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Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Drittes Quartal.

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Brauch und Mißbrauch.

hat auch dieser etwas ansteckendes. Wer nicht genügende musikalische Anlagen
oder Zahlensinn mit auf die Welt gebracht hat, um zu einem Wunderkindc
abgerichtet zu werden, der kann auf keine einfachere Weise schon in jungen Jahren
berühmt werden als durch tollkühnes Klettern. Alle Zeitungen nehmen von
seinen Unternehmungen Notiz, desto ausführlicher, je unvernünftiger diese waren;
bald heißt er "der bekannte," und nach jeder neuen "Kraxlcrei" lauten die
Epitheta schmeichelhafter. Wie viele Schanzen müßte er erstürmt, wie viele
Planeten entdeckt, wie viele gelehrte Werke verfaßt haben, um nur die Hälfte
solches Zeitungsruhmes einzuheimsen? Und wofür lebt deun die heutige Mensch¬
heit noch als fiir den Zcitungsrnhm? Der Verunglückte liest freilich die Tiraden
nicht mehr, welche ihm ins Grab nachgeschrieben werden; allein wir erleben ja
auch wirkliche Selbstmorde, welche mit aller Vorsorge fiir den Nachruhm in
den Zeitungen in Szene gesetzt worden sind! Vielleicht daß die sich immer
mehr häufenden Unglücksfülle endlich einen wohlthätigen Schrecken erzeugen und
insbesondre den Beförderern und Lobrednern des Bergfexentnms ihre schwere
Verantwortlichkeit zum Bewußtsein bringen: an eine eigentliche Heilung der
Manie glauben wir vorläufig nicht, da wir sie nur für ein Symptom eines
tieferliegenden Übels unsrer Zeit halten.

Auf eine andre Seite in diesem Kapitel gehört der mit Kränzen getriebne
Unfug. Welche schönen und welche lieblichen Bilder zeigt uns die Geschichte
des Kranzes in vergangnen Zeiten! Da ziert der Ölzweig den Scheitel des
Siegers in den Kampfspielen der Griechen, mit Epheu und Nosen bekränzten
sich die Genossen beim festlichen Mahle, mit Blumenkränzen im Haar erscheinen
die Kinder bei Prozessionen und andern kirchlichen Feierlichkeiten, Jünglinge und
Jungfrauen bei Tanz und Spiel, der Lorber krönt den Krieger und den Dichter,
mit goldnen Kränzen schmücken sich die Frauen vou Florenz; der Kreuz ist der
höchste Schmuck der Braut, den Kranz legt man als Huldigung auf ein Grab
oder auf die Stufen eines Denkmals nieder; Kranz, Blumen- und Fruchtgehänge
haben die dekorativen Künste seit den Tagen der Renaissance in unendlicher
Mannichfaltigkeit und mit unerschöpflichen Reiz zur Anwendung gebracht. Ein¬
zelne vou diesen guten Sitten sind noch nicht außer Gebrauch gekommen, aber
fast muß man sich wundern, daß dem noch also ist. Denn dürfen wir einem
großen Manne noch den Lorber zu bieten wagen, der haufenweis jeder Sprin¬
gerin und jedem Possenreißer vor die Füße geworfen wird? Und dafür kann
nicht als Entschädigung gelten, daß "die Nachwelt dem Mimen keine Kränze
flechte," deun das ist längst nicht mehr wahr.

Und nun die sinnlose Übertreibung des schönen Herkommens, den Toten
noch einen Blumengruß mit ins Grab zu geben! Als ob der Grad der Liebe
und die Größe der Trauer durch Umfang und Preis der Spende ausgedrückt
werden müßte! In manchen Städten hat man nachgerechnet, daß nicht Hunderte,
sondern Tausende für die Kränze aufgewandt worden sind, welche mit in eine


Brauch und Mißbrauch.

hat auch dieser etwas ansteckendes. Wer nicht genügende musikalische Anlagen
oder Zahlensinn mit auf die Welt gebracht hat, um zu einem Wunderkindc
abgerichtet zu werden, der kann auf keine einfachere Weise schon in jungen Jahren
berühmt werden als durch tollkühnes Klettern. Alle Zeitungen nehmen von
seinen Unternehmungen Notiz, desto ausführlicher, je unvernünftiger diese waren;
bald heißt er „der bekannte," und nach jeder neuen „Kraxlcrei" lauten die
Epitheta schmeichelhafter. Wie viele Schanzen müßte er erstürmt, wie viele
Planeten entdeckt, wie viele gelehrte Werke verfaßt haben, um nur die Hälfte
solches Zeitungsruhmes einzuheimsen? Und wofür lebt deun die heutige Mensch¬
heit noch als fiir den Zcitungsrnhm? Der Verunglückte liest freilich die Tiraden
nicht mehr, welche ihm ins Grab nachgeschrieben werden; allein wir erleben ja
auch wirkliche Selbstmorde, welche mit aller Vorsorge fiir den Nachruhm in
den Zeitungen in Szene gesetzt worden sind! Vielleicht daß die sich immer
mehr häufenden Unglücksfülle endlich einen wohlthätigen Schrecken erzeugen und
insbesondre den Beförderern und Lobrednern des Bergfexentnms ihre schwere
Verantwortlichkeit zum Bewußtsein bringen: an eine eigentliche Heilung der
Manie glauben wir vorläufig nicht, da wir sie nur für ein Symptom eines
tieferliegenden Übels unsrer Zeit halten.

Auf eine andre Seite in diesem Kapitel gehört der mit Kränzen getriebne
Unfug. Welche schönen und welche lieblichen Bilder zeigt uns die Geschichte
des Kranzes in vergangnen Zeiten! Da ziert der Ölzweig den Scheitel des
Siegers in den Kampfspielen der Griechen, mit Epheu und Nosen bekränzten
sich die Genossen beim festlichen Mahle, mit Blumenkränzen im Haar erscheinen
die Kinder bei Prozessionen und andern kirchlichen Feierlichkeiten, Jünglinge und
Jungfrauen bei Tanz und Spiel, der Lorber krönt den Krieger und den Dichter,
mit goldnen Kränzen schmücken sich die Frauen vou Florenz; der Kreuz ist der
höchste Schmuck der Braut, den Kranz legt man als Huldigung auf ein Grab
oder auf die Stufen eines Denkmals nieder; Kranz, Blumen- und Fruchtgehänge
haben die dekorativen Künste seit den Tagen der Renaissance in unendlicher
Mannichfaltigkeit und mit unerschöpflichen Reiz zur Anwendung gebracht. Ein¬
zelne vou diesen guten Sitten sind noch nicht außer Gebrauch gekommen, aber
fast muß man sich wundern, daß dem noch also ist. Denn dürfen wir einem
großen Manne noch den Lorber zu bieten wagen, der haufenweis jeder Sprin¬
gerin und jedem Possenreißer vor die Füße geworfen wird? Und dafür kann
nicht als Entschädigung gelten, daß „die Nachwelt dem Mimen keine Kränze
flechte," deun das ist längst nicht mehr wahr.

Und nun die sinnlose Übertreibung des schönen Herkommens, den Toten
noch einen Blumengruß mit ins Grab zu geben! Als ob der Grad der Liebe
und die Größe der Trauer durch Umfang und Preis der Spende ausgedrückt
werden müßte! In manchen Städten hat man nachgerechnet, daß nicht Hunderte,
sondern Tausende für die Kränze aufgewandt worden sind, welche mit in eine


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[0423] Brauch und Mißbrauch. hat auch dieser etwas ansteckendes. Wer nicht genügende musikalische Anlagen oder Zahlensinn mit auf die Welt gebracht hat, um zu einem Wunderkindc abgerichtet zu werden, der kann auf keine einfachere Weise schon in jungen Jahren berühmt werden als durch tollkühnes Klettern. Alle Zeitungen nehmen von seinen Unternehmungen Notiz, desto ausführlicher, je unvernünftiger diese waren; bald heißt er „der bekannte," und nach jeder neuen „Kraxlcrei" lauten die Epitheta schmeichelhafter. Wie viele Schanzen müßte er erstürmt, wie viele Planeten entdeckt, wie viele gelehrte Werke verfaßt haben, um nur die Hälfte solches Zeitungsruhmes einzuheimsen? Und wofür lebt deun die heutige Mensch¬ heit noch als fiir den Zcitungsrnhm? Der Verunglückte liest freilich die Tiraden nicht mehr, welche ihm ins Grab nachgeschrieben werden; allein wir erleben ja auch wirkliche Selbstmorde, welche mit aller Vorsorge fiir den Nachruhm in den Zeitungen in Szene gesetzt worden sind! Vielleicht daß die sich immer mehr häufenden Unglücksfülle endlich einen wohlthätigen Schrecken erzeugen und insbesondre den Beförderern und Lobrednern des Bergfexentnms ihre schwere Verantwortlichkeit zum Bewußtsein bringen: an eine eigentliche Heilung der Manie glauben wir vorläufig nicht, da wir sie nur für ein Symptom eines tieferliegenden Übels unsrer Zeit halten. Auf eine andre Seite in diesem Kapitel gehört der mit Kränzen getriebne Unfug. Welche schönen und welche lieblichen Bilder zeigt uns die Geschichte des Kranzes in vergangnen Zeiten! Da ziert der Ölzweig den Scheitel des Siegers in den Kampfspielen der Griechen, mit Epheu und Nosen bekränzten sich die Genossen beim festlichen Mahle, mit Blumenkränzen im Haar erscheinen die Kinder bei Prozessionen und andern kirchlichen Feierlichkeiten, Jünglinge und Jungfrauen bei Tanz und Spiel, der Lorber krönt den Krieger und den Dichter, mit goldnen Kränzen schmücken sich die Frauen vou Florenz; der Kreuz ist der höchste Schmuck der Braut, den Kranz legt man als Huldigung auf ein Grab oder auf die Stufen eines Denkmals nieder; Kranz, Blumen- und Fruchtgehänge haben die dekorativen Künste seit den Tagen der Renaissance in unendlicher Mannichfaltigkeit und mit unerschöpflichen Reiz zur Anwendung gebracht. Ein¬ zelne vou diesen guten Sitten sind noch nicht außer Gebrauch gekommen, aber fast muß man sich wundern, daß dem noch also ist. Denn dürfen wir einem großen Manne noch den Lorber zu bieten wagen, der haufenweis jeder Sprin¬ gerin und jedem Possenreißer vor die Füße geworfen wird? Und dafür kann nicht als Entschädigung gelten, daß „die Nachwelt dem Mimen keine Kränze flechte," deun das ist längst nicht mehr wahr. Und nun die sinnlose Übertreibung des schönen Herkommens, den Toten noch einen Blumengruß mit ins Grab zu geben! Als ob der Grad der Liebe und die Größe der Trauer durch Umfang und Preis der Spende ausgedrückt werden müßte! In manchen Städten hat man nachgerechnet, daß nicht Hunderte, sondern Tausende für die Kränze aufgewandt worden sind, welche mit in eine

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Drittes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341841_196099/423>, abgerufen am 01.09.2024.