Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Viertes Quartal.Die proportionale Bornfsklassenwcchl. Setzung aus, daß das Volk alleiniger Träger der Souveränität sei und die Der heutige Konstitutionalismus krankt an einer Überschätzung des In¬ Die proportionale Bornfsklassenwcchl. Setzung aus, daß das Volk alleiniger Träger der Souveränität sei und die Der heutige Konstitutionalismus krankt an einer Überschätzung des In¬ <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <div n="2"> <pb facs="#f0016" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/196750"/> <fw type="header" place="top"> Die proportionale Bornfsklassenwcchl.</fw><lb/> <p xml:id="ID_32" prev="#ID_31"> Setzung aus, daß das Volk alleiniger Träger der Souveränität sei und die<lb/> Volksvertretung diesen Begriff verkörpere. Die Exekutive wird demgemäß vou<lb/> der Volksvertretung eingesetzt und überwacht. Die Majorität entscheidet in<lb/> zweifelhaften Fällen. In allen Konflikten bildet das Volk wieder die letzte<lb/> Instanz, an die appellirt wird. Alle diese Voraussetzungen treffen bei der deutschen<lb/> Reichsverfassung nicht zu. Hier ist die Staatsgewalt unter die drei Faktoren:<lb/> Krone, Bundesrat und Reichstag verteilt, das Rechtsgebiet für jeden dieser<lb/> Faktoren genau begrenzt und die Ausübung der Staatsgewalt, soweit sie in der<lb/> Gesetzgebung ihren praktisch-bedeutsamsten Ausdruck findet, von dem Zusammen¬<lb/> wirken der Reichsfaktoren abhängig. Schon hieraus ergiebt sich eine erhebliche<lb/> Beschränkung der dem Reichstage zugewiesenen Funktionen im Vergleich zu denen<lb/> der gesetzgebenden Körper republikanischer Staaten oder selbst reinkvnstitntioneller<lb/> Monarchien. Die fortschrittliche Presse gefällt sich allerdings darin, die Fiktion<lb/> aufrecht zu erhalten, als sei der Reichstag das einzige verfassungsmäßige<lb/> Organ der Volksvertretung. Diese irrtümliche und wahrscheinlich nicht unab¬<lb/> sichtliche Anwendung des Wortes „Volksvertretung" für ein Mandat, das sich<lb/> mit dem jener Bezeichnung zugrunde liegenden Begriffe keineswegs deckt, hat<lb/> bei der großen Menge, welche für feinere staatsrechtliche Unterscheidungen nicht<lb/> die nötige politische Bildung besitzt, schon oft schwerwiegende Mißverstündnisse<lb/> hervorgerufen. Fürst Bismarck hat daher wiederholt in energischer Weise gegen<lb/> die Annahme protestirt, als seien die Mitglieder der Neichsregierung und des<lb/> Bundesrates mit ihren weitverzweigten Dependenzen nicht auch Mitglieder des<lb/> Volkes. Die mißbräuchliche Betonung eines thatsächlich nicht vorhandnen Unter¬<lb/> schiedes zwischen Regierten und Regierenden paßt aber zu gut in den für Wahl¬<lb/> zwecke erforderlichen Apparat. So hat denn anch die fortschrittliche Presse erst<lb/> neuerdings ganz besonders betont, daß das allgemeine Stimmrecht die unantast¬<lb/> bare Grundlage des modernen „Volksstaates," oder, wie sie sich noch lieber<lb/> ausdrückt, des „Rechtsstaates" bilde, dem man den ehemaligen mittelalterlichen,<lb/> privilegirten und durch die unerfüllbare Kluft der volksbefreienden That ge-<lb/> schiedncn „Ständestaat" gegenüberstellt. Das Schreckbild eines durch den Ab¬<lb/> solutismus bevorrechteter Klassen geknechteten, freien Volkes hält manchen von<lb/> der Untersuchung ab, ob denn in jenem, von der Geschichte verurteilten Stände-<lb/> wesen nicht Elemente vorhanden waren, die einer Umformung und Entwicklung<lb/> fähig gewesen wären, und ob nicht das dem ständischen Prinzip zugrunde<lb/> liegende System der Interessenvertretung aus dem Schiffbruch der alten Gesell¬<lb/> schaftsordnung hätte gerettet werden können.</p><lb/> <p xml:id="ID_33" next="#ID_34"> Der heutige Konstitutionalismus krankt an einer Überschätzung des In¬<lb/> dividuums. Er hat die alten politischen Genosscnschaftsverbände einer Abstraktion<lb/> geopfert, die in der Gleichberechtigung und Gleichbewertung aller Stimmender<lb/> besteht. Daß die thatsächlich vorhandnen Unterschiede dieser staatsrechtlichen<lb/> Fiktion nicht entsprechen, ist jedermann bekannt. Dennoch wird das Prinzip</p><lb/> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0016]
Die proportionale Bornfsklassenwcchl.
Setzung aus, daß das Volk alleiniger Träger der Souveränität sei und die
Volksvertretung diesen Begriff verkörpere. Die Exekutive wird demgemäß vou
der Volksvertretung eingesetzt und überwacht. Die Majorität entscheidet in
zweifelhaften Fällen. In allen Konflikten bildet das Volk wieder die letzte
Instanz, an die appellirt wird. Alle diese Voraussetzungen treffen bei der deutschen
Reichsverfassung nicht zu. Hier ist die Staatsgewalt unter die drei Faktoren:
Krone, Bundesrat und Reichstag verteilt, das Rechtsgebiet für jeden dieser
Faktoren genau begrenzt und die Ausübung der Staatsgewalt, soweit sie in der
Gesetzgebung ihren praktisch-bedeutsamsten Ausdruck findet, von dem Zusammen¬
wirken der Reichsfaktoren abhängig. Schon hieraus ergiebt sich eine erhebliche
Beschränkung der dem Reichstage zugewiesenen Funktionen im Vergleich zu denen
der gesetzgebenden Körper republikanischer Staaten oder selbst reinkvnstitntioneller
Monarchien. Die fortschrittliche Presse gefällt sich allerdings darin, die Fiktion
aufrecht zu erhalten, als sei der Reichstag das einzige verfassungsmäßige
Organ der Volksvertretung. Diese irrtümliche und wahrscheinlich nicht unab¬
sichtliche Anwendung des Wortes „Volksvertretung" für ein Mandat, das sich
mit dem jener Bezeichnung zugrunde liegenden Begriffe keineswegs deckt, hat
bei der großen Menge, welche für feinere staatsrechtliche Unterscheidungen nicht
die nötige politische Bildung besitzt, schon oft schwerwiegende Mißverstündnisse
hervorgerufen. Fürst Bismarck hat daher wiederholt in energischer Weise gegen
die Annahme protestirt, als seien die Mitglieder der Neichsregierung und des
Bundesrates mit ihren weitverzweigten Dependenzen nicht auch Mitglieder des
Volkes. Die mißbräuchliche Betonung eines thatsächlich nicht vorhandnen Unter¬
schiedes zwischen Regierten und Regierenden paßt aber zu gut in den für Wahl¬
zwecke erforderlichen Apparat. So hat denn anch die fortschrittliche Presse erst
neuerdings ganz besonders betont, daß das allgemeine Stimmrecht die unantast¬
bare Grundlage des modernen „Volksstaates," oder, wie sie sich noch lieber
ausdrückt, des „Rechtsstaates" bilde, dem man den ehemaligen mittelalterlichen,
privilegirten und durch die unerfüllbare Kluft der volksbefreienden That ge-
schiedncn „Ständestaat" gegenüberstellt. Das Schreckbild eines durch den Ab¬
solutismus bevorrechteter Klassen geknechteten, freien Volkes hält manchen von
der Untersuchung ab, ob denn in jenem, von der Geschichte verurteilten Stände-
wesen nicht Elemente vorhanden waren, die einer Umformung und Entwicklung
fähig gewesen wären, und ob nicht das dem ständischen Prinzip zugrunde
liegende System der Interessenvertretung aus dem Schiffbruch der alten Gesell¬
schaftsordnung hätte gerettet werden können.
Der heutige Konstitutionalismus krankt an einer Überschätzung des In¬
dividuums. Er hat die alten politischen Genosscnschaftsverbände einer Abstraktion
geopfert, die in der Gleichberechtigung und Gleichbewertung aller Stimmender
besteht. Daß die thatsächlich vorhandnen Unterschiede dieser staatsrechtlichen
Fiktion nicht entsprechen, ist jedermann bekannt. Dennoch wird das Prinzip
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