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Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Drittes Quartal.

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Der deutsche Zivilprozeß in praktischer Bethätigung.

sich die Partei überhaupt mit Haut und Haaren dem Richter überlassen; er
nimmt in das Protokoll auf, was ihm gut scheint, denn hier ist die einzige
Prozeßmaxime: sse notrs dem rMsir.

Wenn aber ein Vorteil der mündlichen Verhandlung das unmittelbare
Schöpfen des Urteils aus den Parteivorträgen sein soll, so ergiebt sich, daß
dieses Schöpfen nur ein mangelhaftes sein kann. Denn die Zivilprozeßordnung
geht von der Voraussetzung aus, daß das vollkommenste Wesen der Schöpfung
ein Richter sei, er muß ein Ausbund der Weisheit, ein Engel von Geduld
sein; sie stellt an seine Auffassungsgabe und seine Urteilskraft die höchsten Anforde¬
rungen, die sonst an keinen sterblichen Menschen gestellt werden können. Und
die armen Richter, die doch nur sterbliche Menschen sind, mit allen Fehlern
und Mängeln, welche der irdischen Natur anhaften, sehen sich vor eine Aufgabe
gestellt, die zu erreichen außerhalb der menschlichen Möglichkeit liegt; sie müssen
solchen Anforderungen gegenüber unterliegen oder völlig verflachen, Kenntnis
heucheln, wo sie beim besten Willen keine haben können, ein Urteil fällen, wo
ihnen noch jede Grundlage fehlt. Welche weitern Folgen sich hieraus auf den
Charakter von Richter und Anwälten entwickeln, brauchen wir nicht erst aus-
zuführen. Die Eigenschaft der Gründlichkeit, sonst bei den Deutschen so rüh¬
menswert, geht ihrem Untergange entgegen; sie wird in einigen Menschenaltern
zur Oberflächlichkeit geworden sein, an Stelle der Wahrheit tritt Schein, und
es wird als Recht ausgegeben, was kein Recht ist.

Bahr hat sich darauf beschränkt, mir diese Schattenseiten der Zivilproze߬
ordnung aufzudecken, offenbar weil gegenüber andern noch mehr zutage ge¬
tretenen Beschwerden diese Punkte sich bisher dem Auge des Publikums entzogen
haben. Sie sind das schleichende Gift, dessen Vorhandensein zunächst nnr dem
Sachkenner kund ist, bis der eingetretene Tod es allen offenbar macht.

Nur kurz wird noch das Zustellung?'- und Gerichtsvollzieherwesen berührt.
Die Vermittlung der Prozeßschriften unter den Parteien, das sogenannte Zu¬
stellungswesen, ist bereits zu einer Geheimwissenschaft geworden, deren voller
Kenntnis sich im deutschen Reiche wohl nur wenige Gelehrte rühmen können.
Wäre es nicht so traurig wahr, man wäre versucht, diesen Teil der Zivilproze߬
ordnung als eine Satire zu betrachten, die würdig wäre, in eine neue Auflage
von Wielands Abderiten aufgenommen zu werden. Wer unsre Kulturzustände
nicht kennt und diese Bestimmungen der Zivilprozeßordnung liest, der muß un¬
zweifelhaft auf den Gedanken kommen, daß wir noch die Einrichtung einer Post
nicht kennen. Und doch ist diese im Reiche zu einer mustergiltigen Vollendung
gelangt, zu einer Anstalt gediehen, auf die wir stolz sein können, welcher der
Staatsmann seine geheimsten Depeschen, der Kaufmann seine wichtigsten Schrift¬
stücke, jedermann seine innigsten Geheimnisse sicher anvertraut. Nur wer das
Unglück hat, einen Prozeß zu führen, muß seine Schriften durch den Gerichts¬
vollzieher zustellen lassen, der natürlich dafür besondre Gebühren berechnet.


Der deutsche Zivilprozeß in praktischer Bethätigung.

sich die Partei überhaupt mit Haut und Haaren dem Richter überlassen; er
nimmt in das Protokoll auf, was ihm gut scheint, denn hier ist die einzige
Prozeßmaxime: sse notrs dem rMsir.

Wenn aber ein Vorteil der mündlichen Verhandlung das unmittelbare
Schöpfen des Urteils aus den Parteivorträgen sein soll, so ergiebt sich, daß
dieses Schöpfen nur ein mangelhaftes sein kann. Denn die Zivilprozeßordnung
geht von der Voraussetzung aus, daß das vollkommenste Wesen der Schöpfung
ein Richter sei, er muß ein Ausbund der Weisheit, ein Engel von Geduld
sein; sie stellt an seine Auffassungsgabe und seine Urteilskraft die höchsten Anforde¬
rungen, die sonst an keinen sterblichen Menschen gestellt werden können. Und
die armen Richter, die doch nur sterbliche Menschen sind, mit allen Fehlern
und Mängeln, welche der irdischen Natur anhaften, sehen sich vor eine Aufgabe
gestellt, die zu erreichen außerhalb der menschlichen Möglichkeit liegt; sie müssen
solchen Anforderungen gegenüber unterliegen oder völlig verflachen, Kenntnis
heucheln, wo sie beim besten Willen keine haben können, ein Urteil fällen, wo
ihnen noch jede Grundlage fehlt. Welche weitern Folgen sich hieraus auf den
Charakter von Richter und Anwälten entwickeln, brauchen wir nicht erst aus-
zuführen. Die Eigenschaft der Gründlichkeit, sonst bei den Deutschen so rüh¬
menswert, geht ihrem Untergange entgegen; sie wird in einigen Menschenaltern
zur Oberflächlichkeit geworden sein, an Stelle der Wahrheit tritt Schein, und
es wird als Recht ausgegeben, was kein Recht ist.

Bahr hat sich darauf beschränkt, mir diese Schattenseiten der Zivilproze߬
ordnung aufzudecken, offenbar weil gegenüber andern noch mehr zutage ge¬
tretenen Beschwerden diese Punkte sich bisher dem Auge des Publikums entzogen
haben. Sie sind das schleichende Gift, dessen Vorhandensein zunächst nnr dem
Sachkenner kund ist, bis der eingetretene Tod es allen offenbar macht.

Nur kurz wird noch das Zustellung?'- und Gerichtsvollzieherwesen berührt.
Die Vermittlung der Prozeßschriften unter den Parteien, das sogenannte Zu¬
stellungswesen, ist bereits zu einer Geheimwissenschaft geworden, deren voller
Kenntnis sich im deutschen Reiche wohl nur wenige Gelehrte rühmen können.
Wäre es nicht so traurig wahr, man wäre versucht, diesen Teil der Zivilproze߬
ordnung als eine Satire zu betrachten, die würdig wäre, in eine neue Auflage
von Wielands Abderiten aufgenommen zu werden. Wer unsre Kulturzustände
nicht kennt und diese Bestimmungen der Zivilprozeßordnung liest, der muß un¬
zweifelhaft auf den Gedanken kommen, daß wir noch die Einrichtung einer Post
nicht kennen. Und doch ist diese im Reiche zu einer mustergiltigen Vollendung
gelangt, zu einer Anstalt gediehen, auf die wir stolz sein können, welcher der
Staatsmann seine geheimsten Depeschen, der Kaufmann seine wichtigsten Schrift¬
stücke, jedermann seine innigsten Geheimnisse sicher anvertraut. Nur wer das
Unglück hat, einen Prozeß zu führen, muß seine Schriften durch den Gerichts¬
vollzieher zustellen lassen, der natürlich dafür besondre Gebühren berechnet.


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Drittes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341841_196099/307>, abgerufen am 25.11.2024.