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Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Viertes Quartal.

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Schutze der alten geschichtlichen Gesellschaftsordnung, Wir würden es mir für
einen Gewinn ansehen, wenn dieser Stand aus seinen Reihen Mitglieder in die
gesetzgebende Versammlung entsendete. Auch den industriellen Arbeitern kann
uur empfohlen werden, die Vertretung ihrer Interessen an Berufsgenossen zu
übertragen, anstatt sich der Leitung eines Proletariates der Feder anzuvertrauen.
Mit Münueru aus dem Volke, mit Leuten von individueller praktischer Er¬
fahrung wird eine Verständigung in jedem Falle leichter sein.

Wer möchte verkennen, daß manche ihrer Forderungen Gehör verdienen!
Gegenwärtig ist die rote Fahne des Sozialismus das Wahrzeichen aller Mi߬
vergnügten. Es gilt, diese Schaaren von der Tyrannei und dein verderblichen
Einflüsse ihrer Führer zu befreien. Die Aufgabe ist ernst. Hüten wir uns
aber auch vor unwürdigem Schmachmut. Die 550000 sozialistischen Stimmen
der letzten Reichstagswahl bilden 9,7 Prozent der gesamten Stimmenzahl.
Noch besitzen die ordnungsliebenden Parteien die zehnfache Überlegenheit. Die
"Emanzipation des vierten Standes" vollzieht sich nicht mit der unerbittlichen
Notwendigkeit eines Naturgesetzes. Einen vierten Stand, wie ihn die sozialistische
Agitation aufstellt, giebt es überhaupt nicht. Die Lohnarbeit, mag sie nnn in
einem lageweise bemessenen Entgelte, in fester Besoldung oder in freiem Um¬
tausche bewertet werden, reicht weit höher hinauf, als die demagogischen Führer
anzunehmen belieben, und umfaßt Gesellschaftsklassen, die sich der Einwirkung
ihrer Theorien durchaus entziehen. Daß zur Abwehr eiuer Überbürdung und
Ausbeutung des Arbeiterstandes, namentlich des industriellen, manches geschehen
kann, wird niemand in Abrede stellen. In der Fabrikgesetzgebung, in der Be¬
messung der Arbeitszeit, in der Beschränkung von Kinderarbeit, durch Wahrung
der Sonntagsruhe, durch Innungen und Zwangsvcrsicherungen, durch Erwei¬
terung monopolistischer Anstalten ist der Fürsorge des Staates ein weites Gebiet
erfolgreicher Reformen vorbehalten. Die Entwicklung der Kollektivwirtschaft
unter staatlicher Autorität hat eine Zukunft, der demokratische Kommunismus
uicht. Auch der ungleiche Kampf des Handwerkes mit der Großindustrie er¬
fordert Beachtung. Das deutsche Handwerk ist uicht abgelebt oder gar tot,
wie die fortschrittliche Presse behauptet. Durch korporative Einigung kann es
sehr Wohl wieder erstarken. Wenn auch einzelne Industriezweige Maschinen-
Hilfsmittel im Großbetriebe nicht entbehren können, so wird doch auf vielen Ge¬
bieten der gewerblichen Produktion die Jndividualleistung, die persönliche Tüch¬
tigkeit und Meisterschaft ein unentbehrlicher, wertbildender Faktor bleiben.

Unter der Einwirkung des staunenswerten Aufschwunges des Weltverkehrs,
der unser Zeitalter kennzeichnet, scheu wir das ökonomische Umsatzgebiet sich
immer mehr erweitern, die Volkswirtschaft sich allmählich zur Weltwirtschaft
umgestalte". Angesichts dieser zentrifugalen Schwingungen unsrer Wirtschafts-
cpvche und nicht minder zur Alnvehr des internationalen Radikalismus in den
politischen, wie des verflachende" Materialismus in den geistigen Anschauungen


Schutze der alten geschichtlichen Gesellschaftsordnung, Wir würden es mir für
einen Gewinn ansehen, wenn dieser Stand aus seinen Reihen Mitglieder in die
gesetzgebende Versammlung entsendete. Auch den industriellen Arbeitern kann
uur empfohlen werden, die Vertretung ihrer Interessen an Berufsgenossen zu
übertragen, anstatt sich der Leitung eines Proletariates der Feder anzuvertrauen.
Mit Münueru aus dem Volke, mit Leuten von individueller praktischer Er¬
fahrung wird eine Verständigung in jedem Falle leichter sein.

Wer möchte verkennen, daß manche ihrer Forderungen Gehör verdienen!
Gegenwärtig ist die rote Fahne des Sozialismus das Wahrzeichen aller Mi߬
vergnügten. Es gilt, diese Schaaren von der Tyrannei und dein verderblichen
Einflüsse ihrer Führer zu befreien. Die Aufgabe ist ernst. Hüten wir uns
aber auch vor unwürdigem Schmachmut. Die 550000 sozialistischen Stimmen
der letzten Reichstagswahl bilden 9,7 Prozent der gesamten Stimmenzahl.
Noch besitzen die ordnungsliebenden Parteien die zehnfache Überlegenheit. Die
„Emanzipation des vierten Standes" vollzieht sich nicht mit der unerbittlichen
Notwendigkeit eines Naturgesetzes. Einen vierten Stand, wie ihn die sozialistische
Agitation aufstellt, giebt es überhaupt nicht. Die Lohnarbeit, mag sie nnn in
einem lageweise bemessenen Entgelte, in fester Besoldung oder in freiem Um¬
tausche bewertet werden, reicht weit höher hinauf, als die demagogischen Führer
anzunehmen belieben, und umfaßt Gesellschaftsklassen, die sich der Einwirkung
ihrer Theorien durchaus entziehen. Daß zur Abwehr eiuer Überbürdung und
Ausbeutung des Arbeiterstandes, namentlich des industriellen, manches geschehen
kann, wird niemand in Abrede stellen. In der Fabrikgesetzgebung, in der Be¬
messung der Arbeitszeit, in der Beschränkung von Kinderarbeit, durch Wahrung
der Sonntagsruhe, durch Innungen und Zwangsvcrsicherungen, durch Erwei¬
terung monopolistischer Anstalten ist der Fürsorge des Staates ein weites Gebiet
erfolgreicher Reformen vorbehalten. Die Entwicklung der Kollektivwirtschaft
unter staatlicher Autorität hat eine Zukunft, der demokratische Kommunismus
uicht. Auch der ungleiche Kampf des Handwerkes mit der Großindustrie er¬
fordert Beachtung. Das deutsche Handwerk ist uicht abgelebt oder gar tot,
wie die fortschrittliche Presse behauptet. Durch korporative Einigung kann es
sehr Wohl wieder erstarken. Wenn auch einzelne Industriezweige Maschinen-
Hilfsmittel im Großbetriebe nicht entbehren können, so wird doch auf vielen Ge¬
bieten der gewerblichen Produktion die Jndividualleistung, die persönliche Tüch¬
tigkeit und Meisterschaft ein unentbehrlicher, wertbildender Faktor bleiben.

Unter der Einwirkung des staunenswerten Aufschwunges des Weltverkehrs,
der unser Zeitalter kennzeichnet, scheu wir das ökonomische Umsatzgebiet sich
immer mehr erweitern, die Volkswirtschaft sich allmählich zur Weltwirtschaft
umgestalte». Angesichts dieser zentrifugalen Schwingungen unsrer Wirtschafts-
cpvche und nicht minder zur Alnvehr des internationalen Radikalismus in den
politischen, wie des verflachende» Materialismus in den geistigen Anschauungen


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341841_196733/140>, abgerufen am 15.01.2025.