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Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Drittes Quartal.

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Luglischc Musik,

Seitz junger Leute, die vom Blatte und die rein singen, als bei uns. Man kann
das schon merke", wenn man in die Kirchen geht: in Stadt und Land ist es
dort in der Regel eine grosze Frende zuzuhören, wie die ganze Versammlung
frisch und sicher die zum Teile nicht leichten Hymnen und Psalmen ausführt.
Dem englischen Gemeindegcsang fehlt der Ernst und die Feierlichkeit unsrer
Choräle, in einzelnen Sekten hört man muntere Weisen, die wir uuter dem
Begriff der Kirchenmusik kaum unterbringen können. Aber das Wohlgefallen
um der Ausführung, an dem allgemeinen und sichern Mitthun hilft dem
Fremden über diese Bedenken hinweg. Auch ist in England die Zahl der ge¬
schulten Kirchenchöre eine viel größere. Ein Blick in die Zeitungen zeigt schon,
das; dort der Stand eines Kirchensängers sehr annehmbare Chancen bietet. Es
giebt Musikfeste, welche nur von Kirchenchören in den Gesangspartien besetzt
werden. Das alles sind Verhältnisse, welche dem Gedeihen des Chorgesauges
und der Chorvereine in England sehr zu statten kommen. So oft ich Oratorien¬
aufführungen von englischen Chorvcreincn gehört habe, war ich über die Fülle
und Reinheit des Klanges und über die Sicherheit und Frische, mit welcher
gesungen wurde, erfreut. Garcia und andre Gesanglehrer haben zwar erklärt,
eine englische Kehle und ein guter Gesangton seien Größen, die einander aus¬
schlossen. Das mag richtig sein, so lange die Engländer Italienisch oder Deutsch
singen sollen -- in diesen Sprachen ist ihnen die Bestimmtheit der Vokale un¬
erreichbar. Wenn sie aber in ihrer Muttersprache zu singen haben, so kommt das
vorzügliche Stimmenmaterial zur Geltung. Es klingt gut, nur etwas anders,
als wir es gewöhnt sind, nämlich etwas flacher und Heller. Dieselbe Nüance be¬
merken wir aber auch im Ton der englischen Klaviere und schließlich auch auf
den englischen Bildern. Sie ist dein Engländer die normale -- er hört und sieht
etwas anders als wir --, eine kleine Neigung zum Grellen kann man in allem
verfolgen, was englisch ist: in der Tracht der Kleider, in den Romanen u. s. w.

Einen ziemlich guten Beweis für die günstige Disposition zum Chorgesang
kann man in der Menge der Aufführungen erblicken, welche die Chorvereinc
veranstalten. Wer namentlich um die Weihnachtszeit nach London kommt, wird
überrascht sein über die Menge von Gelegenheiten, Oratorien zu hören -- oft
zwei oder drei an einem Tage! Und in was für Besetzungen! Die Chorschaaren
von fünf-, sechs-, achthundert Damen und Herren, welche wir bei unsern Musik-
festen anstaunen, sind dem Londoner eine alltägliche Erscheinung. Die Riesen¬
haie des Krystallpalastes und von Albert-Hall verlangen auch Massen, wenn
die Musik noch Physisch wirken soll. Man denke sich einen Kuppelbau, in welchem
8000 Zuhörer Platz haben, das ist Albert-Hall! Von der obersten Galerie
kann man die einzelnen Musiker auf dein Podium nur mit dem Opernglase
unterscheiden, und an grauen, seuchten Tagen liegt der Nebel im Raume und
bedeckt das ganze Parterre. Und doch hört man in diesem Koloß ganz gut,
selbst die Solisten. Dünn klingen die Stimmen allerdings, selbst die stärksten,


Luglischc Musik,

Seitz junger Leute, die vom Blatte und die rein singen, als bei uns. Man kann
das schon merke», wenn man in die Kirchen geht: in Stadt und Land ist es
dort in der Regel eine grosze Frende zuzuhören, wie die ganze Versammlung
frisch und sicher die zum Teile nicht leichten Hymnen und Psalmen ausführt.
Dem englischen Gemeindegcsang fehlt der Ernst und die Feierlichkeit unsrer
Choräle, in einzelnen Sekten hört man muntere Weisen, die wir uuter dem
Begriff der Kirchenmusik kaum unterbringen können. Aber das Wohlgefallen
um der Ausführung, an dem allgemeinen und sichern Mitthun hilft dem
Fremden über diese Bedenken hinweg. Auch ist in England die Zahl der ge¬
schulten Kirchenchöre eine viel größere. Ein Blick in die Zeitungen zeigt schon,
das; dort der Stand eines Kirchensängers sehr annehmbare Chancen bietet. Es
giebt Musikfeste, welche nur von Kirchenchören in den Gesangspartien besetzt
werden. Das alles sind Verhältnisse, welche dem Gedeihen des Chorgesauges
und der Chorvereine in England sehr zu statten kommen. So oft ich Oratorien¬
aufführungen von englischen Chorvcreincn gehört habe, war ich über die Fülle
und Reinheit des Klanges und über die Sicherheit und Frische, mit welcher
gesungen wurde, erfreut. Garcia und andre Gesanglehrer haben zwar erklärt,
eine englische Kehle und ein guter Gesangton seien Größen, die einander aus¬
schlossen. Das mag richtig sein, so lange die Engländer Italienisch oder Deutsch
singen sollen — in diesen Sprachen ist ihnen die Bestimmtheit der Vokale un¬
erreichbar. Wenn sie aber in ihrer Muttersprache zu singen haben, so kommt das
vorzügliche Stimmenmaterial zur Geltung. Es klingt gut, nur etwas anders,
als wir es gewöhnt sind, nämlich etwas flacher und Heller. Dieselbe Nüance be¬
merken wir aber auch im Ton der englischen Klaviere und schließlich auch auf
den englischen Bildern. Sie ist dein Engländer die normale — er hört und sieht
etwas anders als wir —, eine kleine Neigung zum Grellen kann man in allem
verfolgen, was englisch ist: in der Tracht der Kleider, in den Romanen u. s. w.

Einen ziemlich guten Beweis für die günstige Disposition zum Chorgesang
kann man in der Menge der Aufführungen erblicken, welche die Chorvereinc
veranstalten. Wer namentlich um die Weihnachtszeit nach London kommt, wird
überrascht sein über die Menge von Gelegenheiten, Oratorien zu hören — oft
zwei oder drei an einem Tage! Und in was für Besetzungen! Die Chorschaaren
von fünf-, sechs-, achthundert Damen und Herren, welche wir bei unsern Musik-
festen anstaunen, sind dem Londoner eine alltägliche Erscheinung. Die Riesen¬
haie des Krystallpalastes und von Albert-Hall verlangen auch Massen, wenn
die Musik noch Physisch wirken soll. Man denke sich einen Kuppelbau, in welchem
8000 Zuhörer Platz haben, das ist Albert-Hall! Von der obersten Galerie
kann man die einzelnen Musiker auf dein Podium nur mit dem Opernglase
unterscheiden, und an grauen, seuchten Tagen liegt der Nebel im Raume und
bedeckt das ganze Parterre. Und doch hört man in diesem Koloß ganz gut,
selbst die Solisten. Dünn klingen die Stimmen allerdings, selbst die stärksten,


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[0531] Luglischc Musik, Seitz junger Leute, die vom Blatte und die rein singen, als bei uns. Man kann das schon merke», wenn man in die Kirchen geht: in Stadt und Land ist es dort in der Regel eine grosze Frende zuzuhören, wie die ganze Versammlung frisch und sicher die zum Teile nicht leichten Hymnen und Psalmen ausführt. Dem englischen Gemeindegcsang fehlt der Ernst und die Feierlichkeit unsrer Choräle, in einzelnen Sekten hört man muntere Weisen, die wir uuter dem Begriff der Kirchenmusik kaum unterbringen können. Aber das Wohlgefallen um der Ausführung, an dem allgemeinen und sichern Mitthun hilft dem Fremden über diese Bedenken hinweg. Auch ist in England die Zahl der ge¬ schulten Kirchenchöre eine viel größere. Ein Blick in die Zeitungen zeigt schon, das; dort der Stand eines Kirchensängers sehr annehmbare Chancen bietet. Es giebt Musikfeste, welche nur von Kirchenchören in den Gesangspartien besetzt werden. Das alles sind Verhältnisse, welche dem Gedeihen des Chorgesauges und der Chorvereine in England sehr zu statten kommen. So oft ich Oratorien¬ aufführungen von englischen Chorvcreincn gehört habe, war ich über die Fülle und Reinheit des Klanges und über die Sicherheit und Frische, mit welcher gesungen wurde, erfreut. Garcia und andre Gesanglehrer haben zwar erklärt, eine englische Kehle und ein guter Gesangton seien Größen, die einander aus¬ schlossen. Das mag richtig sein, so lange die Engländer Italienisch oder Deutsch singen sollen — in diesen Sprachen ist ihnen die Bestimmtheit der Vokale un¬ erreichbar. Wenn sie aber in ihrer Muttersprache zu singen haben, so kommt das vorzügliche Stimmenmaterial zur Geltung. Es klingt gut, nur etwas anders, als wir es gewöhnt sind, nämlich etwas flacher und Heller. Dieselbe Nüance be¬ merken wir aber auch im Ton der englischen Klaviere und schließlich auch auf den englischen Bildern. Sie ist dein Engländer die normale — er hört und sieht etwas anders als wir —, eine kleine Neigung zum Grellen kann man in allem verfolgen, was englisch ist: in der Tracht der Kleider, in den Romanen u. s. w. Einen ziemlich guten Beweis für die günstige Disposition zum Chorgesang kann man in der Menge der Aufführungen erblicken, welche die Chorvereinc veranstalten. Wer namentlich um die Weihnachtszeit nach London kommt, wird überrascht sein über die Menge von Gelegenheiten, Oratorien zu hören — oft zwei oder drei an einem Tage! Und in was für Besetzungen! Die Chorschaaren von fünf-, sechs-, achthundert Damen und Herren, welche wir bei unsern Musik- festen anstaunen, sind dem Londoner eine alltägliche Erscheinung. Die Riesen¬ haie des Krystallpalastes und von Albert-Hall verlangen auch Massen, wenn die Musik noch Physisch wirken soll. Man denke sich einen Kuppelbau, in welchem 8000 Zuhörer Platz haben, das ist Albert-Hall! Von der obersten Galerie kann man die einzelnen Musiker auf dein Podium nur mit dem Opernglase unterscheiden, und an grauen, seuchten Tagen liegt der Nebel im Raume und bedeckt das ganze Parterre. Und doch hört man in diesem Koloß ganz gut, selbst die Solisten. Dünn klingen die Stimmen allerdings, selbst die stärksten,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Drittes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341841_196099/531>, abgerufen am 01.09.2024.