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Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Drittes Quartal.

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Reisobriefe aus Italien von" Jahre 5(332.

der Anatomie, der oder die so schön war, daß sie sich, um die Studenten nicht
zu zerstreuen, beim Vortrage verschleierte.

Aermere Leute werden direkt in die Erde begraben, jedoch auf eine anständige
Weise, und man läßt ihnen zehn Jahre Ruhe. Auf diesen Totenfcldern sind die
alten etrurischen Begräbnisstätten gefunden.

In die Stadt zurückgekehrt, besuchten wir noch die Kirche San Stefano.
Der Gedanke an die Leidensstätte des Protomartyrs führte zur Nachbildung der
Grabeskirche in Jerusalem, und so gliederten sich weitere dunkle Heiligtümer an>
die durch Vorhöfe, Kreuzgänge, Korridore untereinander verbunden find. Man
zählt in diesem Komplex sieben Kirchen und Kapellen, meist niedrig, zum Teil halb
in der Erde. Andächtige, welche ein mystisches Wirrsal und Dunkel lieben, finden
hier ihre Befriedigung, zumal manche direkte Reminiscenz an Jerusalemer Heilig¬
tümer angebracht ist: das Marmorbecken, in dem sich Pilatus gewaschen, die Nach¬
bildung des Richthauses, der Geißelungssäule u. s. w. Die ganze Anlage geht in
romanische Zeiten zurück.

Säulengänge und Bogenhallen giebts hier nur vereinzelt; dafür tritt ein
andres Charakteristik"": hervor: der Backsteinbau mit den feinsten in Terrcicvtta
geprägten Friesen und Gesimsen.

Sehr eigentümlich ist der Dom. Die Hülse ist gothisch-romanisch aus einem Mar¬
mor ausgeführt, der vor Alter schwarz geworden. Die Säulen der Vorhalle ruhen
auf mächtigen Löwen und greifeuartigen Tieren (lombardische Art); die Fassade ist
in drei Giebelfelder geteilt, Arkaden in drei Etagen, durch dünne, zierliche Säulen
gestützt. Eine Loggia über dem Eingange. Das Innere gehört der Renaissance an.

Gegenwärtig ist man dabei, dasselbe malerisch auszuschmücken und mit reicher
Vergoldung zu versehen. Alle Pilaster, Bogengurte u. s. w. werden grau in grau
gemalt, doch so, daß man Reliefs zu sehen glaubt, worauf man sich nicht wenig zu
gute thut. Diese Neigung, die Malerei bis zur Illusion zu treiben, spricht schon
ein wenig aus den alten Werken der ferraresischen Schule.

Die Kirchenkustvden haben hier und überhaupt in Italien einen Diensteifer,
daß sie am liebsten den Fremden nötigten, sich dicht neben den zelebrirenden Priester
zu stellen, um den Altar genau zu besehen. Man glaubt, indem man ihnen folgt,
das Publikum der Beter zu verletzen; aber es ist nicht der Fall, jeder freut sich,
wenn das Heiligtum den Fremden gefällt, und denkt Wohl auch dabei im Stillen:
der bringt Geld in unsre Stadt.

Nach dem Dome besuchten wir den Palazzo Schifonaja, jetzt Elementarschule,
wegen einiger in den vierziger Jahren aufgedeckten Fresken aus dem Jahre 1456
von Tura, genannt Cosnü. Es sind die Monate dargestellt, teils durch den herr¬
schenden Gott und das Sternbild, teils dnrch Wandgemälde, in denen entsprechende
Szenen aus dem Leben des Bosco d'Este gezeigt werden: reizende Pendants zu
den Pisaner Fresken, nur leider jämmerlich zerstört. Der Geist einer frühen Re¬
naissance weht durch diese Bilder.'

Dann besichtigten wir eine Stätte traurigster Erinnerung: das Hospital Sand
Anna (noch jetzt Hospital), in welchem Tasso sieben Jahre lang als Wahnsinniger
eingesperrt gehalten wurde. Seine Zelle war ein kellerartiges Gewölbe, weißge¬
tünchter, vergitterter Namen von zwölf Schritt Länge und halber Breite. Das
einzige Fensterchen ist jetzt zugesetzt. Wie weit immer der reizbare Dichter sich
gegen Alfons vergnüge" haben mochte, es bleibt für deu letztern eine untilgbare


Reisobriefe aus Italien von» Jahre 5(332.

der Anatomie, der oder die so schön war, daß sie sich, um die Studenten nicht
zu zerstreuen, beim Vortrage verschleierte.

Aermere Leute werden direkt in die Erde begraben, jedoch auf eine anständige
Weise, und man läßt ihnen zehn Jahre Ruhe. Auf diesen Totenfcldern sind die
alten etrurischen Begräbnisstätten gefunden.

In die Stadt zurückgekehrt, besuchten wir noch die Kirche San Stefano.
Der Gedanke an die Leidensstätte des Protomartyrs führte zur Nachbildung der
Grabeskirche in Jerusalem, und so gliederten sich weitere dunkle Heiligtümer an>
die durch Vorhöfe, Kreuzgänge, Korridore untereinander verbunden find. Man
zählt in diesem Komplex sieben Kirchen und Kapellen, meist niedrig, zum Teil halb
in der Erde. Andächtige, welche ein mystisches Wirrsal und Dunkel lieben, finden
hier ihre Befriedigung, zumal manche direkte Reminiscenz an Jerusalemer Heilig¬
tümer angebracht ist: das Marmorbecken, in dem sich Pilatus gewaschen, die Nach¬
bildung des Richthauses, der Geißelungssäule u. s. w. Die ganze Anlage geht in
romanische Zeiten zurück.

Säulengänge und Bogenhallen giebts hier nur vereinzelt; dafür tritt ein
andres Charakteristik»»: hervor: der Backsteinbau mit den feinsten in Terrcicvtta
geprägten Friesen und Gesimsen.

Sehr eigentümlich ist der Dom. Die Hülse ist gothisch-romanisch aus einem Mar¬
mor ausgeführt, der vor Alter schwarz geworden. Die Säulen der Vorhalle ruhen
auf mächtigen Löwen und greifeuartigen Tieren (lombardische Art); die Fassade ist
in drei Giebelfelder geteilt, Arkaden in drei Etagen, durch dünne, zierliche Säulen
gestützt. Eine Loggia über dem Eingange. Das Innere gehört der Renaissance an.

Gegenwärtig ist man dabei, dasselbe malerisch auszuschmücken und mit reicher
Vergoldung zu versehen. Alle Pilaster, Bogengurte u. s. w. werden grau in grau
gemalt, doch so, daß man Reliefs zu sehen glaubt, worauf man sich nicht wenig zu
gute thut. Diese Neigung, die Malerei bis zur Illusion zu treiben, spricht schon
ein wenig aus den alten Werken der ferraresischen Schule.

Die Kirchenkustvden haben hier und überhaupt in Italien einen Diensteifer,
daß sie am liebsten den Fremden nötigten, sich dicht neben den zelebrirenden Priester
zu stellen, um den Altar genau zu besehen. Man glaubt, indem man ihnen folgt,
das Publikum der Beter zu verletzen; aber es ist nicht der Fall, jeder freut sich,
wenn das Heiligtum den Fremden gefällt, und denkt Wohl auch dabei im Stillen:
der bringt Geld in unsre Stadt.

Nach dem Dome besuchten wir den Palazzo Schifonaja, jetzt Elementarschule,
wegen einiger in den vierziger Jahren aufgedeckten Fresken aus dem Jahre 1456
von Tura, genannt Cosnü. Es sind die Monate dargestellt, teils durch den herr¬
schenden Gott und das Sternbild, teils dnrch Wandgemälde, in denen entsprechende
Szenen aus dem Leben des Bosco d'Este gezeigt werden: reizende Pendants zu
den Pisaner Fresken, nur leider jämmerlich zerstört. Der Geist einer frühen Re¬
naissance weht durch diese Bilder.'

Dann besichtigten wir eine Stätte traurigster Erinnerung: das Hospital Sand
Anna (noch jetzt Hospital), in welchem Tasso sieben Jahre lang als Wahnsinniger
eingesperrt gehalten wurde. Seine Zelle war ein kellerartiges Gewölbe, weißge¬
tünchter, vergitterter Namen von zwölf Schritt Länge und halber Breite. Das
einzige Fensterchen ist jetzt zugesetzt. Wie weit immer der reizbare Dichter sich
gegen Alfons vergnüge» haben mochte, es bleibt für deu letztern eine untilgbare


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Drittes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341841_196099/280>, abgerufen am 25.11.2024.