung, die öffentliche Meinung. In allen unbeschränkten Monarchie«?<lb/> existiren Dinge, bei denen der oberste Inhaber der Macht sich doch zu beschränken<lb/> hat, und so auch in Rußland. In den meisten politischen Fragen kann er un¬<lb/> bedingt thun und lassen, was ihm gut dünkt. Er kann sich Deutschland ent¬<lb/> fremden oder sich ihm nähern, Frankreich die Hand bieten oder ihm den Rücken<lb/> kehren, England herausfordern oder mit ihm Frieden schließen, ohne daß ihm<lb/> jemand dreinzureden wagt. Nur in einer Beziehung ist er unfrei, empfängt<lb/> er Antrieb, dem er zu folgen, und begegnet er Widerstand, vor dem er Halt<lb/> zu machen hat. Das einzige nationale Gefühl in Rußland, aber ein sehr<lb/> energisches, ein fast unwiderstehliches Gefühl — wir sagen nicht Gedanke, denn<lb/> es ist ein unklares Empfinden, eine Stimmung, eine Phantasie — ist der Pan-</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0167]
Die Balkanstaaten und die Großmächte.
und auf der Rückfahrt von da, mit dem deutschen Reichskanzler in Friedrichs¬
ruhe konferirte.
Die Stellung, welche Oesterreich-Ungarn zu dem Ereignisse vou Philippopcl
einnimmt, wurde dem ungarischen Reichstage vou dem Minister Tisza so deutlich
als möglich auseinandergesetzt. Die Kaiserbegegnuug in Kremsier war auch ihm
„nur ein Akt der Höflichkeit," und es handelte sich dort weder um eine schlie߬
liche Annexion Bosniens noch um eine Vereinigung Bulgariens mit Ost-
rumelien. Die Bewegung zu Gunsten der letzteren war allerdings bekannt,
aber der Ausbruch der Verschwörung überraschte die europäischen Kabinette.
Alle Mächte wünschen die Aufrechterhaltung des Berliner Vertrages, und keine
hindert die Türkei, ihre darin verbürgten Rechte geltend zu machen. Anderseits
aber war aus Andeutungen des Ministers zu entnehmen, daß Leine der Gro߬
mächte gewillt ist, für eine Wiederherstellung der 1873 getroffenen Einrichtung
die Waffen zu ergreife». Die Verantwortlichkeit für ein derartiges Vorgehen
bleibt also dem Sultan selbst überlassen. Ein paar Wochen Erwägens und
Bcratens noch, und der Einmarsch ottvmanischer Truppen in Ostrumelien wird
großen Schwierigkeiten begegnen. Die Pforte scheint aus Geldmangel mit
ihrem Latein zu Ende zu sein. Die Garnison Adrianvpels ist nicht stark, und
von der in Konstantinopel glaubt man nichts entbehren zu können. Fände man
aber auch Mittel, um eine zur Niederwerfung der Aufständischen genügende
türkische Armee zusammenzubringen, so stünden die Serben und Griechen bereit,
mit Waffengewalt in Macedonien und Thessalien einzufallen, und zu gleicher
Zeit würde'beim Vormarsch der Türken nach Philippvpel sehr wahrscheinlich
ein maeedonischer Aufstand ausbrechen. Allen diesen Wahrscheinlichkeiten gegen¬
über hieße es für die Pforte, die Hand in ein Wespennest stecken, wenn sie
zum Schwerte griffe, ohne der thatkräftigen Unterstützung von andrer Seite
sicher zu sein. Und das ist noch nicht alles, noch nicht das schlimmste, was
der Sultan und seine Räte zu fürchten hätten. Gesetzt den Fall, sie besiegten
die Jnsurgenten in Ostrumelien, so konnte sich leicht wiederholen, was 1876
bei dem Siege über die Serben geschah. Die letzteren wurden gründlich ge¬
schlagen, sofort aber zeigte sich Rußland bereit, ihre Niederlage zu rächen.
Wir zweifeln nicht im geringsten daran, daß Kaiser Alexander die Verletzung
des Berliner Vertrages durch die Bulgaren mißbilligt. Sie kann ihm schon
als eine Revolution nicht gefallen, und sie muß ihm umso unerwünschter
sein, als die Verschwörer unabhängig von seiner Politik handelten, sich von
seiner Göuuerschnft emnnzipirten und sich anschickten, fernerhin nach eignem Rat
nud auf eigne Hand ihr Glück zu versuchen. Aber neben dem Zaren giebt es,
so allmächtig er zu sein scheint, noch eine Macht, mit der zu rechnen ist, die
Volksstimmung, die öffentliche Meinung. In allen unbeschränkten Monarchie«?
existiren Dinge, bei denen der oberste Inhaber der Macht sich doch zu beschränken
hat, und so auch in Rußland. In den meisten politischen Fragen kann er un¬
bedingt thun und lassen, was ihm gut dünkt. Er kann sich Deutschland ent¬
fremden oder sich ihm nähern, Frankreich die Hand bieten oder ihm den Rücken
kehren, England herausfordern oder mit ihm Frieden schließen, ohne daß ihm
jemand dreinzureden wagt. Nur in einer Beziehung ist er unfrei, empfängt
er Antrieb, dem er zu folgen, und begegnet er Widerstand, vor dem er Halt
zu machen hat. Das einzige nationale Gefühl in Rußland, aber ein sehr
energisches, ein fast unwiderstehliches Gefühl — wir sagen nicht Gedanke, denn
es ist ein unklares Empfinden, eine Stimmung, eine Phantasie — ist der Pan-
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