Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Drittes Quartal.

Bild:
<< vorherige Seite

Männer sich über die Menge erhaben fühlen und dennoch für diese Menge
wirken, oder, was dem Verfasser gleichbedeutend zu sein scheint, um deren Bei¬
fall werben, voll allen Seiten beleuchtet, um endlich "auf biologischer Grundlage"
erklärt zu werden: die Originalität des Einzelnen überwindet allmählich die
Banalität der Masse, die Originalität von gestern ist die Banalität von heute.
Es ist erstaunlich! Und um zu dieser epochemachenden Entdeckung zu gelangen,
müssen wir uns lang und breit auseinandersetzen lassen, daß die Abstammung
von einem elterlichen Organismus Ähnlichkeiten und einen gewissen Zusam¬
menhang der Individuen bewirkt, das ursprüngliche Lebensgesetz aber deren
Sonderung und Selbständigkeit. Nun brauchte bloß noch ermittelt zu werden,
von welchen Umständen es abhängt, daß sich einmal diese, ein andermal jene
geistigen oder körperlichen Eigenschaften der Erzeuger auf die Kinder vererben,
weshalb trotz Darwin so oft gerade die Originalität bedeutender Geister als
Erbschaft von mütterlicher Seite erscheint, wie die so häufigen Sprünge in den
Ähnlichkeiten vom Großvater auf den Enkel zusammenhängen, und wir wären
wirklich der Lösung eines Rätsels beträchtlich nähergerückt.

Sehr einverstanden muß man wohl mit Nordan sein, wenn er für die
einzige" wirklichen Neuerer die aufgeklärten Despoten erklärt, und findet, daß
die Revolutionen, welche von der Masse ausgingen, "unaufhaltsam in den Ge¬
meinplatz zurückfielen." Und wenn er das beste Mittel, die Menge von der
Unsinnigkeit ihrer Forderungen zu überzeugen, in der Gewährung derselben
sieht, so kann er glauben, daß zu solcher Erkenntnis Unzählige längst gekommen
sind; leider verrät er nicht, wie dieses Experiment ohne schwere und nachhaltige
Schädigung der Gesamtheit durchzuführen wäre.

Unter dem Titel "Rückblick" erhalten wir die bereits erwähnte Schilderung
einer Gesellschaft, welche bei dem Verfasser Ekel und Grauen erregt und ihn
um der Menschheit verzweifeln läßt; als er sich jedoch erinnert, daß Menschen
das Mikroskop und das Teleskop erfunden haben, und daß es ausgezeichnete
Naturforscher und Philosophen unter ihnen giebt, schwindet der Katzenjammer.
"Eine tiefe Liebe und Bewunderung für die ganze Menschheit zog in mein Herz
ein, und sie hat thatsächlich so lange gedauert, bis ich -- wieder unter Menschen
ging." Sollte dieser Gedankengang noch niemals als Grundlage für deutsche
Aufsätze in höheren Töchterschulen gedient haben?

Werfen wir schließlich noch einen Blick in die "Evolntiouistische Ästhetik."
Diese lehrt uus: "Das Erhabene häugt am direktesten mit dem Selbsterhaltungs¬
triebe des Individuums zusammen, nämlich mit seiner Gewohnheit, sich als
Gegensatz zur Außenwelt zu empfinden, diese als möglichen Feind aufzufassen
und die Aussichten des Sieges oder der Niederlage im Falle des Zusammen¬
stoßes abzuschätzen." Also die Pcterskuppel macht auf uus deu Eindruck des
Erhabnen, weil wir abschätzen, daß sie, zusammenbrechend, uns zermalmen würde.
Wenn ich aber mir wüßte, was wir bei einem Zusammenstoße mit der neunten


Männer sich über die Menge erhaben fühlen und dennoch für diese Menge
wirken, oder, was dem Verfasser gleichbedeutend zu sein scheint, um deren Bei¬
fall werben, voll allen Seiten beleuchtet, um endlich „auf biologischer Grundlage"
erklärt zu werden: die Originalität des Einzelnen überwindet allmählich die
Banalität der Masse, die Originalität von gestern ist die Banalität von heute.
Es ist erstaunlich! Und um zu dieser epochemachenden Entdeckung zu gelangen,
müssen wir uns lang und breit auseinandersetzen lassen, daß die Abstammung
von einem elterlichen Organismus Ähnlichkeiten und einen gewissen Zusam¬
menhang der Individuen bewirkt, das ursprüngliche Lebensgesetz aber deren
Sonderung und Selbständigkeit. Nun brauchte bloß noch ermittelt zu werden,
von welchen Umständen es abhängt, daß sich einmal diese, ein andermal jene
geistigen oder körperlichen Eigenschaften der Erzeuger auf die Kinder vererben,
weshalb trotz Darwin so oft gerade die Originalität bedeutender Geister als
Erbschaft von mütterlicher Seite erscheint, wie die so häufigen Sprünge in den
Ähnlichkeiten vom Großvater auf den Enkel zusammenhängen, und wir wären
wirklich der Lösung eines Rätsels beträchtlich nähergerückt.

Sehr einverstanden muß man wohl mit Nordan sein, wenn er für die
einzige» wirklichen Neuerer die aufgeklärten Despoten erklärt, und findet, daß
die Revolutionen, welche von der Masse ausgingen, „unaufhaltsam in den Ge¬
meinplatz zurückfielen." Und wenn er das beste Mittel, die Menge von der
Unsinnigkeit ihrer Forderungen zu überzeugen, in der Gewährung derselben
sieht, so kann er glauben, daß zu solcher Erkenntnis Unzählige längst gekommen
sind; leider verrät er nicht, wie dieses Experiment ohne schwere und nachhaltige
Schädigung der Gesamtheit durchzuführen wäre.

Unter dem Titel „Rückblick" erhalten wir die bereits erwähnte Schilderung
einer Gesellschaft, welche bei dem Verfasser Ekel und Grauen erregt und ihn
um der Menschheit verzweifeln läßt; als er sich jedoch erinnert, daß Menschen
das Mikroskop und das Teleskop erfunden haben, und daß es ausgezeichnete
Naturforscher und Philosophen unter ihnen giebt, schwindet der Katzenjammer.
„Eine tiefe Liebe und Bewunderung für die ganze Menschheit zog in mein Herz
ein, und sie hat thatsächlich so lange gedauert, bis ich — wieder unter Menschen
ging." Sollte dieser Gedankengang noch niemals als Grundlage für deutsche
Aufsätze in höheren Töchterschulen gedient haben?

Werfen wir schließlich noch einen Blick in die „Evolntiouistische Ästhetik."
Diese lehrt uus: „Das Erhabene häugt am direktesten mit dem Selbsterhaltungs¬
triebe des Individuums zusammen, nämlich mit seiner Gewohnheit, sich als
Gegensatz zur Außenwelt zu empfinden, diese als möglichen Feind aufzufassen
und die Aussichten des Sieges oder der Niederlage im Falle des Zusammen¬
stoßes abzuschätzen." Also die Pcterskuppel macht auf uus deu Eindruck des
Erhabnen, weil wir abschätzen, daß sie, zusammenbrechend, uns zermalmen würde.
Wenn ich aber mir wüßte, was wir bei einem Zusammenstoße mit der neunten


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0479" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/196579"/>
          <fw type="header" place="top"/><lb/>
          <p xml:id="ID_1862" prev="#ID_1861"> Männer sich über die Menge erhaben fühlen und dennoch für diese Menge<lb/>
wirken, oder, was dem Verfasser gleichbedeutend zu sein scheint, um deren Bei¬<lb/>
fall werben, voll allen Seiten beleuchtet, um endlich &#x201E;auf biologischer Grundlage"<lb/>
erklärt zu werden: die Originalität des Einzelnen überwindet allmählich die<lb/>
Banalität der Masse, die Originalität von gestern ist die Banalität von heute.<lb/>
Es ist erstaunlich! Und um zu dieser epochemachenden Entdeckung zu gelangen,<lb/>
müssen wir uns lang und breit auseinandersetzen lassen, daß die Abstammung<lb/>
von einem elterlichen Organismus Ähnlichkeiten und einen gewissen Zusam¬<lb/>
menhang der Individuen bewirkt, das ursprüngliche Lebensgesetz aber deren<lb/>
Sonderung und Selbständigkeit. Nun brauchte bloß noch ermittelt zu werden,<lb/>
von welchen Umständen es abhängt, daß sich einmal diese, ein andermal jene<lb/>
geistigen oder körperlichen Eigenschaften der Erzeuger auf die Kinder vererben,<lb/>
weshalb trotz Darwin so oft gerade die Originalität bedeutender Geister als<lb/>
Erbschaft von mütterlicher Seite erscheint, wie die so häufigen Sprünge in den<lb/>
Ähnlichkeiten vom Großvater auf den Enkel zusammenhängen, und wir wären<lb/>
wirklich der Lösung eines Rätsels beträchtlich nähergerückt.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1863"> Sehr einverstanden muß man wohl mit Nordan sein, wenn er für die<lb/>
einzige» wirklichen Neuerer die aufgeklärten Despoten erklärt, und findet, daß<lb/>
die Revolutionen, welche von der Masse ausgingen, &#x201E;unaufhaltsam in den Ge¬<lb/>
meinplatz zurückfielen." Und wenn er das beste Mittel, die Menge von der<lb/>
Unsinnigkeit ihrer Forderungen zu überzeugen, in der Gewährung derselben<lb/>
sieht, so kann er glauben, daß zu solcher Erkenntnis Unzählige längst gekommen<lb/>
sind; leider verrät er nicht, wie dieses Experiment ohne schwere und nachhaltige<lb/>
Schädigung der Gesamtheit durchzuführen wäre.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1864"> Unter dem Titel &#x201E;Rückblick" erhalten wir die bereits erwähnte Schilderung<lb/>
einer Gesellschaft, welche bei dem Verfasser Ekel und Grauen erregt und ihn<lb/>
um der Menschheit verzweifeln läßt; als er sich jedoch erinnert, daß Menschen<lb/>
das Mikroskop und das Teleskop erfunden haben, und daß es ausgezeichnete<lb/>
Naturforscher und Philosophen unter ihnen giebt, schwindet der Katzenjammer.<lb/>
&#x201E;Eine tiefe Liebe und Bewunderung für die ganze Menschheit zog in mein Herz<lb/>
ein, und sie hat thatsächlich so lange gedauert, bis ich &#x2014; wieder unter Menschen<lb/>
ging." Sollte dieser Gedankengang noch niemals als Grundlage für deutsche<lb/>
Aufsätze in höheren Töchterschulen gedient haben?</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1865" next="#ID_1866"> Werfen wir schließlich noch einen Blick in die &#x201E;Evolntiouistische Ästhetik."<lb/>
Diese lehrt uus: &#x201E;Das Erhabene häugt am direktesten mit dem Selbsterhaltungs¬<lb/>
triebe des Individuums zusammen, nämlich mit seiner Gewohnheit, sich als<lb/>
Gegensatz zur Außenwelt zu empfinden, diese als möglichen Feind aufzufassen<lb/>
und die Aussichten des Sieges oder der Niederlage im Falle des Zusammen¬<lb/>
stoßes abzuschätzen." Also die Pcterskuppel macht auf uus deu Eindruck des<lb/>
Erhabnen, weil wir abschätzen, daß sie, zusammenbrechend, uns zermalmen würde.<lb/>
Wenn ich aber mir wüßte, was wir bei einem Zusammenstoße mit der neunten</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0479] Männer sich über die Menge erhaben fühlen und dennoch für diese Menge wirken, oder, was dem Verfasser gleichbedeutend zu sein scheint, um deren Bei¬ fall werben, voll allen Seiten beleuchtet, um endlich „auf biologischer Grundlage" erklärt zu werden: die Originalität des Einzelnen überwindet allmählich die Banalität der Masse, die Originalität von gestern ist die Banalität von heute. Es ist erstaunlich! Und um zu dieser epochemachenden Entdeckung zu gelangen, müssen wir uns lang und breit auseinandersetzen lassen, daß die Abstammung von einem elterlichen Organismus Ähnlichkeiten und einen gewissen Zusam¬ menhang der Individuen bewirkt, das ursprüngliche Lebensgesetz aber deren Sonderung und Selbständigkeit. Nun brauchte bloß noch ermittelt zu werden, von welchen Umständen es abhängt, daß sich einmal diese, ein andermal jene geistigen oder körperlichen Eigenschaften der Erzeuger auf die Kinder vererben, weshalb trotz Darwin so oft gerade die Originalität bedeutender Geister als Erbschaft von mütterlicher Seite erscheint, wie die so häufigen Sprünge in den Ähnlichkeiten vom Großvater auf den Enkel zusammenhängen, und wir wären wirklich der Lösung eines Rätsels beträchtlich nähergerückt. Sehr einverstanden muß man wohl mit Nordan sein, wenn er für die einzige» wirklichen Neuerer die aufgeklärten Despoten erklärt, und findet, daß die Revolutionen, welche von der Masse ausgingen, „unaufhaltsam in den Ge¬ meinplatz zurückfielen." Und wenn er das beste Mittel, die Menge von der Unsinnigkeit ihrer Forderungen zu überzeugen, in der Gewährung derselben sieht, so kann er glauben, daß zu solcher Erkenntnis Unzählige längst gekommen sind; leider verrät er nicht, wie dieses Experiment ohne schwere und nachhaltige Schädigung der Gesamtheit durchzuführen wäre. Unter dem Titel „Rückblick" erhalten wir die bereits erwähnte Schilderung einer Gesellschaft, welche bei dem Verfasser Ekel und Grauen erregt und ihn um der Menschheit verzweifeln läßt; als er sich jedoch erinnert, daß Menschen das Mikroskop und das Teleskop erfunden haben, und daß es ausgezeichnete Naturforscher und Philosophen unter ihnen giebt, schwindet der Katzenjammer. „Eine tiefe Liebe und Bewunderung für die ganze Menschheit zog in mein Herz ein, und sie hat thatsächlich so lange gedauert, bis ich — wieder unter Menschen ging." Sollte dieser Gedankengang noch niemals als Grundlage für deutsche Aufsätze in höheren Töchterschulen gedient haben? Werfen wir schließlich noch einen Blick in die „Evolntiouistische Ästhetik." Diese lehrt uus: „Das Erhabene häugt am direktesten mit dem Selbsterhaltungs¬ triebe des Individuums zusammen, nämlich mit seiner Gewohnheit, sich als Gegensatz zur Außenwelt zu empfinden, diese als möglichen Feind aufzufassen und die Aussichten des Sieges oder der Niederlage im Falle des Zusammen¬ stoßes abzuschätzen." Also die Pcterskuppel macht auf uus deu Eindruck des Erhabnen, weil wir abschätzen, daß sie, zusammenbrechend, uns zermalmen würde. Wenn ich aber mir wüßte, was wir bei einem Zusammenstoße mit der neunten

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341841_196099
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341841_196099/479
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Drittes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341841_196099/479>, abgerufen am 28.07.2024.