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Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Drittes Quartal.

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gefrischt werden. So mag es denn auch dem gesteigerten nationalen Selbst¬
bewußtsein zugeschrieben werden, wenn sich jetzt allerwärts eine regsame Thätig¬
keit auf diesem literarischen Gebiete bekundet und wenn das Plattdeutsch Reuters
und das Niederösterreichische Anzengrubers selbst die Bühnen im Norden und
im Süden betreten dürfen. Freilich wird man auch zugestehen müssen, daß
diese gesteigerte Pflege der Dialektdichtung durch den sich gern in bestimmt be¬
grenzten Gebieten bewegenden Geist der Zeit unterstützt wird: der Zeit der "Spe¬
zialitäten"; aber diese wenigstens ist eine der erfreulichsten.

Kein Zweifel, daß in den zwei Hauptgruppen der deutschen Dialeltpvesie
der süddeutsche Dichter bor dem plattdeutschen durch mancherlei Umstände als
der Begünstigter" erscheint. Nicht etwa bloß, weil die hochdeutsche Schrift¬
sprache den süddeutschen Dialekten näher als den plattdeutschen steht und die
erstem leichter ihr heimatliches Gebiet überschreiten können, sondern weil der
deutsche Süden ein der Poesie, sagen wir bequemeres Lokal als der deutsche
Norden bietet. Damit soll keineswegs dem Norden zu nahe getreten werden:
überall wo Leben empfunden wird, da ist anch Poesie. Aber schon die äußere
landschaftliche Natur des Südens, der mannichfach gegliederten Gebirgswelt ist
reicher an anregenden Gestaltungen als die einsame und eintönige Ebene des
niederdeutschen Flachlandes mit seinen weiten, sandigen Küsten und der schwer¬
mütigen Erhabenheit des unbegrenzten Meeresspiegels. Und nicht minder be¬
deutsam für den modernen Dichter ist, daß der Süden katholisch, der Norden
protestantisch ist. Denn das will sagen: im Süden erhält der Dichter eine
reich entwickelte Mythologie, die selbst Poesie ist; im Süden mit seinem Marien-,
Heiligen- und Vilderkultus, seinem Legcudenreichtum, seinem prachtliebenden, das
Volk berauschenden Gottesdienst, aus dem sich dann die Freude an allerlei
andrer, weltlicher Art öffentlicher Aufzüge entwickelt hat, seinem wohl anch stär¬
keren Aberglauben, seinen weitaus schrofferen Gegensätzen zwischen naiver Gläu¬
bigkeit und skeptischer Bildung -- dieser Süden hat umso viel mehr Motive
für den das Landvolk schildernden Dichter, denn das ist ja der Dialektdichter
zunächst und allein, als der fvrmenarme, bildcrfeindliche protestantische Kultus
mehr an den Verstand als an die Phantasie seiner Gläubigen appellirt. Und
so allgemein verehrt und vollends in der Literaturgeschichte berühmt das deutsche
protestantische Pfarrhaus auch mit Recht sein mag: poetisch wertvoller sind die
zum Cölibat verpflichteten katholischen Priester und die mit einem dreifachen
Gelübde gebundenen katholischen Klöster, welche teils weil sie romantisch ge¬
legen sind, teils weil sich historische Erinnerungen an sie knüpfen, noch
immer der beliebteste Wallfahrtsort der Maler und Dichter sind. So
sind Natur und Sitte des Nordens an Formen ärmer als die des Süden,
und daher dem Dichter ein spröderer Stoff. Und spröder, verschlossener,
schwerzüngiger und daher ungeselliger als der süddeutsche ist der platt¬
deutsche Bauer. Nicht daß der Charakterzug der Hartköpfigkeit dem erstem


gefrischt werden. So mag es denn auch dem gesteigerten nationalen Selbst¬
bewußtsein zugeschrieben werden, wenn sich jetzt allerwärts eine regsame Thätig¬
keit auf diesem literarischen Gebiete bekundet und wenn das Plattdeutsch Reuters
und das Niederösterreichische Anzengrubers selbst die Bühnen im Norden und
im Süden betreten dürfen. Freilich wird man auch zugestehen müssen, daß
diese gesteigerte Pflege der Dialektdichtung durch den sich gern in bestimmt be¬
grenzten Gebieten bewegenden Geist der Zeit unterstützt wird: der Zeit der „Spe¬
zialitäten"; aber diese wenigstens ist eine der erfreulichsten.

Kein Zweifel, daß in den zwei Hauptgruppen der deutschen Dialeltpvesie
der süddeutsche Dichter bor dem plattdeutschen durch mancherlei Umstände als
der Begünstigter« erscheint. Nicht etwa bloß, weil die hochdeutsche Schrift¬
sprache den süddeutschen Dialekten näher als den plattdeutschen steht und die
erstem leichter ihr heimatliches Gebiet überschreiten können, sondern weil der
deutsche Süden ein der Poesie, sagen wir bequemeres Lokal als der deutsche
Norden bietet. Damit soll keineswegs dem Norden zu nahe getreten werden:
überall wo Leben empfunden wird, da ist anch Poesie. Aber schon die äußere
landschaftliche Natur des Südens, der mannichfach gegliederten Gebirgswelt ist
reicher an anregenden Gestaltungen als die einsame und eintönige Ebene des
niederdeutschen Flachlandes mit seinen weiten, sandigen Küsten und der schwer¬
mütigen Erhabenheit des unbegrenzten Meeresspiegels. Und nicht minder be¬
deutsam für den modernen Dichter ist, daß der Süden katholisch, der Norden
protestantisch ist. Denn das will sagen: im Süden erhält der Dichter eine
reich entwickelte Mythologie, die selbst Poesie ist; im Süden mit seinem Marien-,
Heiligen- und Vilderkultus, seinem Legcudenreichtum, seinem prachtliebenden, das
Volk berauschenden Gottesdienst, aus dem sich dann die Freude an allerlei
andrer, weltlicher Art öffentlicher Aufzüge entwickelt hat, seinem wohl anch stär¬
keren Aberglauben, seinen weitaus schrofferen Gegensätzen zwischen naiver Gläu¬
bigkeit und skeptischer Bildung — dieser Süden hat umso viel mehr Motive
für den das Landvolk schildernden Dichter, denn das ist ja der Dialektdichter
zunächst und allein, als der fvrmenarme, bildcrfeindliche protestantische Kultus
mehr an den Verstand als an die Phantasie seiner Gläubigen appellirt. Und
so allgemein verehrt und vollends in der Literaturgeschichte berühmt das deutsche
protestantische Pfarrhaus auch mit Recht sein mag: poetisch wertvoller sind die
zum Cölibat verpflichteten katholischen Priester und die mit einem dreifachen
Gelübde gebundenen katholischen Klöster, welche teils weil sie romantisch ge¬
legen sind, teils weil sich historische Erinnerungen an sie knüpfen, noch
immer der beliebteste Wallfahrtsort der Maler und Dichter sind. So
sind Natur und Sitte des Nordens an Formen ärmer als die des Süden,
und daher dem Dichter ein spröderer Stoff. Und spröder, verschlossener,
schwerzüngiger und daher ungeselliger als der süddeutsche ist der platt¬
deutsche Bauer. Nicht daß der Charakterzug der Hartköpfigkeit dem erstem


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[0038] gefrischt werden. So mag es denn auch dem gesteigerten nationalen Selbst¬ bewußtsein zugeschrieben werden, wenn sich jetzt allerwärts eine regsame Thätig¬ keit auf diesem literarischen Gebiete bekundet und wenn das Plattdeutsch Reuters und das Niederösterreichische Anzengrubers selbst die Bühnen im Norden und im Süden betreten dürfen. Freilich wird man auch zugestehen müssen, daß diese gesteigerte Pflege der Dialektdichtung durch den sich gern in bestimmt be¬ grenzten Gebieten bewegenden Geist der Zeit unterstützt wird: der Zeit der „Spe¬ zialitäten"; aber diese wenigstens ist eine der erfreulichsten. Kein Zweifel, daß in den zwei Hauptgruppen der deutschen Dialeltpvesie der süddeutsche Dichter bor dem plattdeutschen durch mancherlei Umstände als der Begünstigter« erscheint. Nicht etwa bloß, weil die hochdeutsche Schrift¬ sprache den süddeutschen Dialekten näher als den plattdeutschen steht und die erstem leichter ihr heimatliches Gebiet überschreiten können, sondern weil der deutsche Süden ein der Poesie, sagen wir bequemeres Lokal als der deutsche Norden bietet. Damit soll keineswegs dem Norden zu nahe getreten werden: überall wo Leben empfunden wird, da ist anch Poesie. Aber schon die äußere landschaftliche Natur des Südens, der mannichfach gegliederten Gebirgswelt ist reicher an anregenden Gestaltungen als die einsame und eintönige Ebene des niederdeutschen Flachlandes mit seinen weiten, sandigen Küsten und der schwer¬ mütigen Erhabenheit des unbegrenzten Meeresspiegels. Und nicht minder be¬ deutsam für den modernen Dichter ist, daß der Süden katholisch, der Norden protestantisch ist. Denn das will sagen: im Süden erhält der Dichter eine reich entwickelte Mythologie, die selbst Poesie ist; im Süden mit seinem Marien-, Heiligen- und Vilderkultus, seinem Legcudenreichtum, seinem prachtliebenden, das Volk berauschenden Gottesdienst, aus dem sich dann die Freude an allerlei andrer, weltlicher Art öffentlicher Aufzüge entwickelt hat, seinem wohl anch stär¬ keren Aberglauben, seinen weitaus schrofferen Gegensätzen zwischen naiver Gläu¬ bigkeit und skeptischer Bildung — dieser Süden hat umso viel mehr Motive für den das Landvolk schildernden Dichter, denn das ist ja der Dialektdichter zunächst und allein, als der fvrmenarme, bildcrfeindliche protestantische Kultus mehr an den Verstand als an die Phantasie seiner Gläubigen appellirt. Und so allgemein verehrt und vollends in der Literaturgeschichte berühmt das deutsche protestantische Pfarrhaus auch mit Recht sein mag: poetisch wertvoller sind die zum Cölibat verpflichteten katholischen Priester und die mit einem dreifachen Gelübde gebundenen katholischen Klöster, welche teils weil sie romantisch ge¬ legen sind, teils weil sich historische Erinnerungen an sie knüpfen, noch immer der beliebteste Wallfahrtsort der Maler und Dichter sind. So sind Natur und Sitte des Nordens an Formen ärmer als die des Süden, und daher dem Dichter ein spröderer Stoff. Und spröder, verschlossener, schwerzüngiger und daher ungeselliger als der süddeutsche ist der platt¬ deutsche Bauer. Nicht daß der Charakterzug der Hartköpfigkeit dem erstem

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Drittes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341841_196099/38>, abgerufen am 27.07.2024.