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Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Drittes Quartal.

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Vie erste Konstitution für Österreich.

hcrunterreden lassen, so hätte wohl manche spätere Krisis vermieden werden
können. Allein bald meinte er, "Garantien" für das Zustandekommen einer
regierungsfreundlichen Mehrheit abwarten zu müssen, und so gewährte er den
Altkonservativeu Ungarns Zeit, eine Koalition gegen ihn zu bilden, seinen Sturz
vorzubereiten. Was darauf folgte, die Sistirung, die Neaktivirung und die
Revision der Verfassung für die deutschen und slawischen Länder, die Wieder¬
einberufung des ungarischen Landtages, endlich die Wiederherstellung der achtund-
vierziger Gesetze in Ungarn, der Ausgleich -- alles das ist noch jedem in deut¬
licher Erinnerung.

Die Magyaren hatten durch zähes Beharren auf ihrem Rechtsboden, den
rechtskräftig zustande gekommenen Gesetzen von 1848, gesiegt, und die ihnen
preisgegebenen siebenbürger und Kroaten winden sich vergeblich in ihrer eisernen
Umschlingung. Daß das Beispiel Nachahmung sinde werde, war vorauszusehen.
Tschechen und Polen perhorresziren den Gesamtstaat, und da sie keinen Rechts-
boden haben, machen sie sich einen solchen oder auch mehrere; je nachdem
prvklamiren die Tschechen den Zustand vor 1618, oder das mystische böhmische
Staatsrecht, oder die pragmatische Sanktion, oder das Oktoberdiplom, und die
Galizier geberden sich, als sei ihr Land nur dnrch Personalunion mit den
übrigen verbunden. Beide haben auch von deu Ungarn gelernt, jedes Zu¬
geständnis für ungenügend zu erklären, aber es vorläufig auszunutzen. Nun
sind wieder die Deutschen unzufrieden und machen Miene, ihrerseits zur Abstinenz-
Politik überzugehen. Giebt es einen Ausweg aus diesem Wirrwarr?

Anton Springer, welcher zwar vor länger als dreißig Jahren die
österreichische Staatsbürgerschaft aufgegeben, aber nichtsdestoweniger der Heimat
warmes Interesse bewahrt hat, glaubt seinen Landsleuten den Ausweg zeigen
zu können, und der heißt: Rückkehr auf den Punkt vor dem Beginn der
Oktroirungspolitik, Rückkehr auf den von dem Reichstage in Kremsier in der
Zeit vom 13. Januar bis zum 4. März 1349 hergestellte" Rechtsboden.

Der Verfassungsausschuß hatte sich schon in den ersten Augusttagen des
Jahres zuvor in Wien konstituirt, die eigentliche Arbeit begann jedoch erst am
13. Januar in Kremsier. Am 15. März sollte das Plenum in die Beratung
des Entwurfes eintreten, doch schon am 7. März erfolgte die Auflösung. Daher
ist der Entwurf vielen Mitgliedern des Reichstages und vollends der Be¬
völkerung Österreichs gänzlich unbekannt geblieben. Ein Ausschußmitglied, der
mit Springer verwandte böhmische Abgeordnete Pinkas, hatte sich vorsichtiger-
weise eine Abschrift der Sitzungsprotokolle verschafft; diese wurde von Springer
schon für seine "Geschichte Österreichs seit dem Wiener Frieden 1809" benutzt, und
nun hat er sie vollständig und mit einer Einleitung versehen veröffentlicht.")



") Protokolle des Verfassungsausschusses im österreichischen Reichstage
1848--1849. Herausgegeben und eingeleitet von Anton Springer. Leipzig, S. Hirzel.
Vie erste Konstitution für Österreich.

hcrunterreden lassen, so hätte wohl manche spätere Krisis vermieden werden
können. Allein bald meinte er, „Garantien" für das Zustandekommen einer
regierungsfreundlichen Mehrheit abwarten zu müssen, und so gewährte er den
Altkonservativeu Ungarns Zeit, eine Koalition gegen ihn zu bilden, seinen Sturz
vorzubereiten. Was darauf folgte, die Sistirung, die Neaktivirung und die
Revision der Verfassung für die deutschen und slawischen Länder, die Wieder¬
einberufung des ungarischen Landtages, endlich die Wiederherstellung der achtund-
vierziger Gesetze in Ungarn, der Ausgleich — alles das ist noch jedem in deut¬
licher Erinnerung.

Die Magyaren hatten durch zähes Beharren auf ihrem Rechtsboden, den
rechtskräftig zustande gekommenen Gesetzen von 1848, gesiegt, und die ihnen
preisgegebenen siebenbürger und Kroaten winden sich vergeblich in ihrer eisernen
Umschlingung. Daß das Beispiel Nachahmung sinde werde, war vorauszusehen.
Tschechen und Polen perhorresziren den Gesamtstaat, und da sie keinen Rechts-
boden haben, machen sie sich einen solchen oder auch mehrere; je nachdem
prvklamiren die Tschechen den Zustand vor 1618, oder das mystische böhmische
Staatsrecht, oder die pragmatische Sanktion, oder das Oktoberdiplom, und die
Galizier geberden sich, als sei ihr Land nur dnrch Personalunion mit den
übrigen verbunden. Beide haben auch von deu Ungarn gelernt, jedes Zu¬
geständnis für ungenügend zu erklären, aber es vorläufig auszunutzen. Nun
sind wieder die Deutschen unzufrieden und machen Miene, ihrerseits zur Abstinenz-
Politik überzugehen. Giebt es einen Ausweg aus diesem Wirrwarr?

Anton Springer, welcher zwar vor länger als dreißig Jahren die
österreichische Staatsbürgerschaft aufgegeben, aber nichtsdestoweniger der Heimat
warmes Interesse bewahrt hat, glaubt seinen Landsleuten den Ausweg zeigen
zu können, und der heißt: Rückkehr auf den Punkt vor dem Beginn der
Oktroirungspolitik, Rückkehr auf den von dem Reichstage in Kremsier in der
Zeit vom 13. Januar bis zum 4. März 1349 hergestellte» Rechtsboden.

Der Verfassungsausschuß hatte sich schon in den ersten Augusttagen des
Jahres zuvor in Wien konstituirt, die eigentliche Arbeit begann jedoch erst am
13. Januar in Kremsier. Am 15. März sollte das Plenum in die Beratung
des Entwurfes eintreten, doch schon am 7. März erfolgte die Auflösung. Daher
ist der Entwurf vielen Mitgliedern des Reichstages und vollends der Be¬
völkerung Österreichs gänzlich unbekannt geblieben. Ein Ausschußmitglied, der
mit Springer verwandte böhmische Abgeordnete Pinkas, hatte sich vorsichtiger-
weise eine Abschrift der Sitzungsprotokolle verschafft; diese wurde von Springer
schon für seine „Geschichte Österreichs seit dem Wiener Frieden 1809" benutzt, und
nun hat er sie vollständig und mit einer Einleitung versehen veröffentlicht.")



") Protokolle des Verfassungsausschusses im österreichischen Reichstage
1848—1849. Herausgegeben und eingeleitet von Anton Springer. Leipzig, S. Hirzel.
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[0443] Vie erste Konstitution für Österreich. hcrunterreden lassen, so hätte wohl manche spätere Krisis vermieden werden können. Allein bald meinte er, „Garantien" für das Zustandekommen einer regierungsfreundlichen Mehrheit abwarten zu müssen, und so gewährte er den Altkonservativeu Ungarns Zeit, eine Koalition gegen ihn zu bilden, seinen Sturz vorzubereiten. Was darauf folgte, die Sistirung, die Neaktivirung und die Revision der Verfassung für die deutschen und slawischen Länder, die Wieder¬ einberufung des ungarischen Landtages, endlich die Wiederherstellung der achtund- vierziger Gesetze in Ungarn, der Ausgleich — alles das ist noch jedem in deut¬ licher Erinnerung. Die Magyaren hatten durch zähes Beharren auf ihrem Rechtsboden, den rechtskräftig zustande gekommenen Gesetzen von 1848, gesiegt, und die ihnen preisgegebenen siebenbürger und Kroaten winden sich vergeblich in ihrer eisernen Umschlingung. Daß das Beispiel Nachahmung sinde werde, war vorauszusehen. Tschechen und Polen perhorresziren den Gesamtstaat, und da sie keinen Rechts- boden haben, machen sie sich einen solchen oder auch mehrere; je nachdem prvklamiren die Tschechen den Zustand vor 1618, oder das mystische böhmische Staatsrecht, oder die pragmatische Sanktion, oder das Oktoberdiplom, und die Galizier geberden sich, als sei ihr Land nur dnrch Personalunion mit den übrigen verbunden. Beide haben auch von deu Ungarn gelernt, jedes Zu¬ geständnis für ungenügend zu erklären, aber es vorläufig auszunutzen. Nun sind wieder die Deutschen unzufrieden und machen Miene, ihrerseits zur Abstinenz- Politik überzugehen. Giebt es einen Ausweg aus diesem Wirrwarr? Anton Springer, welcher zwar vor länger als dreißig Jahren die österreichische Staatsbürgerschaft aufgegeben, aber nichtsdestoweniger der Heimat warmes Interesse bewahrt hat, glaubt seinen Landsleuten den Ausweg zeigen zu können, und der heißt: Rückkehr auf den Punkt vor dem Beginn der Oktroirungspolitik, Rückkehr auf den von dem Reichstage in Kremsier in der Zeit vom 13. Januar bis zum 4. März 1349 hergestellte» Rechtsboden. Der Verfassungsausschuß hatte sich schon in den ersten Augusttagen des Jahres zuvor in Wien konstituirt, die eigentliche Arbeit begann jedoch erst am 13. Januar in Kremsier. Am 15. März sollte das Plenum in die Beratung des Entwurfes eintreten, doch schon am 7. März erfolgte die Auflösung. Daher ist der Entwurf vielen Mitgliedern des Reichstages und vollends der Be¬ völkerung Österreichs gänzlich unbekannt geblieben. Ein Ausschußmitglied, der mit Springer verwandte böhmische Abgeordnete Pinkas, hatte sich vorsichtiger- weise eine Abschrift der Sitzungsprotokolle verschafft; diese wurde von Springer schon für seine „Geschichte Österreichs seit dem Wiener Frieden 1809" benutzt, und nun hat er sie vollständig und mit einer Einleitung versehen veröffentlicht.") ") Protokolle des Verfassungsausschusses im österreichischen Reichstage 1848—1849. Herausgegeben und eingeleitet von Anton Springer. Leipzig, S. Hirzel.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Drittes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341841_196099/443>, abgerufen am 24.11.2024.