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Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Drittes Quartal.

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welche jede logische Operation auf diesen: Gebiete leicht hincingcrät. Andrerseits
giebt es den Mut, auch auf andern Punkten dein Zweifel Raum zu geben, ob die
bisherige Annahme: hier sei die Ursache und dort die Wirkung zu suchen, überall eine
gerechtfertigte sei, und zu fragen, ob es sich nicht vielleicht gerade umgekehrt ver¬
halte. Dies scheint uus nun hinsichtlich des bisher für unfehlbar gehaltenen Satzes,
wir hätten "unsre Bildung unsrer Schule zu verdanken," noch in viel höherem
Grade zuzutreffen als bei dem obenangeführten Beispiel; denn während der Satz
Nauders immer nnr unter bestimmten Voraussetzungen und in einem bestimmten
Sinne festgehalten werden kann, scheint uns die Umkehrung jenes Satzes von der
Schule eine logisch notwendige und die bloße Zerstörung einer in sich haltlosen,
vorgefaßten Meinung zu sein. Formnliren wir also unsern Satz so: Wir sind
uicht gebildet, weil wir die Schule haben, sondern wir haben die Schule, weil wir
gebildet und dabei mit einem bestimmten Maße sittlicher und materieller Kräfte
ausgerüstet sind.

Das wird natürlich in den Augen vieler Leute eine furchtbare Ketzerei sein,
und ganz besonders in den Augen der Schulmeister, denen man seit zwanzig Jahren
so schöne Lobeshymnen über "den wirklichen Sieger bei Königgrätz" und dergleichen
gesungen hat. Wie, sie sollen sich ans einmal zu der Stellung eines bloßen
Werkzeuges Herabdrücken lassen, während sie sich bisher stolz als die Väter und
Urheber der Bildung betrachtet haben? Das schmeckt den Herren, die ja nie¬
mals wegen sonderlicher Neigung zur Bescheidenheit berühmt gewesen sind, natür¬
lich sehr schlecht, und Nur nehmen es ihnen auch garnicht übel, wenn der "Schnl-
meistergickel" in ihnen sich gegen die Behauptung, sie seien nur als Werkzeuge und
keineswegs als selbständige Träger bei der Uebertragung unsers Bildungskapitals auf
das kommende Geschlecht thätig, mächtig auflehnt. Aber es wird doch nicht daran
vorbeizukommen sein, daß es sich wirklich so verhält. Was unser Geschlecht an
Bildungselementen besitzt, das verdankt es doch einer überaus mannichfaltigen und
vielseitigen rezeptiven Thätigkeit, von der unter allen Umstä"den die Schule nur
einen Teil repräsentirt; und was die Schule uns darbietet, das ist doch wieder
nur zum allerkleinsten Teile aus einer selbständigen geistigen Thätigkeit der Lehrer
hervorgegangen, es verdankt vielmehr sein Entstehen der unendlichen Hauptsache nach
wieder der eignen Bilduugsarbeit früherer Geschlechter. Alle wissenschaftliche
Thätigkeit, alle Arbeit des Forschers und Denkers, alles Abwägen, Beobachten und
Vergleichen dem die unzähligen Einzelnen sich hingeben, alle technischen und wirt¬
schaftlichen Verbesserungen, die der eine und der ihm folgende andre sich aneignet,
aller Fortschritt in Sitte und Gewöhnung, wie er sich von einem Kreise der Men¬
schen zum andern unaufhörlich vollzieht -- das find die wahren Faktoren einer
stetig anwachsenden Bildung. Will man bildlich diese ganze Summe befruchtender
Kulturarbeit "Schule" nennen, so haben wir unsrerseits nichts dagegen einzuwenden,
aber es würde doch sehr gezwungen aussehen, wenn man unter Berufung ans die
Möglichkeit, sich dieser Bezeichnung zu bedienen, die Schule als die Mutter aller
Bildung ansehen wollte. In Wahrheit ist die Schule nichts als das Hilfsmittel,
dessen das lebende Geschlecht sich bedient, um die ihm überlieferten und von ihm
noch hinzuerworbencn Bildungsschätze wieder dem folgenden Geschlechte zu über¬
liefern, und was die Schule an eignen, ihr als solcher angehörigen Bildnngsfaktoren
mit hierzu beitrüge, ist gewiß nicht zu verachten, aber an Quantität und Qua¬
lität doch uur untergeordneter, nebensächlicher Natur.

Wer bestreitet denn die ungeheure Bedeutung der Schule für Stand und Art
unsrer Bildung? wer stellt in Abrede, daß wir ein. andres Mittel, um diesen un-


Notiz.

welche jede logische Operation auf diesen: Gebiete leicht hincingcrät. Andrerseits
giebt es den Mut, auch auf andern Punkten dein Zweifel Raum zu geben, ob die
bisherige Annahme: hier sei die Ursache und dort die Wirkung zu suchen, überall eine
gerechtfertigte sei, und zu fragen, ob es sich nicht vielleicht gerade umgekehrt ver¬
halte. Dies scheint uus nun hinsichtlich des bisher für unfehlbar gehaltenen Satzes,
wir hätten „unsre Bildung unsrer Schule zu verdanken," noch in viel höherem
Grade zuzutreffen als bei dem obenangeführten Beispiel; denn während der Satz
Nauders immer nnr unter bestimmten Voraussetzungen und in einem bestimmten
Sinne festgehalten werden kann, scheint uns die Umkehrung jenes Satzes von der
Schule eine logisch notwendige und die bloße Zerstörung einer in sich haltlosen,
vorgefaßten Meinung zu sein. Formnliren wir also unsern Satz so: Wir sind
uicht gebildet, weil wir die Schule haben, sondern wir haben die Schule, weil wir
gebildet und dabei mit einem bestimmten Maße sittlicher und materieller Kräfte
ausgerüstet sind.

Das wird natürlich in den Augen vieler Leute eine furchtbare Ketzerei sein,
und ganz besonders in den Augen der Schulmeister, denen man seit zwanzig Jahren
so schöne Lobeshymnen über „den wirklichen Sieger bei Königgrätz" und dergleichen
gesungen hat. Wie, sie sollen sich ans einmal zu der Stellung eines bloßen
Werkzeuges Herabdrücken lassen, während sie sich bisher stolz als die Väter und
Urheber der Bildung betrachtet haben? Das schmeckt den Herren, die ja nie¬
mals wegen sonderlicher Neigung zur Bescheidenheit berühmt gewesen sind, natür¬
lich sehr schlecht, und Nur nehmen es ihnen auch garnicht übel, wenn der „Schnl-
meistergickel" in ihnen sich gegen die Behauptung, sie seien nur als Werkzeuge und
keineswegs als selbständige Träger bei der Uebertragung unsers Bildungskapitals auf
das kommende Geschlecht thätig, mächtig auflehnt. Aber es wird doch nicht daran
vorbeizukommen sein, daß es sich wirklich so verhält. Was unser Geschlecht an
Bildungselementen besitzt, das verdankt es doch einer überaus mannichfaltigen und
vielseitigen rezeptiven Thätigkeit, von der unter allen Umstä"den die Schule nur
einen Teil repräsentirt; und was die Schule uns darbietet, das ist doch wieder
nur zum allerkleinsten Teile aus einer selbständigen geistigen Thätigkeit der Lehrer
hervorgegangen, es verdankt vielmehr sein Entstehen der unendlichen Hauptsache nach
wieder der eignen Bilduugsarbeit früherer Geschlechter. Alle wissenschaftliche
Thätigkeit, alle Arbeit des Forschers und Denkers, alles Abwägen, Beobachten und
Vergleichen dem die unzähligen Einzelnen sich hingeben, alle technischen und wirt¬
schaftlichen Verbesserungen, die der eine und der ihm folgende andre sich aneignet,
aller Fortschritt in Sitte und Gewöhnung, wie er sich von einem Kreise der Men¬
schen zum andern unaufhörlich vollzieht — das find die wahren Faktoren einer
stetig anwachsenden Bildung. Will man bildlich diese ganze Summe befruchtender
Kulturarbeit „Schule" nennen, so haben wir unsrerseits nichts dagegen einzuwenden,
aber es würde doch sehr gezwungen aussehen, wenn man unter Berufung ans die
Möglichkeit, sich dieser Bezeichnung zu bedienen, die Schule als die Mutter aller
Bildung ansehen wollte. In Wahrheit ist die Schule nichts als das Hilfsmittel,
dessen das lebende Geschlecht sich bedient, um die ihm überlieferten und von ihm
noch hinzuerworbencn Bildungsschätze wieder dem folgenden Geschlechte zu über¬
liefern, und was die Schule an eignen, ihr als solcher angehörigen Bildnngsfaktoren
mit hierzu beitrüge, ist gewiß nicht zu verachten, aber an Quantität und Qua¬
lität doch uur untergeordneter, nebensächlicher Natur.

Wer bestreitet denn die ungeheure Bedeutung der Schule für Stand und Art
unsrer Bildung? wer stellt in Abrede, daß wir ein. andres Mittel, um diesen un-


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[0292] Notiz. welche jede logische Operation auf diesen: Gebiete leicht hincingcrät. Andrerseits giebt es den Mut, auch auf andern Punkten dein Zweifel Raum zu geben, ob die bisherige Annahme: hier sei die Ursache und dort die Wirkung zu suchen, überall eine gerechtfertigte sei, und zu fragen, ob es sich nicht vielleicht gerade umgekehrt ver¬ halte. Dies scheint uus nun hinsichtlich des bisher für unfehlbar gehaltenen Satzes, wir hätten „unsre Bildung unsrer Schule zu verdanken," noch in viel höherem Grade zuzutreffen als bei dem obenangeführten Beispiel; denn während der Satz Nauders immer nnr unter bestimmten Voraussetzungen und in einem bestimmten Sinne festgehalten werden kann, scheint uns die Umkehrung jenes Satzes von der Schule eine logisch notwendige und die bloße Zerstörung einer in sich haltlosen, vorgefaßten Meinung zu sein. Formnliren wir also unsern Satz so: Wir sind uicht gebildet, weil wir die Schule haben, sondern wir haben die Schule, weil wir gebildet und dabei mit einem bestimmten Maße sittlicher und materieller Kräfte ausgerüstet sind. Das wird natürlich in den Augen vieler Leute eine furchtbare Ketzerei sein, und ganz besonders in den Augen der Schulmeister, denen man seit zwanzig Jahren so schöne Lobeshymnen über „den wirklichen Sieger bei Königgrätz" und dergleichen gesungen hat. Wie, sie sollen sich ans einmal zu der Stellung eines bloßen Werkzeuges Herabdrücken lassen, während sie sich bisher stolz als die Väter und Urheber der Bildung betrachtet haben? Das schmeckt den Herren, die ja nie¬ mals wegen sonderlicher Neigung zur Bescheidenheit berühmt gewesen sind, natür¬ lich sehr schlecht, und Nur nehmen es ihnen auch garnicht übel, wenn der „Schnl- meistergickel" in ihnen sich gegen die Behauptung, sie seien nur als Werkzeuge und keineswegs als selbständige Träger bei der Uebertragung unsers Bildungskapitals auf das kommende Geschlecht thätig, mächtig auflehnt. Aber es wird doch nicht daran vorbeizukommen sein, daß es sich wirklich so verhält. Was unser Geschlecht an Bildungselementen besitzt, das verdankt es doch einer überaus mannichfaltigen und vielseitigen rezeptiven Thätigkeit, von der unter allen Umstä"den die Schule nur einen Teil repräsentirt; und was die Schule uns darbietet, das ist doch wieder nur zum allerkleinsten Teile aus einer selbständigen geistigen Thätigkeit der Lehrer hervorgegangen, es verdankt vielmehr sein Entstehen der unendlichen Hauptsache nach wieder der eignen Bilduugsarbeit früherer Geschlechter. Alle wissenschaftliche Thätigkeit, alle Arbeit des Forschers und Denkers, alles Abwägen, Beobachten und Vergleichen dem die unzähligen Einzelnen sich hingeben, alle technischen und wirt¬ schaftlichen Verbesserungen, die der eine und der ihm folgende andre sich aneignet, aller Fortschritt in Sitte und Gewöhnung, wie er sich von einem Kreise der Men¬ schen zum andern unaufhörlich vollzieht — das find die wahren Faktoren einer stetig anwachsenden Bildung. Will man bildlich diese ganze Summe befruchtender Kulturarbeit „Schule" nennen, so haben wir unsrerseits nichts dagegen einzuwenden, aber es würde doch sehr gezwungen aussehen, wenn man unter Berufung ans die Möglichkeit, sich dieser Bezeichnung zu bedienen, die Schule als die Mutter aller Bildung ansehen wollte. In Wahrheit ist die Schule nichts als das Hilfsmittel, dessen das lebende Geschlecht sich bedient, um die ihm überlieferten und von ihm noch hinzuerworbencn Bildungsschätze wieder dem folgenden Geschlechte zu über¬ liefern, und was die Schule an eignen, ihr als solcher angehörigen Bildnngsfaktoren mit hierzu beitrüge, ist gewiß nicht zu verachten, aber an Quantität und Qua¬ lität doch uur untergeordneter, nebensächlicher Natur. Wer bestreitet denn die ungeheure Bedeutung der Schule für Stand und Art unsrer Bildung? wer stellt in Abrede, daß wir ein. andres Mittel, um diesen un-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Drittes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341841_196099/292>, abgerufen am 23.11.2024.