Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Drittes Quartal.

Bild:
<< vorherige Seite
Populäre Schriftsteller

Symphonie befürchten! Das Schöne "regt das höchste Geschlechtszentruin im
Gehirn an,.. Darum Versinnlicht man sich den Begriff des Vaterlandes, des
Ruhmes, der Freundschaft, des Mitleids, der Weisheit u. s. w, als Weib," Wie
geht es nun zu, daß wir die Liebe nicht als Weib, sondern als Knaben ver¬
sinnlichen? Das ist ein Erbstück aus der klassischen Mythologie! Ganz wohl,
und jene andern Personifikationen nicht? Und waren die Griechen und Römer
Menschen andrer Art als wir? "Das Niedliche ist diejenige Erscheinung, die
direkt oder durch Gedankenverbindung an die Vorstellung des Kindes anknüpft,
und den unmittelbar mit der Gattnngserhaltnug zusammenhängenden Trieb der
Kindesliebe anregt,., Die Musik kann nicht den Eindruck des niedlichen geben,
weil sie die wesentlichen Züge der Kiudeserscheiuuug weder nachahmen noch durch
Gedankenverbindung auf sie bringen kann n, s. w." Doch der Leser hat wohl
genug von dieser materialistische" oder meinetwegen biologischen Ästhetik, dnrch
welche "hundert Philosophen von Plato bis Fichte, Hegel, Bischer und Carriere"
widerlegt werden sollen. Sehr drollig nimmt sich daneben die Stelle aus: "Es
wäre so niedlich, wenn mich die gediegensten Bettler oder Weinbeißer hoffen
dürften, den absteigenden Teil ihrer erfolgreichen Lebensbahn mit dem Schmucke
eines passenden Titels, der etwa Fcchtrat oder Kneiprat lauten könnte, zurück¬
zulegen," Also das wäre "niedlich"! Würde das den Trieb der Kindesliebe
anregen? Recht kindisch erscheint der Satz allerdings. Überhaupt leistet das
Kapitel, in welchem derselbe vorkommt und welches ausführt, daß der Staat
durch Titel und Orden den Charakter vernichte, das äußerste an Banalität, Der
Verfasser kann darin keinen Tadel erblicken. Denn auf Seite 69 seines Buches
ist zu lesen: "Die Banalität von heute ist nicht nur die Originalität von gestern
schlechtweg, sie ist sogar die Blutenlese dieser Originalität, das beste und wert¬
vollste derselben, das von ihr, was Dauer verdiente, weil es nicht neu allein,
sondern neu, wahr und gut war. Hut ab vor der Banalität! Sie ist die
Sammlung des Vortrefflichsten, was der Menschengeist bis zur Gegenwart
hervorgebracht hat," Beweis? Der Vergleich der Augen mit Sternen ist banal
geworden, weil er vortrefflich ist; Lenaus "packendes Bild (An ihren bunten
Liedern klettert die Lerche selig in die Luft) wird dieses Schicksal nicht haben.
Es ist dazu nicht tiefsinnig genug." Was man doch alles lernt! Ich hatte
dieses Gleichnis immer für geradezu abgeschmackt, durchaus unsinnlich und un¬
poetisch gehalten; der wie ein Papagei kletternde, und zwar an seinen eignen
Liedern und zwar an seinen bunten Liedern kletternde Vogel schien noch Münch-
hausen, der sich an seinem Zopf aus dem Sumpfe zieht, zu übertreffen. Doch
ist sein Fehler uur ein zu geringes Maß an Tiefsinn! Es ist klar, die Ästhetik
muß evvlutiottistisch werdeu.




Populäre Schriftsteller

Symphonie befürchten! Das Schöne „regt das höchste Geschlechtszentruin im
Gehirn an,.. Darum Versinnlicht man sich den Begriff des Vaterlandes, des
Ruhmes, der Freundschaft, des Mitleids, der Weisheit u. s. w, als Weib," Wie
geht es nun zu, daß wir die Liebe nicht als Weib, sondern als Knaben ver¬
sinnlichen? Das ist ein Erbstück aus der klassischen Mythologie! Ganz wohl,
und jene andern Personifikationen nicht? Und waren die Griechen und Römer
Menschen andrer Art als wir? „Das Niedliche ist diejenige Erscheinung, die
direkt oder durch Gedankenverbindung an die Vorstellung des Kindes anknüpft,
und den unmittelbar mit der Gattnngserhaltnug zusammenhängenden Trieb der
Kindesliebe anregt,., Die Musik kann nicht den Eindruck des niedlichen geben,
weil sie die wesentlichen Züge der Kiudeserscheiuuug weder nachahmen noch durch
Gedankenverbindung auf sie bringen kann n, s. w." Doch der Leser hat wohl
genug von dieser materialistische» oder meinetwegen biologischen Ästhetik, dnrch
welche „hundert Philosophen von Plato bis Fichte, Hegel, Bischer und Carriere"
widerlegt werden sollen. Sehr drollig nimmt sich daneben die Stelle aus: „Es
wäre so niedlich, wenn mich die gediegensten Bettler oder Weinbeißer hoffen
dürften, den absteigenden Teil ihrer erfolgreichen Lebensbahn mit dem Schmucke
eines passenden Titels, der etwa Fcchtrat oder Kneiprat lauten könnte, zurück¬
zulegen," Also das wäre „niedlich"! Würde das den Trieb der Kindesliebe
anregen? Recht kindisch erscheint der Satz allerdings. Überhaupt leistet das
Kapitel, in welchem derselbe vorkommt und welches ausführt, daß der Staat
durch Titel und Orden den Charakter vernichte, das äußerste an Banalität, Der
Verfasser kann darin keinen Tadel erblicken. Denn auf Seite 69 seines Buches
ist zu lesen: „Die Banalität von heute ist nicht nur die Originalität von gestern
schlechtweg, sie ist sogar die Blutenlese dieser Originalität, das beste und wert¬
vollste derselben, das von ihr, was Dauer verdiente, weil es nicht neu allein,
sondern neu, wahr und gut war. Hut ab vor der Banalität! Sie ist die
Sammlung des Vortrefflichsten, was der Menschengeist bis zur Gegenwart
hervorgebracht hat," Beweis? Der Vergleich der Augen mit Sternen ist banal
geworden, weil er vortrefflich ist; Lenaus „packendes Bild (An ihren bunten
Liedern klettert die Lerche selig in die Luft) wird dieses Schicksal nicht haben.
Es ist dazu nicht tiefsinnig genug." Was man doch alles lernt! Ich hatte
dieses Gleichnis immer für geradezu abgeschmackt, durchaus unsinnlich und un¬
poetisch gehalten; der wie ein Papagei kletternde, und zwar an seinen eignen
Liedern und zwar an seinen bunten Liedern kletternde Vogel schien noch Münch-
hausen, der sich an seinem Zopf aus dem Sumpfe zieht, zu übertreffen. Doch
ist sein Fehler uur ein zu geringes Maß an Tiefsinn! Es ist klar, die Ästhetik
muß evvlutiottistisch werdeu.




<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0480" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/196580"/>
          <fw type="header" place="top"> Populäre Schriftsteller</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_1866" prev="#ID_1865"> Symphonie befürchten! Das Schöne &#x201E;regt das höchste Geschlechtszentruin im<lb/>
Gehirn an,.. Darum Versinnlicht man sich den Begriff des Vaterlandes, des<lb/>
Ruhmes, der Freundschaft, des Mitleids, der Weisheit u. s. w, als Weib," Wie<lb/>
geht es nun zu, daß wir die Liebe nicht als Weib, sondern als Knaben ver¬<lb/>
sinnlichen? Das ist ein Erbstück aus der klassischen Mythologie! Ganz wohl,<lb/>
und jene andern Personifikationen nicht? Und waren die Griechen und Römer<lb/>
Menschen andrer Art als wir? &#x201E;Das Niedliche ist diejenige Erscheinung, die<lb/>
direkt oder durch Gedankenverbindung an die Vorstellung des Kindes anknüpft,<lb/>
und den unmittelbar mit der Gattnngserhaltnug zusammenhängenden Trieb der<lb/>
Kindesliebe anregt,., Die Musik kann nicht den Eindruck des niedlichen geben,<lb/>
weil sie die wesentlichen Züge der Kiudeserscheiuuug weder nachahmen noch durch<lb/>
Gedankenverbindung auf sie bringen kann n, s. w." Doch der Leser hat wohl<lb/>
genug von dieser materialistische» oder meinetwegen biologischen Ästhetik, dnrch<lb/>
welche &#x201E;hundert Philosophen von Plato bis Fichte, Hegel, Bischer und Carriere"<lb/>
widerlegt werden sollen. Sehr drollig nimmt sich daneben die Stelle aus: &#x201E;Es<lb/>
wäre so niedlich, wenn mich die gediegensten Bettler oder Weinbeißer hoffen<lb/>
dürften, den absteigenden Teil ihrer erfolgreichen Lebensbahn mit dem Schmucke<lb/>
eines passenden Titels, der etwa Fcchtrat oder Kneiprat lauten könnte, zurück¬<lb/>
zulegen," Also das wäre &#x201E;niedlich"! Würde das den Trieb der Kindesliebe<lb/>
anregen? Recht kindisch erscheint der Satz allerdings. Überhaupt leistet das<lb/>
Kapitel, in welchem derselbe vorkommt und welches ausführt, daß der Staat<lb/>
durch Titel und Orden den Charakter vernichte, das äußerste an Banalität, Der<lb/>
Verfasser kann darin keinen Tadel erblicken. Denn auf Seite 69 seines Buches<lb/>
ist zu lesen: &#x201E;Die Banalität von heute ist nicht nur die Originalität von gestern<lb/>
schlechtweg, sie ist sogar die Blutenlese dieser Originalität, das beste und wert¬<lb/>
vollste derselben, das von ihr, was Dauer verdiente, weil es nicht neu allein,<lb/>
sondern neu, wahr und gut war. Hut ab vor der Banalität! Sie ist die<lb/>
Sammlung des Vortrefflichsten, was der Menschengeist bis zur Gegenwart<lb/>
hervorgebracht hat," Beweis? Der Vergleich der Augen mit Sternen ist banal<lb/>
geworden, weil er vortrefflich ist; Lenaus &#x201E;packendes Bild (An ihren bunten<lb/>
Liedern klettert die Lerche selig in die Luft) wird dieses Schicksal nicht haben.<lb/>
Es ist dazu nicht tiefsinnig genug." Was man doch alles lernt! Ich hatte<lb/>
dieses Gleichnis immer für geradezu abgeschmackt, durchaus unsinnlich und un¬<lb/>
poetisch gehalten; der wie ein Papagei kletternde, und zwar an seinen eignen<lb/>
Liedern und zwar an seinen bunten Liedern kletternde Vogel schien noch Münch-<lb/>
hausen, der sich an seinem Zopf aus dem Sumpfe zieht, zu übertreffen. Doch<lb/>
ist sein Fehler uur ein zu geringes Maß an Tiefsinn! Es ist klar, die Ästhetik<lb/>
muß evvlutiottistisch werdeu.</p><lb/>
          <milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0480] Populäre Schriftsteller Symphonie befürchten! Das Schöne „regt das höchste Geschlechtszentruin im Gehirn an,.. Darum Versinnlicht man sich den Begriff des Vaterlandes, des Ruhmes, der Freundschaft, des Mitleids, der Weisheit u. s. w, als Weib," Wie geht es nun zu, daß wir die Liebe nicht als Weib, sondern als Knaben ver¬ sinnlichen? Das ist ein Erbstück aus der klassischen Mythologie! Ganz wohl, und jene andern Personifikationen nicht? Und waren die Griechen und Römer Menschen andrer Art als wir? „Das Niedliche ist diejenige Erscheinung, die direkt oder durch Gedankenverbindung an die Vorstellung des Kindes anknüpft, und den unmittelbar mit der Gattnngserhaltnug zusammenhängenden Trieb der Kindesliebe anregt,., Die Musik kann nicht den Eindruck des niedlichen geben, weil sie die wesentlichen Züge der Kiudeserscheiuuug weder nachahmen noch durch Gedankenverbindung auf sie bringen kann n, s. w." Doch der Leser hat wohl genug von dieser materialistische» oder meinetwegen biologischen Ästhetik, dnrch welche „hundert Philosophen von Plato bis Fichte, Hegel, Bischer und Carriere" widerlegt werden sollen. Sehr drollig nimmt sich daneben die Stelle aus: „Es wäre so niedlich, wenn mich die gediegensten Bettler oder Weinbeißer hoffen dürften, den absteigenden Teil ihrer erfolgreichen Lebensbahn mit dem Schmucke eines passenden Titels, der etwa Fcchtrat oder Kneiprat lauten könnte, zurück¬ zulegen," Also das wäre „niedlich"! Würde das den Trieb der Kindesliebe anregen? Recht kindisch erscheint der Satz allerdings. Überhaupt leistet das Kapitel, in welchem derselbe vorkommt und welches ausführt, daß der Staat durch Titel und Orden den Charakter vernichte, das äußerste an Banalität, Der Verfasser kann darin keinen Tadel erblicken. Denn auf Seite 69 seines Buches ist zu lesen: „Die Banalität von heute ist nicht nur die Originalität von gestern schlechtweg, sie ist sogar die Blutenlese dieser Originalität, das beste und wert¬ vollste derselben, das von ihr, was Dauer verdiente, weil es nicht neu allein, sondern neu, wahr und gut war. Hut ab vor der Banalität! Sie ist die Sammlung des Vortrefflichsten, was der Menschengeist bis zur Gegenwart hervorgebracht hat," Beweis? Der Vergleich der Augen mit Sternen ist banal geworden, weil er vortrefflich ist; Lenaus „packendes Bild (An ihren bunten Liedern klettert die Lerche selig in die Luft) wird dieses Schicksal nicht haben. Es ist dazu nicht tiefsinnig genug." Was man doch alles lernt! Ich hatte dieses Gleichnis immer für geradezu abgeschmackt, durchaus unsinnlich und un¬ poetisch gehalten; der wie ein Papagei kletternde, und zwar an seinen eignen Liedern und zwar an seinen bunten Liedern kletternde Vogel schien noch Münch- hausen, der sich an seinem Zopf aus dem Sumpfe zieht, zu übertreffen. Doch ist sein Fehler uur ein zu geringes Maß an Tiefsinn! Es ist klar, die Ästhetik muß evvlutiottistisch werdeu.

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341841_196099
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341841_196099/480
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Drittes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341841_196099/480>, abgerufen am 23.11.2024.