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Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Drittes Quartal.

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Das Znstellnngswcsen ist die Mausefalle der deutschen Zivilprozeßordnung, und
wir bedauern nur, das; Jhering nicht unter ihr seine praktische Ausbildung er¬
fahren hat, sonst würde sein "Scherz und Ernst in der Jurisprudenz" einen
neuen Stoff humoristisch-tragischer Betrachtung erhalten haben.

Diese Zustellungen leiten uns aber zu dem Institut der Gerichtsvollzieher
über, die wir direkt aus Frankreich indem importiren müssen, weil wir Deutschen
bisher gar keinen Sinn für diese Erfindung hatten. Durch sie ist ein
neues Organ in den Prozeß eingeschoben worden, das ebenfalls ans Kosten der
rechtsuchendcn Partei leben und unterhalten sein will. In seine Hände ist die
wichtige Zwangsvollstreckung, der Kernpunkt des Prozesses, gelegt; denn an
dem Urteil erfreut sich niemand seines gewonnenen Prozesses, sondern erst die
Vollstreckung hilft ihm zu seinem Rechte. Dieser wichtige Teil des Nichter-
bernfes ist fortan in ganz subalterne Hände gelegt, die sich -- natürlich und
mit Recht -- von ganz andern Zielen leiten lassen, als von dem, zur Verwirk¬
lichung der Gerechtigkeit ans Erden beizutragen. Für sie ist selbstverständlich
und ohne daß sie dafür ein Vorwurf treffen kann, ihr Beruf zum Gewerbe ge¬
worden. Daher die Klage, daß bald der Schuldner unerbittlich verfolgt wird,
bald der Gläubiger sich in seinein Rechte gekränkt sieht, und nicht selten durch
Veruntreuungen beide geschädigt werden.

Der Richter war bisher der Herr des Prozesses, und das gab dem Volke
ein großes Sicherheitsgefühl; es nahm ein Urteil anch dann mit dein Bewußt¬
sein, ihm sei Recht geschehen, hin, wenn es zu seinen Ungunsten lautete. Jetzt
hat der Richter einen Teil seiner Befugnisse an den Gerichtsvollzieher, einen
andern Teil an den Anwalt abtreten müssen. Auch bei ganz klarem Recht,
auch in den einfachsten Fällen muß sich heute der Prozeßftthrendc bei größern
Streitobjekten eines Urwalds bedienen, der nicht immer dafür sorgt, die Sache
beizulegen oder schnell zu Ende zu führen. Und dieses Zerrbild eines Nechts-
verfcchrens muß noch derer bezahlt werden, denn was früher für die Gerichts¬
gebühr geleistet wurde, das muß jetzt noch besonders den Gerichtsvollziehern
und Anwälten vergütet werden. Daher die großen Klagen über die Proze߬
kosten, die niemals aus der Welt geschafft werden können, weil sie nicht in der
Höhe der Sätze, sondern in der Struktur des Prozesses, in dem Schmarotzer¬
wesen der Zustellungen und der Gerichsvollzieherakte ihren Grund haben.

Es ist eine merkwürdige Erscheinung, daß während wir auf dem wirtschaft¬
lichen Gebiete mit dem Manchcstertum gebrochen haben, dasselbe auf dem juri¬
stischen Gebiete in voller Blüte steht. Während ans dem Wirtschaftsgebiete der
Staat den Schwachen schützt und sorgend für ihn eintritt, herrscht auf dem
juristischen der Grundsatz der freien Konkurrenz und des laisssr-g-Ilsr.

Baldr bürdet die Verantwortlichkeit für die Zivilprozeßordnung dem ver¬
storbnen Minister Leonhardt auf und weist an verschiednen Beispielen nach,
wie wenig dieser imstande war, das materielle Recht zu begreifen, und wie für ihn


Das Znstellnngswcsen ist die Mausefalle der deutschen Zivilprozeßordnung, und
wir bedauern nur, das; Jhering nicht unter ihr seine praktische Ausbildung er¬
fahren hat, sonst würde sein „Scherz und Ernst in der Jurisprudenz" einen
neuen Stoff humoristisch-tragischer Betrachtung erhalten haben.

Diese Zustellungen leiten uns aber zu dem Institut der Gerichtsvollzieher
über, die wir direkt aus Frankreich indem importiren müssen, weil wir Deutschen
bisher gar keinen Sinn für diese Erfindung hatten. Durch sie ist ein
neues Organ in den Prozeß eingeschoben worden, das ebenfalls ans Kosten der
rechtsuchendcn Partei leben und unterhalten sein will. In seine Hände ist die
wichtige Zwangsvollstreckung, der Kernpunkt des Prozesses, gelegt; denn an
dem Urteil erfreut sich niemand seines gewonnenen Prozesses, sondern erst die
Vollstreckung hilft ihm zu seinem Rechte. Dieser wichtige Teil des Nichter-
bernfes ist fortan in ganz subalterne Hände gelegt, die sich — natürlich und
mit Recht — von ganz andern Zielen leiten lassen, als von dem, zur Verwirk¬
lichung der Gerechtigkeit ans Erden beizutragen. Für sie ist selbstverständlich
und ohne daß sie dafür ein Vorwurf treffen kann, ihr Beruf zum Gewerbe ge¬
worden. Daher die Klage, daß bald der Schuldner unerbittlich verfolgt wird,
bald der Gläubiger sich in seinein Rechte gekränkt sieht, und nicht selten durch
Veruntreuungen beide geschädigt werden.

Der Richter war bisher der Herr des Prozesses, und das gab dem Volke
ein großes Sicherheitsgefühl; es nahm ein Urteil anch dann mit dein Bewußt¬
sein, ihm sei Recht geschehen, hin, wenn es zu seinen Ungunsten lautete. Jetzt
hat der Richter einen Teil seiner Befugnisse an den Gerichtsvollzieher, einen
andern Teil an den Anwalt abtreten müssen. Auch bei ganz klarem Recht,
auch in den einfachsten Fällen muß sich heute der Prozeßftthrendc bei größern
Streitobjekten eines Urwalds bedienen, der nicht immer dafür sorgt, die Sache
beizulegen oder schnell zu Ende zu führen. Und dieses Zerrbild eines Nechts-
verfcchrens muß noch derer bezahlt werden, denn was früher für die Gerichts¬
gebühr geleistet wurde, das muß jetzt noch besonders den Gerichtsvollziehern
und Anwälten vergütet werden. Daher die großen Klagen über die Proze߬
kosten, die niemals aus der Welt geschafft werden können, weil sie nicht in der
Höhe der Sätze, sondern in der Struktur des Prozesses, in dem Schmarotzer¬
wesen der Zustellungen und der Gerichsvollzieherakte ihren Grund haben.

Es ist eine merkwürdige Erscheinung, daß während wir auf dem wirtschaft¬
lichen Gebiete mit dem Manchcstertum gebrochen haben, dasselbe auf dem juri¬
stischen Gebiete in voller Blüte steht. Während ans dem Wirtschaftsgebiete der
Staat den Schwachen schützt und sorgend für ihn eintritt, herrscht auf dem
juristischen der Grundsatz der freien Konkurrenz und des laisssr-g-Ilsr.

Baldr bürdet die Verantwortlichkeit für die Zivilprozeßordnung dem ver¬
storbnen Minister Leonhardt auf und weist an verschiednen Beispielen nach,
wie wenig dieser imstande war, das materielle Recht zu begreifen, und wie für ihn


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[0308] Das Znstellnngswcsen ist die Mausefalle der deutschen Zivilprozeßordnung, und wir bedauern nur, das; Jhering nicht unter ihr seine praktische Ausbildung er¬ fahren hat, sonst würde sein „Scherz und Ernst in der Jurisprudenz" einen neuen Stoff humoristisch-tragischer Betrachtung erhalten haben. Diese Zustellungen leiten uns aber zu dem Institut der Gerichtsvollzieher über, die wir direkt aus Frankreich indem importiren müssen, weil wir Deutschen bisher gar keinen Sinn für diese Erfindung hatten. Durch sie ist ein neues Organ in den Prozeß eingeschoben worden, das ebenfalls ans Kosten der rechtsuchendcn Partei leben und unterhalten sein will. In seine Hände ist die wichtige Zwangsvollstreckung, der Kernpunkt des Prozesses, gelegt; denn an dem Urteil erfreut sich niemand seines gewonnenen Prozesses, sondern erst die Vollstreckung hilft ihm zu seinem Rechte. Dieser wichtige Teil des Nichter- bernfes ist fortan in ganz subalterne Hände gelegt, die sich — natürlich und mit Recht — von ganz andern Zielen leiten lassen, als von dem, zur Verwirk¬ lichung der Gerechtigkeit ans Erden beizutragen. Für sie ist selbstverständlich und ohne daß sie dafür ein Vorwurf treffen kann, ihr Beruf zum Gewerbe ge¬ worden. Daher die Klage, daß bald der Schuldner unerbittlich verfolgt wird, bald der Gläubiger sich in seinein Rechte gekränkt sieht, und nicht selten durch Veruntreuungen beide geschädigt werden. Der Richter war bisher der Herr des Prozesses, und das gab dem Volke ein großes Sicherheitsgefühl; es nahm ein Urteil anch dann mit dein Bewußt¬ sein, ihm sei Recht geschehen, hin, wenn es zu seinen Ungunsten lautete. Jetzt hat der Richter einen Teil seiner Befugnisse an den Gerichtsvollzieher, einen andern Teil an den Anwalt abtreten müssen. Auch bei ganz klarem Recht, auch in den einfachsten Fällen muß sich heute der Prozeßftthrendc bei größern Streitobjekten eines Urwalds bedienen, der nicht immer dafür sorgt, die Sache beizulegen oder schnell zu Ende zu führen. Und dieses Zerrbild eines Nechts- verfcchrens muß noch derer bezahlt werden, denn was früher für die Gerichts¬ gebühr geleistet wurde, das muß jetzt noch besonders den Gerichtsvollziehern und Anwälten vergütet werden. Daher die großen Klagen über die Proze߬ kosten, die niemals aus der Welt geschafft werden können, weil sie nicht in der Höhe der Sätze, sondern in der Struktur des Prozesses, in dem Schmarotzer¬ wesen der Zustellungen und der Gerichsvollzieherakte ihren Grund haben. Es ist eine merkwürdige Erscheinung, daß während wir auf dem wirtschaft¬ lichen Gebiete mit dem Manchcstertum gebrochen haben, dasselbe auf dem juri¬ stischen Gebiete in voller Blüte steht. Während ans dem Wirtschaftsgebiete der Staat den Schwachen schützt und sorgend für ihn eintritt, herrscht auf dem juristischen der Grundsatz der freien Konkurrenz und des laisssr-g-Ilsr. Baldr bürdet die Verantwortlichkeit für die Zivilprozeßordnung dem ver¬ storbnen Minister Leonhardt auf und weist an verschiednen Beispielen nach, wie wenig dieser imstande war, das materielle Recht zu begreifen, und wie für ihn

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Drittes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341841_196099/308>, abgerufen am 28.07.2024.